Hass allein genügt nicht mehr

petryEin Beitrag zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, zum Wahlerfolg der «Alternative für Deutschland», zum Nationalismus und zum Klassenkampf.

Da wäre zunächst der Teil, den wir schon mal hatten: eine AfD wird aus dem Stand in einem nationalistischen Taumel bei Wahlen zweistellig (Wahlsieg der «Allianz für Deutschland» 1990); unterdessen zusammengepferchte und drangsalierte Bürgerkriegsflüchtlinge, Roma und andere MigrantInnen – und der staatlich geduldete bis geförderte rassistische und faschistische Terror gegen sie, der mit Asylrechtsverschärfung «belohnt» wird; dazu noch eine zu erheblichen Teilen aus faschismusaffinen Strukturen rekrutierte Grenzpolizei. Anders betrachtet: Es handelt sich um eine durch mehr oder weniger absichtliche Fehlplanung staatlich hergestellte «Flüchtlingskrise»; leidende und fliehende Menschen werden medial als «Flut» dargestellt, gegen die nur eine nationalistische Wendung zu helfen scheint.

Während grössere Teile der Regierungen und Parlamente bundesweit noch damit beschäftigt waren, ihr Bedauern über die Realität der nun geltenden Gesetzesverschärfungen zu äussern, die sie gerade erst beschlossen und auf die sie sich vorher jahrelang hingearbeitet hatten, schickten sie den Sozi vor, der schon mal die nächsten anstehenden Massnahmen dementierte – Maas: «Haftzonen an den Grenzen wird es nicht geben.»

Und während grössere Teile der Gesellschaft sich davon erschüttert zeigten, dass die Gesellschaft so aussieht, wie sie sie eingerichtet haben, fanden sie doch immer noch die anderen Parteien, die anderen Regierungen, die anderen Bevölkerungsgruppen, die anderen Staaten, aus denen das Beklagte herrührt; und sie fanden einen KZ-Sager, dem sie unterschieben konnten, was sie Nazis am liebsten sagen hören wollen, damit alles klar bleibt.

Die Mitte und die Linke

Für «Die Zeit» schrieb jüngst noch Journalist Malte Henk: «Sie haben sich nicht mitverändert. Man konnte leicht vergessen, dass es sie noch gibt. Sie schienen weg, erledigt.» Doch diese Leute waren die ganze Zeit da, haben ganze Gegenden terrorisiert, Anschläge verübt und sich im Sicherheitsapparat festgesetzt. Das Problem ist, wie leicht es zu vielen fiel, das zu ignorieren.

Direkt vor der Wahl zeigte sich das konservative Lager einerseits etwa in Gestalt von CDU-Ministerpräsident Haseloff mit Seehofer im Wahlkampf und «bewarb» andererseits medial etwa in Gestalt der Hallenser Ausgabe der Bild-Zeitung noch am Vortag der Wahl das neue AfD-Programm mit den drei ausgewählten Punkten Minarett-, Beschneidungs- und Schächtungsverbot.

Die parlamentarische Linke setzte dagegen fast nur noch auf Sozialstaat und kaum noch auf soziale Kämpfe und versuchte, gegen Nazis und AfD mit der absurden Parole «Brandstifter abschieben» (Haupt-Wahlplakat der Linkspartei zum Thema) zu punkten. Immer wieder wurde unterstellt, dass WählerInnen nur auf die AfD hereinfallen; die AfD wurde mehr blamiert als kritisiert. Die Linke stärkte somit den Eindruck, dass Nationalismus und Rassismus zuerst ein Image-Problem sind; dass lieber die gewählt werden sollen, die die Nation und ihre Arbeitskraftauswahl weniger hässlich aussehen lassen.

Und neben alldem eine zu selbstgefällige linke Szene, die nicht nur hier in den letzten Jahren zu sehr mit sich selbst beschäftigt war und – im Grunde unfassbarerweise – versäumte, in die teilweise umfangreichen Arbeitskämpfe der letzten beiden Jahre einzusteigen (Sachsen-Anhalt war eins der Zentren sowohl des GDL-Streiks als auch des von diesem mit angeschobenen GEW-Streiks) oder weitere soziale Kämpfe hier und anderswo anzuzetteln und zu unterstützen.

Die besonders Deutschen

Die autoritäre Verschärfung wird den Leuten stets angeboten, Klassenkampf und Kommunismus nicht, auch wenn das die Welt anders sehen mag, die die klassisch-faschistische proto-sozialistische Rhetorik von Le Pen bis AfD nicht von selbsterkämpftem Sozialismus unterscheiden kann und will – wie viele Linke ja auch nicht mehr.

Am Wahlabend schauten viele AfDlerInnen gar nicht die Fernsehberichterstattung, sondern lieber ins Internet – die AfD Sachsen-Anhalt hat bei Facebook so viele Likes wie alle anderen Parteien zusammen – und dort besonders in die Youtube-Channels der Zeitschrift «Compact», in deren Wahlstudio der AfD-Spitzenkandidat André Poggenburg, der Sezession-Herausgeber Götz Kubitschek und Gastgeber Jürgen Elsässer zufrieden Bilanz zogen und grosse Pläne schmiedeten. Elsässer sieht jetzt den historischen Moment für die nationale Revolution gekommen, fordert ständige Demos in Berlin «wie damals ’89». Zuletzt beschwor er bei öffentlichen Auftritten die revolutionäre Tradition der Orte, in denen er sprach, vom Bauernkrieg über die Novemberrevolution bis zum «Arbeiterwiderstand gegen die Nazis und gegen die SED». Sein Refrain: «Lasst euch das nicht gefallen, wehrt euch, denn ihr seid Deutschland!»

Die Schlüsse

Von kritischen Linken wird darauf mit «Vorsicht, Volk!» geantwortet, statt vom Unterschied von Volk als Klasse und Volk als Nation zu reden. Es scheint, als seien sie der Rede von der Volksgemeinschaft auf den Leim gegangen, und tun nun so, als ginge es nicht um die Klasse, auch wenn Pegida fast allein überhaupt von der «Arbeiterklasse» spricht; auch wenn doch die allgemeine Empörung gegen AfD und Pegida erst richtig ausbrach, als sich «Bürgerliche» teilweise daraus zurückzuziehen begannen; und auch wenn der Bundespräsident in Bautzen die Haltung eines «‹Wir hier unten› und ‹Ihr da oben›» als ein «altdeutsches Gefühl» beklagt, «das in diesem Teil Deutschlands noch vorherrsche, diese ostdeutsche Prägung…»

Es kann nun nicht darum gehen, ob reaktionäre Themen den offen nationalistischen und faschistischen Kräften überlassen werden – das müssen ihre Themen bleiben. Es geht darum, ihnen nicht das ganze eigene Spielfeld zu überlassen. Elsässer beschwört die «nationale Volksrevolution» – er will eben nicht die arbeitende Klasse aufwiegeln, sondern sie, ganz in faschistischer Tradition, für die Nation gewinnen und erhalten.

Kommunistisch gebildete Menschen könnten wissen, was Nationalismus ist; sie könnten erklären, wo die Ideologie herkommt: dass Nationalismus das ist, was kapitalistische Gesellschaften gegen Klassenkampf, Arbeiterrevolution und Kommunismus zusammenhält; das vom Klassenkonflikt auf die faulen, kriminellen, betrügenden und blutsaugenden Parasiten ablenkt; und das zu etwa ähnlich grossen Teilen aus Manipulation, der Realität der Konkurrenz und dem Fetischdenken entsteht. Der Staat versucht weiterhin, die entschlossene Migrationsbewegung zu kontrollieren, um eine Auswahl an Arbeitskräften vornehmen zu können, und spaltet die Klasse weiter, indem er die verschiedenen Lohnniveaus gegeneinander ausspielt. Dagegen half immer nur der Zusammenschluss der Klasse: Nur wo für alle gekämpft wird, kann die Binnenkonkurrenz der Klasse teilweise aufgehoben werden. Das ist mühselig, der Weg dahin lang und der Erfolg höchst ungewiss, doch nur das könnte die Klasse gegen die Nation stellen und dem Nationalismus den Boden entziehen.

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Waadt: In vorauseilendem Gehorsam

geldAm 20. März haben die WaadtländerInnen «eine der wichtigsten finanzpolitischen Reformen der letzten 50 Jahre», die kantonale Unternehmenssteuerreform, mit grosser Mehrheit angenommen. Die radikale Linke und die Gewerkschaften, die das Referendum dagegen lanciert haben, prophezeien eine Katastrophe für die öffentlichen Finanzen und den Arbeitsmarkt.

Es war ein ungleicher Kampf. Von rechts mit der SVP bis links mit den Grünen und der SP haben fast alle Parteien die Reform unterstützt. In vorauseilendem Gehorsam zur USRIII auf Bundesebene hatten der Staatsrat und die Mehrheit im Grossen Rat in Waadt beschlossen, die Unternehmensgewinnsteuer auf 13,8 Prozent zu senken (gegenwärtig sind es 21,65 Prozent). Dieser Steuersatz würde für alle Unternehmen gelten. Das Ziel dabei war, die speziellen Steuern, die für Unternehmen mit besonderem Status gelten und mit den internationalen Regelungen unvereinbar sind, abzuschaffen. Indem die Steuern für diese Unternehmen erhöht werden, nimmt der Kanton zusätzlich zu den gegenwärtig 311 Millionen Steuereinnahmen 50 Millionen Franken ein. Er würde jedoch mit der Steuersenkung für juristische Personen 500 Millionen Franken pro Jahr verlieren. Für den Kanton, der sich vom Bund eine Rückerstattung von 107 Millionen erhofft, sei die Reform unvermeidbar gewesen, um «attraktiv und konkurrenzfähig zu bleiben», heisst es. Die radikale Linke, das heisst die Partei der Arbeit, solidaritéS, die Juso und Gauche anticapitaliste, sowie die Gewerkschaften VPOD und SUD, setzte Gegensteuer an und musste eine Niederlage einstecken: 87 Prozent der WaadtländerInnen sprachen sich für die USRIII aus.

Profitieren die KMUs?

«Die waadtländische Reform, die nicht vor 2019 in Kraft treten wird, ist verfrüht, weil auf nationaler Ebene die Reform noch zur Diskussion steht. Der Bundesrat hat vor, gewissen Unternehmen Steuerbefreiungen einzuräumen, mit ‹Patentboxen› oder für Forschungs- und Entwicklungsarbeit. Das wird zu stärkeren Einbussen führen als erwartet», erklärt Julien Eggenberger, Präsident des VPOD Waadt. «Aufgrund der nationalen Reform wird der waadtländische Staatsrat früher oder später gezwungen sein, wieder über die Bücher zu gehen und seine Reform zu ändern.» Ein erster Punkt der Meinungsverschiedenheit: Die Begünstigten dieser Reform. Das Kantonsparlament behauptet, von den Änderungen würden 28 000 KMUs profitieren. «Insgesamt profitieren von diesem Steuergeschenk nicht die KMUs, von denen weniger als 30 Prozent von der Gewinnsteuer betroffen sind, sondern die Grossunternehmen und Multis wie Nestlé, McDonald’s oder Bobst, die in immenser Mehrheit von der Gewinnsteuer betroffen sind», heisst es hingegen seitens Referendumskomitee. Kann diese Reform die Abwanderung von Unternehmen mit speziellem Steuerstatus verhindern und werden die 25 000 betroffenen Arbeitsstellen erhalten bleiben, wie der Staatsrat behauptet? David Gygax, Sekretär des VPOD Waadt, hat Zweifel. «Die AktionärInnen der Unternehmen, die die Gewinnsteuer zahlen, brauchen keine Hilfe. Die Arbeitenden hingegen, die mehr oder weniger von den öffentlichen Ausgaben abhängig sind, etwa Baugewerbe, Handwerk, Dienstleistungen und öffentlicher Sektor, werden von den tieferen Investitionen bedroht. Bei einem Ja sind tausende Arbeitsplätze in diesen Sektoren gefährdet», meint der Gewerkschafter. Von den tieferen Steuern würden nur die AktionärInnen der Grossunternehmen profitieren.

Ein weiterer Stein des Anstosses: Trotz früheren Versprechen der waadtländischen Exekutive, dass der Finanzausgleich zwischen den Gemeinden verbessert würde, rechnen diese jetzt mit schweren Einbussen bei den Steuereinnahmen: 50 Millionen in Lausanne, 4 Millionen in Nyon und 2,7 Millionen in Renens. Eine Steuererhöhung für natürliche Personen und private Haushalte scheint notwendig.

Als Ausgleich für die Steuersenkungen der Unternehmen hat der Staatsrat ein Sozialpaket zusammengeschustert. Ach, das Sozialpaket, das Objekt der ganzen Aufmerksamkeit und aller Lobgesänge! Die Realität sieht so aus: Das Paket beinhaltet eine Erhöhung der finanziellen Unterstützung für Familien, die Verdoppelung der Beiträge des Staates und der Unternehmen an die Tagesbetreuung sowie die Begrenzung der Krankenkassenprämien auf 10 Prozent des Einkommens der Haushalte. Es sei ein guter Handel, wurde von SP-Staatsrat Pierre-Yves Maillard mit spürbarer Nervosität vor der Abstimmung angepriesen. «Der Zweck unseres Referendums ist nicht, soziale Massnahmen zu schaffen, die die Steuersenkungen abmildern sollen», betont hingegen Johnson Bastidas, Sozialarbeiter und PdA-Regierungsratskandidat in Renens. Er weist auf die Grenzen des Sozialpakets hin. «Mit einer Erhöhung der Unterstützung für Familien um 300 Franken nähert sich der Kanton bloss den Beiträgen an, die das Wallis oder Genf zahlen. Ferner ist die Besteuerung für Ehepaare, die 80 000 Franken im Jahr verdienen, in Genf bereits weniger hoch als im Kanton Waadt. Die Steuerbelastung steigt hier weiter», kritisiert das PdA-Mitglied. «Was die Beteiligung an den Krippenplätzen betrifft: Das ist letztlich nur eine Kompensation für das massive Bevölkerungswachstum und die Erfüllung des Volkswillens von 2009 bezüglich der Einrichtung von Tagesschulen.»

Die Reform führt zu Steuerausfällen

«Sieht man sich die Zahlen an, verhüllt diese Reform eine ideologische Debatte über die Rolle des Staates als Umverteiler des Reichtums. Die Regierung ist heutzutage die Fürsprecherin von Multis und der Unternehmen», so das Fazit von Johnson Bastidas und er erinnert daran, dass die Regierung erst kürzlich eine grosse Steuersenkung auf Kapital und Vermögen durchgesetzt hat. Für die GegnerInnen ist die Reform letztlich auch inakzeptabel, weil sie die Konkurrenz der Steuerpolitik zwischen den Kantonen verschärft, indem sich die Kantone gegenseitig weiter unterbieten. «Sie ist schädlich, sie führt zu Steuerausfällen und verkleinert den Handlungsspielraum des Staates. Mit der Steuer, die der Kanton vorschlägt, setzt man sich in die Nesseln. Wenn man diese Reform hier vor allen anderen lanciert, erhöht der Kanton Waadt den Druck, die Steuerkonkurrenz zu verstärken», schreibt Arnaud Thiéry, Redakteur der Zeitschrift «Pages de gauche» und Mitglied der SP, einer Partei, die auf nationaler Ebene eigentlich einen minimalen Steuersatz von 16 Prozent fordert.

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Krawall!

Reithalle_BernAm ersten Märzwochenende kam es bei der Berner Reitschule zur Eskalation zwischen Autonomen und der Polizei. Einmal mehr werden dafür die «Chaoten» verantwortlich gemacht. Als wäre es nicht schon längst an der Zeit, auch die Rolle der Berner «Sicherheitskräfte» kritisch zu betrachten.

Es war die Nacht vom 5. März, als die Dinge ihren Lauf nahmen: Provoziert durch die massive Polizeipräsenz am Vorabend, sperrten Autonome die Strasse neben der Reitschule mit brennenden Barrikaden. Als die Beamten in Vollmontur anrückten, eskalierte die Situation. Es hagelte Feuerwerkskörper und Gummischrot; und in der Folge eine mediale Hetzkampagne und finanzielle Abstrafung des autonome Kulturzentrums, das «Gewalttätern» stets Schutz bieten würde.

Während sich die ReitschülerInnen ob den Sanktionen relativ gelassen zeigen und ihre Gegner nach weiteren Strafen schreien, wird reihherum nach den Schuldigen gesucht. Die mal wieder wären: die «Chaoten». Die mag man auch im breiten Sympathisantenkreis des Kulturzentrums nicht so sehr, wie gerade lautstark zu vernehmen ist. Doch auch wenn man die «Aktion» und deren politische Sinnhaftigkeit durchaus kritisch betrachten kann, gilt: Wer die «Übeltäter» nur auf Seiten der Autonomen sucht, blendet das fragwürdige Treiben von Behörden und Polizei gänzlich aus.

Der «Präventiveinsatz» als offene Provokation

Alles begann wenige Tage zuvor, am 1. März, mit einer Pressekonferenz, an der Reto Nause, der städtische Sicherheitsdirektor, auf Grundlage einer Studie erzählte, dass sich die BernerInnen zwar im Allgemeinen sicherer fühlen würden als früher – nur nicht auf der Schützenmatte, dem weitläufigen Parkplatz vor der Reitschule. Für die Berner Medien ein gefundenes Fressen: Kurzerhand wurde über einen Anstieg von Gewalt, sexuellen Übergriffen und Diebstählen im Umkreis der Reitschule berichtet. Und so standen sich am Abend des 4. März dann auch bis zu dreissig PolizistInnen, im Rahmen eines «Präventiveinsatzes», in der Umgebung der «Schütz» die Beine in den Bauch. Zwei davon in Vollmontur unter der Eisenbahnbrücke, direkt vor der Reitschule, was – nicht verwunderlich – als offene Provokation empfunden und in der darauffolgenden Nacht von Autonomen entsprechend beantwortet wurde.

Vom eigenen Beitrag an dieser Eskalation wollte man seitens Polizei im Nachgang zu den Auseinandersetzungen aber natürlich nichts wissen. Stattdessen klagte Polizeichef Manuel Willi gegenüber den Medien, dass man «in einen Hinterhalt gelockt» worden sei. Dabei dürften sich die Einsatzkräfte in jener Nacht durchaus im Klaren darüber gewesen sein, dass sie sich mit dem Schwarzen Block nicht zum Kaffeekränzchen treffen werden.

Und so war es dann auch. Es gab Verletzte, und zwar auf beiden Seiten. Von elf PolizistInnen ist die Rede, während die Zahl der BesucherInnen des Kulturzentrums, die aufgrund des Vorgehens der Beamten Blessuren davongetragen haben, unbekannt ist. Fakt ist zumindest: Die PolizistInnen haben sich nicht davor gescheut, auch Unbescholtene ins Visier zu nehmen. Wie Augenzeugen berichten, wurde etwa ein junger, offensichtlich unbeteiligter Mann, der sein Fahrrad über den Vorplatz der Reitschule schob, unumwunden mit Gummischrot traktiert.

Die Rambos vom Dienst

Und wenn es nach gewissen Einsatzkräften gegangen wäre, hätten noch weitere Menschen zu Schaden kommen sollen. Wie einer der Polizisten anonym gegenüber der SonntagsZeitung vom 13. März äusserte, wäre es ihm lieb gewesen, wenn die Reitschule an diesem Abend «zur Beweissicherung» gestürmt worden wäre. Dass sich zu diesem Zeitpunkt mehrere hundert Menschen im Gebäude aufhielten und ein derartiger Zugriff der Polizei verheerende Folgen gehabt hätte, scheint zumindest aus Sicht dieses Mannes kein Problem gewesen zu sein.

Und doch sind selbstverständlich nicht die Beamten gemeint, wenn es heisst, dass mittlerweile in Kauf genommen würde, dass Menschen «schwer verletzt oder gar getötet werden». Im Gegenteil. Die Retorten-Rambos werden zum Opfer stilisiert. Ein Bild, das vor allem die lokalen Boulevardmedien nur zu gerne weiterverbreiten, mitunter mit der Forderung, gegen die «Chaoten», «den Abschaum« und den «Pöbel», wie etwa die Berner Zeitung die Autonomen liebevoll betitelt, «endlich härter durchzugreifen».

So lässt sich wunderbar den Blick darauf verstellen, dass die «Freunde und Helfer» bereits jetzt nicht zimperlich sind, im Umgang mit vermeidlich linken AktivistInnen und Menschen im Umfeld der Reitschule. Wenn man denn möchte, würde man genügend Beispiele finden:

Die Verhaftungen nach dem Farbanschlag auf das Amtshaus im vergangenen Jahr, in deren Folge drei Jugendliche in Untersuchungshaft landeten, weil sie rund eine Woche nach dem Angriff mit einem Transparent angehalten worden waren, das mit demselben – wenn auch in jedem Detailhandel erhältlichen – Rot bemalt gewesen sein soll, wie es beim Angriff gegen das Gebäude verwendet worden war; im gleichen Zusammenhang: die Stürmung von mehreren besetzten Häusern mit vorgehaltenen Maschinenpistolen, obwohl sich die gesuchte Person bereits zuvor – erfolglos – telefonisch bei der Polizei gemeldet hatte; die Stürmung der Küche des Reitschulrestaurants «Sous le pont», angeblich auf der Suche nach Drogen, im Juni 2014; zweimal gezückte Dienstwaffen, mit denen auf der Schützenmatte auf Jugendliche gezielt wurde, ebenfalls im Sommer 2014; und wieder auf der Schützenmatte, im vergangenen Dezember, als die Jagd mit Gummischrotgewehr auf einen vermeidlichen Dealer damit endete, dass er auf der Flucht über einen Abhang schwere Verletzungen davontrug.

Doch gemeinhin scheint zu gelten: Gewalt trägt keine Uniform. Lieber wird das Bild der «Chaoten» als «Terroristen» und den PolizistInnen als Opfer genährt. Aber was tut man nicht alles, für ein bisschen Krawall.

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Für eine bessere Zahnpflege

zahnarztDie Partei der Arbeit Genf lanciert eine kantonale Initiative «Für die Rückerstattung der Zahnpflegekosten». Dabei soll die Zahnpflege obligatorisch versichert werden, allerdings nicht in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, sondern mit einer Versicherung, die sich an der Finanzierung der AHV orientiert.

Im Kampf für die Interessen der ArbeiterInnenklasse und für soziale Gerechtigkeit wird die Partei der Arbeit Genf (PdAG) eine kantonale Volksinitiative mit dem Titel «Für die Rückerstattung der Zahnpflegekosten» lancieren. Die Initiative orientiert sich dabei am Vorbild der PdA-Sektionen im Kanton Waadt sowie Neuenburg, die jeweils ähnliche Initiativen gestartet haben. Die Lancierung der Initiative wurde am kantonalen Parteikongress im Dezember 2014 beschlossen und ist aus unserer Sicht längst überfällig. Der Initiativtext wurde bereits ausgearbeitet und wird in Kürze im Genfer Amtsblatt erscheinen. Wir lancieren diese Initiative mit zwei Zielen für den Gesundheitsbereich und für einen gerechten Zugang zu qualitativ hochwertiger Pflege. Einerseits geht es darum, die Kosten der Zahnpflege im Budget der ArbeiterInnen stark zu reduzieren. Andererseits soll damit gegen den Ausschluss der prekarisierten Teilen der Bevölkerung aus der erforderlichen Zahnpflege gekämpft werden. Laut dem waadtländischen Regierungsrat Pierre-Yves Maillard (SP) ist die Situation alarmierend: «Die soziale Ungleichheit hat folgenschwere Auswirkungen, die Zahngesundheit der schlechter gestellten Bevölkerung im Kanton entspricht derjenigen der EinwohnerInnen von Entwicklungsländern.» Gleiches gilt für den Kanton Genf. Schlimmer noch: Bis 1994 gab es konstante Verbesserungen, seither hat sich die Zahngesundheit von Kindern wieder stark verschlechtert. Gewisse ungesunde Essgewohnheiten, die von der Süssgetränkeindustrie gefördert werden, spielen eine Rolle, aber die Hauptursache liegt in der schlechteren Lage der Ärmsten der arbeitenden Bevölkerung.

Gesellschaftliche Diskriminierung

Wir sind von einer Feststellung ausgegangen: Die Zahnpflege steht bis heute nicht im Katalog der obligatorischen Krankenpflegeversicherung und 89 Prozent der Kosten müssen im Selbstbehalt gedeckt werden. Diese Kosten können belastend sein und sind Ursache für eine schreiende Ungleichheit in Bezug auf Zahnkrankheiten und deren Behandlung. In der Tat sind viele Menschen gezwungen, aus finanziellen Gründen bei der Zahnpflege zu sparen. Die Folgen sind katastrophal: Bei Kindern bis fünf Jahren aus ökonomisch schlecht gestellten Familien haben 40 Prozent kariöse Zähne, während es bei Kindern aus der Mittelklasse oder besser gestellten Familien lediglich 16 Prozent sind. Bei Erwachsenen ist der Verlust von Zähnen ebenfalls durch den sozioökonomischen Status beeinflusst: Bei besser gestellten Gruppen sind 14 Prozent der Personen vollständig zahnlos, während es bei schlecht gestellten Gruppen 32 Prozent sind. Ferner tragen herausnehmbare Zahnprothesen, die von 48 Prozent der zahnlosen Menschen mit tiefem Einkommen und 11,5 Prozent mit hohem Einkommen benutzt werden, zur Mangelernährung von älteren Menschen bei.

Eine Studie, die 2009 in der Revue médicale suisse (RMS) erschienen ist, beweist eine gesellschaftliche Diskriminierung bei Krankheiten, die durch den schlechten Zugang zu Pflege und Prävention verursacht werden. Es besteht eine Verbindung zwischen dem sozialen Status sowie der Bildung der Menschen und dem Risiko für parodontale Erkrankungen (d. h. im Gewebe, das die Zähne umgibt). Je tiefer die soziale Position der betroffenen Person, desto gravierender war die Krankheit. Laut Studie zeigten Personen mit tiefem Bildungsstand und Einkommen eine höhere Anfälligkeit für parodontale Erkrankungen als solche mit hohem Bildungsstand und Einkommen.

Offensichtlich hängt die Zahnpflege von den finanziellen Kapazitäten der Betroffenen ab und stellt eine immense Hürde für den gerechten Zugang dar. Eine Studie aus Schweden zeigt, dass ältere Menschen zwischen 50 und 75 Jahren, für die die Pflegekosten eine Bürde darstellen, sechsmal weniger oft zur ZahnärztIn gehen als andere.

Das Modell AHV

Um dieser Ungerechtigkeit entgegenzutreten schlägt die Partei der Arbeit Genf vor, eine obligatorische Versicherung zur Rückerstattung der Zahnpflegekosten sowie Massnahmen zur Verhinderung von Zahnkrankheiten einzuführen. Finanziert werden soll dies nach dem Modell der AHV für diejenigen, die sich daran beteiligen (circa 0,5 Prozent als Lohnbeiträge, bei einem gleich hohen Beitrag der ArbeitgeberInnen), und für diejenigen, die nichts beitragen können, durch eine entsprechende kantonale Gesundheitspolitik. Neben der Tatsache, dass zahlreiche weitere Studien den Nutzen einer solchen Versicherung für die Gesundheit der Bevölkerung beweisen, handelt es sich auch um einen Kampf für die soziale Gerechtigkeit, das heisst um einen Klassenkampf. Heutzutage sind alle sozialen Errungenschaften, für die wir während Jahrzehnten gekämpft haben, von Abbau und Kürzungen betroffen, die in der Regel der herrschenden Klasse und seinen politischen VertreterInnen betrieben werden. In dieser Situation glauben wir, dass es höchste Zeit ist, die Offensive für den sozialen Fortschritt aufzunehmen. Es ist kein Zufall, dass wir als Basis für unsere Initiative das System der AHV nehmen, da es das fortschrittlichste, gerechteste und sicherste System der sozialen Sicherheit darstellt, das in unserem Land existiert. Wir betrachten es auch als eine Alternative zum pseudoliberalen System der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, das ungerecht und teuer ist und vor allem den Interessen der Privatversicherungen dient. Die Partei der Arbeit Genf hat bereits Massnahmen getroffen, um ein Unterstützungskomitee für diese Initiative zu konstituieren. Wir rufen all diejenigen, die sich angesichts der kapitalistischen Unterdrückung und dem neoliberalen Bleigewicht nicht geschlagen geben, dazu auf sich unserem Kampf anzuschliessen.

Weitere Infos: www.pdt-ge.org

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«Der Kostendruck ist enorm»

Wie viele Berufe leidet auch die Pflege- und Betreuungsbranche unter dem Druck der Ökonomisierung. Mit einer Petition startet die Gewerkschaft Unia jetzt einen neuen Anlauf, um die Arbeitsbedingungen der PflegerInnen und BetreuerInnen zu verbessern. Ein Gespräch mit Udo Michel, Branchenleiter für Pflege und Betreuung der Unia.

 

Udo, warum hat die Gewerkschaft die Petition lanciert?

Es gibt massiven Druck auf das Personal: Mit immer weniger Leuten muss immer mehr und schneller gepflegt werden. Das ist auf die Dauer nicht auszuhalten, weil auch die Qualität der Pflege leidet und insbesondere die Beschäftigten derart stark unter Druck kommen, dass sie teilweise krankheitsbedingt ausfallen oder Burnouts haben. Unregelmässige Arbeitszeiten, geteilte Dienste, immer wieder schnell einspringen müssen – das ist für das soziale Umfeld auch enorm schwierig.

Weshalb ist der Druck auf die Pflege- und Betreuungsbranche derzeit so gross?

Der Kostendruck ist enorm. Die Heime sind immer mehr gezwungen, zu sparen und die Kosten zu optimieren. Das ist die eine Seite; die andere Seite ist, dass zu wenig Leute ausgebildet werden, die dann effektiv die Nachfrage nach Personal abdecken können.

Du nimmst Bezug auf die jungen BerufseinsteigerInnen. Wie sehen denn die Auszubildenden ihre Zukunft in der Branche?

In einer Umfrage haben wir herausgefunden, dass sich nur noch 50 Prozent der Auszubildenden in zehn Jahren noch auf diesem Job sehen. Auch bei ihnen ist der Druck enorm und auch bei den jüngeren Leuten in diesem Beruf zeigt sich, dass ihnen die Zeit fehlt, um umfassend gut ausgebildet zu werden, aber auch, um den Job überhaupt gut machen zu können.

Der Druck auf die Fachkräfte zieht sich also wie ein roter Faden durch den Pflegebereich. Es wird immer mehr kontrolliert, die Krankenkasse übernimmt beispielsweise nur messbare Leistungen. Welche Folgen bringt das im Alltag mit?

Es führt dazu, dass man «minütelen» muss. Die Leistungen müssen notiert werden und es sind nur diese Leistungen, die Geld geben. Alle anderen Leistungen geraten dann ins Hintertreffen, zum Beispiel ein eingehendes Gespräch hier und dort. Das ist auch das, was die Leute wahrnehmen, das belegen auch die Studien. Den PflegerInnen bleiben viel zu wenig Zeit, um zwischenmenschliche Kontakte zu pflegen. Die Leute, die diesen Job machen, haben eigentlich diesen Arbeit gewählt, damit sie auch den Umgang mit den Menschen pflegen können, damit sie Gespräche führen können. Das bleibt im Moment leider auf der Strecke. Die ganze Geschichte funktioniert eigentlich nur noch, weil die PflegerInnen ein übermässig grosses Engagement an den Tag legen und oftmals auch in ihrer Freizeit einspringen oder Dienste abtauschen.

Was fordert ihr in eurer nationalen Kampagne, um dem entgegenzuwirken?

Es ist klar: Der Mensch muss wieder mehr im Mittelpunkt stehen und nicht nur der Profit. Man muss sich über neue Finanzierungsmodelle Gedanken machen. Es braucht klar bessere Arbeitsbedingungen, geregelte Arbeitszeiten, höhere Löhne. Und es braucht eine Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie, die möglich sein muss, in diesem Job.

Was geschieht, wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht ändern würden?

Ich befürchte, dass es dann umso schwieriger wird, neue Leute zu rekrutieren, die es unbedingt braucht. Und ich glaube auch, dass es unter dem Strich eine teure Übung sein wird für die Volkswirtschaft; es hat keinen Sinn, wenn immer mehr Leute ausfallen und keine Pflege und Betreuung mit hoher Qualität mehr erbracht werden kann.

Petition online unterschreiben: www.bit.ly/211Cm2X

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SVP weggefegt!

SVPDie SVP ist mit ihrem Versuch, AusländerInnen wegen Bagatelldelikten des Landes zu verweisen, gescheitert. Am 28. Februar haben die Stimmbeteiligten die sogenannte «Durchsetzungsinitiative» bachab geschickt. Ein Erfolg, wenngleich ein halber: Denn nun tritt die Umsetzung der «Ausschaffungsinitiative» in Kraft.

Noch bis zum Abstimmungssontag am 28. Februar hatte es danach ausgesehen, als könnte die SVP ihren nächsten ausländerfeindlichen Coup landen. Mit der sogenannten «Durchsetzungsinitiative» hatte sie angestrebt, dass kriminelle «AusländerInnen» künftig automatisch, selbst bei Bagatelldelikten und unabhängig der Höhe des Strafmasses, ihr Aufenthaltsrecht in der Schweiz verlieren. Doch dann kam alles anders: Mit 58,9 Prozent sagten die Stimmbeteiligten dezidiert «Nein» und verhinderten damit, dass tausende Menschen, die in der Schweiz leben aber nicht über den roten Pass verfügen, der permanenten Gefahr eines dauerhaften Landesverweises ausgesetzt sind. Es war das erste Mal, nach der Annahme der «Anti-Minarettinitiative» (2007), der «Ausschaffungsinitiative» (2010) und der «Masseneinwanderungsinitiative» (2014), dass eine ausländerfeindliche Vorlage der «Volkspartei» an der Urne zu Grabe getragen wurde.

Widerstand von links bis rechts

Darauf mussten die RechtspopulistInnen, die sich am Abstimmungssonntag im urschweizerischen Einsiedeln versammelt hatten, erst einmal einen Kräuterschnaps trinken. Warum man gescheitert war, dafür hatte Nathalie Rickli am Nachmittag dann auch schon eine schlüssige Erklärung parat: Man sei verunglimpft worden, meinte die Nationalrätin und scheute sich nicht, ihren GegnerInnen «Emotionalität und Hetze» vorzuwerfen. Über die eigene Hetze, die man einmal mehr mittels einer 4,1 Millionen-Auflage des «SVP Extrablatt» ungefragt an die Haushalte in der ganzen Schweiz verteilt hatte, wurde derweil kein Wort verloren.

Aber tatsächlich blies der SVP kaum je ein solch heftiger Wind entgegen, wie in den vergangenen Wochen. Überall im Land hatten sich linke sowie «zivilgesellschaftliche» und bürgerliche Komitees gebildet, um gegen die «Durchsetzungsinitiative» mobil zu machen. Einig war man sich vor allem in einem Punkt: Dass das Vorhaben der «Volkspartei» mit Rechtsstaatlichkeit herzlich wenig am Hut hatte. So hätte die Vorlage etwa die Gewaltenteilung aufgehoben; das Parlament wäre aufgrund des restriktiven Initiativtextes der «Durchsetzungsinitiative» bei deren Umsetzung faktisch ausgeschaltet worden. Weiter wäre die Justiz aufgrund des verfassungsmässig verankerten «Ausschaffungsautomatismus» nicht mehr befugt gewesen, aufgrund der persönlichen Situation des Verurteilten, von einer Abschiebung abzusehen, was eine Einschränkung der Verhältnismässigkeit und die Verletzung der Menschenrechtskonvention bedeutet hätte.

So war das Votum gegen die «Durchsetzungsinitiative» wohl leider grösstenteils weniger eines gegen die Fremdenfeindlichkeit, sondern eines für den «Rechtsstaat». Darauf hatten insbesondere die bürgerlichen Mitteparteien gespielt, die zwar mit Ausschaffungen von AusländerInnen mitunter kein Problem haben, aber nicht dazu bereit sind, die rechtsstaatlichen Grundsätze dafür so radikal zu opfern, wie es die SVP im Sinne hatte.

Die «neuen Liberalen»

Im Mittelpunkt des vergangenen Abstimmungskampfes stand allerdings nicht die bürgerliche Mitte, sondern mit «Operation Libero», eine neue liberale Gruppierung, die sich aus jungen AkademikerInnen – der Elite von morgen – rekrutiert und unter dem Motto «Wir verknüpfen gesellschaftsliberale und wirtschaftsliberale Werte» zum gefeierten Shootingstar wurde. Diese Organisation der «Zivilgesellschaft» stand an der Spitze des «NGO-Komitees gegen die Durchsetzungsinitiative», dem 56 Nichtregierungsorganisationen, darunter Amnesty International und Humanrights, angehörten. Der Tages-Anzeiger schrieb die Newcomer kurzerhand zum «Albtraum der SVP» hoch.

Vielleicht nicht ganz zu unrecht. Es dürfte durchaus stimmen, dass die neuen Liberalen sowie die traditionellen bürgerlichen Parteien bei der Abstimmung über die «Durchsetzungsinitiative» das Zünglein an der Waage waren. Den Sieg hätten die Linken allein nicht erringen können.

Jetzt kommt es «pfefferscharf»

Und es ist auch nur ein halber Sieg geworden. Denn trotz des Votums gegen das SVP-Vorhaben tritt nun, aufgrund der «Ausschaffungsinitiative» von 2010, eine härtere Gesetzgebung gegen Straffällige ohne Schweizer Pass in Kraft. Obschon die SVP stets monierte, dass das Parlament sich weigern würde, den «Volkswillen» zu befolgen, haben National- und Ständerat nun teilweise gar eine härtere Umsetzung beschlossen, als dass sie es hätten tun müssen. So wurde beispielsweise der Deliktkatalog, der künftig für Landesverweise gelten soll, ausgeweitet. Darin enthalten sind nun beispielsweise auch Hausfriedensbruch und «Störung des öffentlichen Verkehrs». Weiter steht es dem Gericht frei, einen Landesverweis auch bei leichteren Straftaten anzuordnen. Gleichzeitig können die RichterInnen jedoch im Härtefall auch von einer Ausschaffung absehen. Zu large soll diese Klausel aber nicht angewendet werden, wie es etwa FDP-Präsident Philipp Müller am Abstimmungssonntag nicht müde wurde, zu betonen. Man habe ein «pfefferscharfes Gesetz».

So kommt sie nun also doch, die «Zweiklassenjustiz», von der die GegnerInnen der «Durchsetzungsinitiative», mitunter auch die Bürgerlichen, in den vergangenen Wochen immer wieder gewarnt hatten. Nur eben menschenrechtskompatibel. Bis zu 4 000 Menschen pro Jahr – und damit viermal mehr als bisher – könnten nun künftig die Schweiz verlassen müssen. Die neuen Gesetzesregelungen treten am 1. Oktober 2016 in Kraft.

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Wahrheit und Gerechtigkeit für Giulio Regeni!

regeniGleich mehrere Polizeiübergriffe und Justizskandale sorgen derzeit in Ägypten für Empörung und Beschämung. Chaos und Polizeigewalt setzen das Regime immer mehr unter Druck. Das Militär hat zwar die Macht, nicht aber die Kontrolle. Und nach dem Foltertod von Giulio Regeni wächst auch der internationale Druck.

Ein Tuk-Tuk-Fahrer, der mehr Geld haben wollte: erschossen. Ein Mann, der Drogen besessen haben soll: in Luxor zu Tode gequält. Zwei Ärzte, die sich weigerten, einem Polizisten ein Gefälligkeitszeugnis auszustellen: verhaftet und verprügelt. Ein Dreijähriger, der als Baby an einer Demo der Muslimbruderschaft teilnahm: zu lebenslanger Haft verurteilt. Und ein italienischer Genosse, der zu ägyptischen Gewerkschaften forschte: am Jahrestag der Revolution von der Staatssicherheit verschleppt und zu Tode gefoltert.

Ein politischer Mord

Gross war die Anteilnahme in Giulio Regenis Heimatstadt Fiumicello in der Provinz Udine im Nordosten Italiens, als er am 12. Februar beerdigt wurde. Der junge Aktivist und Forscher der Universität Cambridge war am 25. Januar in Kairo spurlos verschwunden. Berichten zufolge verliess er gegen 20 Uhr seine Wohnung im Stadtteil Dokki, um an eine Geburtstagsparty in der Nähe des Tahrir-Platzes zu besuchen. Dort kam der 28jährige Italiener jedoch nie an. Tatsächlich sprechen alle Indizien dafür, dass er von der ägyptischen Staatssicherheit verschleppt und aus politischen Gründen zu Tode gefoltert wurde.

Regeni verschwand am 5. Jahrestag der ägyptischen Revolution. An jenem Tag waren in der Innenstadt von Kairo tausende schwer bewaffnete Sicherheitskräfte postiert und an jeder Ecke standen zivile Schlägertrupps der Staatssicherheit für den Ernstfall bereit. Diese Ausgangslage lässt es nahezu als unmöglich erscheinen, dass Regeni mitten in der Downtown von Kairo entführt wird. Mehrere Augenzeugen berichteten gegenüber westlichen Medien, dass Regeni beim Verlassen einer U-Bahn-Station von zwei Zivilbeamten abgeführt wurde. Ausserdem hätten drei Sicherheitsbeamte anonym bestätigt, dass der italienische Dozent in Polizeigewahrsam genommen worden sei, da er für einen Spion gehalten wurde. Tatsächlich machte sich Giulio Regeni seit ein paar Wochen Sorgen um die eigene Sicherheit. So wurde er nach einem Treffen mit VertreterInnen der Gewerkschaftsbewegung am 11. Dezember 2015 von einem Unbekanten fotografiert, weshalb er nur noch unter einem Pseudonym für die linke Tageszeitung «Il Manifesto» schrieb, wo er regelmässig als freischaffender Journalist über die Entwicklungen in Ägypten berichtete.

Die Handschrift der Staatssicherheit

Schliesslich wurde sein entblösster Leichnam eine Woche später an einer Schnellstrasse zwischen Kairo und Alexandria gefunden. Angeblich hätte ein Taxifahrer dort seine Leiche gefunden, da «per Zufall» sein Auto genau dort eine Panne hatte. Der Fund erfolgte allerdings, nur kurz nachdem sich die italienische Regierung unter wachsenden öffentlichen Druck direkt an den ägyptischen Präsident Abdel Fattah al-Sisi gewandt hatte. Zwar willigte die ägyptische Militärjunta nach Einbestellung des Botschafters in Rom ebenso einer unabhängigen Obduktion zu, leugnet aber vehement jegliche Verstrickung in Regenis Tod und wies Berichte von westlichen Medien als anti-ägyptische Propaganda zurück. Der Innenminister Magdi Abdel Ghaffer bestritt energisch, dass der Italiener sich jemals in den Händen der Behörden befunden hatte und behauptet dreist, dass in Ägypten noch nie ein solches Verbrechen mit der Staatssicherheit in Verbindung gebracht worden sei, schliesslich sei Ägyptens Polizei bekannt für ihre Integrität und Transparenz. Nach der ersten Obduktion wurde gar von einem normalen Verkehrsunfall gesprochen, später von einem gewöhnlichen Verbrechen.

Tatsächlich kam die zweite Obduktion zu einem schockierenden Ergebnis, die bezeugt, dass Regeni über eine Woche hinweg verhört und systematisch zu Tode gefoltert wurde. Unter anderem wurden sieben gebrochene Rippen, Zeichen von Stromschlägen am Penis, schwere Verletzungen am ganzen Körper und eine Hirnblutung festgestellt. Zudem wurde ihm ein Ohr abgeschnitten sowie alle Finger- und Fussnägel rausgerissen. Sein Körper war übersät mit Brandmalen und Schnittverletzungen und desweitern wurden ihm die Oberarmknochen und die Schulterblätter gebrochen. Der italienische Innenminister Angelino Alfano sprach mit Verweis auf eine zweite Autopsie in Italien von «unmenschlicher, animalischer, inakzeptabler Gewalt», die dem Opfer zugefügt worden sei. Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem typischen Foltermuster der ägyptischen Staatssicherheit. Des Weitern arbeitet die ägyptische Polizei sehr unkooperativ mit den italienischen Behörden zusammen. So wurden etwa die Handydaten von Regeni bis heute nicht an die italienischen ErmittlerInnen übergeben und Videoaufnahmen, die allenfalls die Entführer identifizieren könnten, wurden gelöscht.

Die Botschaft, die hinter dem Mord an Regeni steht, ist klar: Jede und jeder, der es in Ägypten wagt, das Regime auch nur zu kritisieren, muss damit rechnen, verschleppt und zu Tode gefoltert zu werden, sogar wenn er Ausländer ist. Währenddessen kooperiert der Westen eng mit dem ägyptischen Regime, um die eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen nicht zu gefährden. So gilt al-Sisi als unverzichtbarer Stabilisator für die Region und als Bollwerk gegen den politischen Islam. Gleichzeitig schüren das Regime und die Medien ein Klima des Hasses und der Paranoia, in dem jede und jeder verdächtigt wird, ein Revolutionär und Agent des Westens zu sein. Hinter diesem Denken verbirgt sich auch eine tiefe Verachtung der Mächtigen gegenüber der eigenen Bevölkerung. In allen Ländern des Nahen Ostens bleibt es für die Herrschenden unvorstellbar, dass die eigene Bevölkerung vor fünf Jahren ohne Aufstachelung durch westliche NGOs und die Tätigkeit von dunklen Kräften gegen Unterdrückung, Folter und Entrechtung aufgestanden sein könnte.

«Dreckige Regierung, ihr seid Hurensöhne!»

Doch die bestialische Ermordung von Giulio Regeni durch die ägyptische Staatssicherheit ist nur einer von mehreren Fällen, die am Nil für Wut und Trauer sorgen. Am 16. Februar prügelte eine wütende Menschenmenge einen Polizisten krankenhausreif, zog vor die Einsatzzentrale in der Hauptstadt und skandierte: «Dreckige Regierung, ihr seid Hurensöhne.» Der Beamte hatte einen 24jährigen Tuk-Tuk-Fahrer mit einem Kopfschuss getötet, während beide über den Fahrpreis stritten. Zuvor hatten gleichentags mehr als 10 000 MedizinerInnen sich über das neue Demonstrationsgesetz hinweggesetzt und gegen die ständigen Übergriffe von PolizistInnen in Krankenhäusern demonstriert – das grösste Aufbegehren der Bevölkerung seit dem Amtsantritt von Präsident Abdel Fattah al-Sisi im Juni 2014. Sie forderten unter anderem den kostenlosen Zugang zum Gesundheitswesen für alle ÄgypterInnen, den Rücktritt von Gesundheitsminister Ahmed Emad sowie das Ende von polizeilichen Übergriffen gegen ÄrztInnen. Die Generalversammlung der Ärztekammer votierte zuvor für einen landesweiten Streik, falls die Forderungen der Gewerkschaften nicht erfüllt werden sollten. Ausgangspunkt für diese Protestwelle war ein Vorfall in einem Krankenhaus in Matariya, einem der ärmsten Aussenquartiere von Kairo. Die Situation eskalierte, als zwei Mediziner sich weigerten, eine von ihnen als nur kleine Verletzung taxierte Wunde zu nähen und dem Polizisten ein Gefälligkeitszeugnis auszustellen. Die beiden Männer wurden daraufhin in einen Polizeitransporter gezerrt und in der nahe gelegenen Polizeistation von neun Beamten verprügelt. Der betreffende Posten gilt allgemeinhin als einer der berüchtigtsten in Kairo. Das Personal des Krankenhauses lief daraufhin Sturm und trat für eine Woche in den Streik. Zahlreiche Gewerkschaften und AkteurInnen der sozialen Bewegung solidarisierten sich mit der Spitalbelegschaft. Zwar hat die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen die neun Polizisten eingeleitet, diese wurden aber bis zum Prozessbeginn gegen Kaution aus dem Knast entlassen. Es ist zu befürchten, dass die Strafverfolgung ohne Konsequenzen für die fehlbaren Beamten bleiben und alt bekannten Muster folgen wird. Zwar gibt es immer wieder erstinstanzliche Urteile, die durchaus Hoffnung nach mehr Rechtsstaatlichkeit wecken, doch meist werden diese Urteile von einem Berufungsgericht annulliert, sobald das öffentliche Interesse für die jeweiligen Verfahren nachlässt.

Wer regiert Ägypten?

Und der Polizeiapparat zeigt sich bisher wenig beeindruckt. Statt die Folterer in den eigenen Reihen zu stoppen, gehen die Sicherheitskräfte erstmals auch gegen das «Nadeem Zentrum zur Behandlung von Opfern von Gewalt und Folter» in Kairo vor, die einzige Anlaufstelle für Folteropfer im ganzen Land. Nadeem-Mitbegründerin Aida Seif al-Dawla gilt als mutige Kritikerin von Menschenrechtsverletzungen in ihrer Heimat. Seit dem Beginn ihrer Einrichtung 1993 habe es in Ägypten noch nie solche Zustände gegeben wie heute, sagte sie. Die Brutalität der Folter habe extrem zugenommen. In den Gefängnissen gebe es «exzessive sexuelle Gewalt» gegen Frauen und Männer gleichermassen.

Das ungehemmte Wüten der Polizei scheint inzwischen aber auch Teile der ägyptischen Militärführung zu beunruhigen, so dass Präsident al-Sisi jetzt überraschend ein schärferes Gesetz gegen Polizeigewalt ankündigt hat. Ob das aber an den Missständen etwas ändert, bleibt fraglich. Genauso unklar ist, ob und inwieweit die Militärführung überhaupt Einfluss auf die Staatssicherheit hat. Tatsächlich deutet schon seit längerem vieles auf einen Machtkampf hinter den Kulissen hin. Trotzdem wünschen sich in Ägypten – angesichts der Entwicklungen in Syrien, Libyen und dem Jemen – derzeit wohl die Wenigsten eine neue Revolutionswelle. Aber die Menschen am Nil tragen ihren Frust mittlerweile wieder auf die Strasse und zwingen so al-Sisi zum Handeln. Noch hält das Zweckbündnis zwischen der Zivilgesellschaft und den Militärs gegen den politischen Islam, doch auch für al-Sisi wird die Luft irgendwann dünner, sofern er es nicht schafft, Herr im eigenen Haus zu werden und den Polizeiapparat in seine Schranken zu weisen.

Italien jedenfalls will nicht locker lassen. Die Zahl der italienischen TouristInnen ist bereits um 90 Prozent zurückgegangen. «Wir wollen die wahren Verantwortlichen finden», erklärte Roms Aussenminister Paolo Gentiloni. «Wir dulden keine Halbwahrheiten und keine Ausflüchte.» Und der Tod von Giulio Regeni wird seinen Platz in den ägyptischen Geschichtsbüchern finden. Bei einer Gedenkveranstaltung an der italienischen Botschaft in Kairo hielt ein junger Ägypter ein Schild hoch: «Giulio war einer von uns. Und er starb wie einer von uns.»

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Es lebe der 8. März!

zetkinBei dem Streik der Textilarbeiterinnen am 8. März 1857 in New York, den sie für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen organisierten, wurden 129 Frauen ermordet. Auf der zweiten Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen im Jahre 1910 schlug Clara Zetkin vor, dass ein Tag im Jahr als internationaler Einheits-, Kampf- und Solidaritätstag der Frauen eingeführt werden solle. Festgelegt wurde der 8. März dann zu Ehren des Kampfes der New Yorker Textil-arbeiterinnen.

Am 8. März 1917 hoben die Arbeiterinnen von St. Petersburg die Fahne des Kampfes in die Höhe. Dieser Streik war der Beginn der Oktoberrevolution und richtete sich gegen den Zarismus und die Armut. Der 8. März ist auch zu ihren Ehren der internationale Kampf- und Solidaritätstag der Frauen. Somit entwickelte sich der 8. März zu einem Tag, den internationale Arbeiterinnen mit ihrem Leben bezahlten, an dem der Gleichheits- und Befreiungskampf gemeinsam gefeiert wird und an dem die aktuellen Forderungen der Frauen formuliert werden.

Seit dem ersten organisierten Streik der Frauen am 8. März 1857 sind 159 Jahre vergangenen. In diesen 155 Jahren haben Frauen einige Rechte gewonnen und einen langen Weg zurückgelegt. Doch die Profitgier der Kapitalherrscher, die eine tödliche Kriegspolitik betreiben, die zu Krisen führt, die Arbeitslosigkeit produziert und die Armut wie eine Lawine wachsen lässt, führt auch Stück für Stück zu der Rücknahme der ArbeiterInnenrechte, die jahrelang erkämpft wurden.

Die Frauen, die die Sklaven der Sklaven sind, werden nur aufgrund der Tatsache, dass sie Frauen sind, dies wissend geprägt und so gebildet. Ebenso wird zu Gewalt gegriffen, um ihnen gewisse Verhaltensweisen zu lehren. Sie werden zweifach unterdrückt und im Namen der Ehre ermordet. Ihre Sexualität wird vermarktet, wird gekauft und verkauft. Sie werden vergewaltigt und sexuell belästigt. In Kriegen sind sie die zu erobernden Schätze. Obwohl die Frau jeden Tag aufs Neue diejenige ist, die das Leben reproduziert, hat sie in keinem Bereich des Lebens ein Mitspracherecht, nicht einmal über ihren eigenen Körper und ihr Leben. Frauen sind diejenigen, die als billige Ersatzarbeitskraft eingestellt werden, und in Krisenzeiten als erste entlassen werden. Wenn innerhalb der Familie die Arbeitslosigkeit steigt, wird die gesellschaftliche Rolle der Frau immer wichtiger. Denn trotz der Armut ist es weiterhin die Aufgabe der Frau, die Familienmitglieder satt zu machen und glücklich zu stimmen. Sobald Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit keine Rechte mehr sind, sondern privatisiert und als Ware verkauft werden, sind auch hier die Frauen die ersten, die diese Rechte verlieren. Doch damit nicht genug! Auch übernehmen Frauen – als sei es ein ungeschriebenes Gesetz – die Pflege von Hilfsbedürftigen. Arbeitslosigkeit und Armut führen dazu, dass Frauen weltweit zur Zielgruppe des Sexsektors werden; dass die psychischen Probleme innerhalb der Gesellschaft und die häusliche Gewalt zunehmen; und dass Frauenmorde und Gewalt an Frauen in grausamer Art und Weise steigen.

Ruhm denjenigen, die den 8. März erschaffen haben und heute am Leben halten!

Die Zahlen der Streikenden auf Strassen, in Fabriken und Schulen weltweit gegen diese Ungerechtigkeiten, die Ausbeutung und Grausamkeit nehmen zu und Frauen scheuen sich nicht, ihren Platz an den Fronten einzunehmen. Die Fackel, die 1857 durch die streikenden Frauen entflammte, lodert heute in den Händen der Arbeiterinnen.

Arbeiterinnen, liebe Frauen, liebe Freunde, lasst uns gemeinsam gegen dieses Leben als Sklaven, das uns aufgezwungen wird, auf die Strassen gehen! Lasst uns gemeinsam gegen den Sozialabbau, die Arbeitslosigkeit, Armut und sexistische Gesetze kämpfen! Lasst uns am 8. März solidarisch unsere gemeinsamen Parolen rufen!

Es lebe der internationale Kampftag der Frauen!

Auf der sozialistischen Frauenkonferenz im August 1910 wurde beschlossen, «als einheitliche internationale Aktion einen alljährlichen Frauentag», einen gemeinsamen Kampftag der Arbeiterinnenbewegung zu begehen. Unter dem Kampfruf «Heraus mit dem Frauenwahlrecht» gingen am ersten internationalen Frauentag, am 19. März 1911, alleine in Deutschland mehr als eine Million Frauen auf die Strasse und forderten für alle Frauen soziale und politische Gleichberechtigung. Auch heute sind diese Forderungen aktuell: Weltweit leben Frauen in patriarchalen Herrschaftsverhältnissen und sind mit Unterdrückung und Ausbeutung konfrontiert. Mehrheitlich Frauen und Mädchen werden Opfer von Armut und Gewalt, wobei laut WHO-Statistik 2001 global Gewalt die Haupttodesursache für Frauen ist, noch vor Krebs, HIV und Herzinfarkt. In Deutschland verdienen sie im Falle von geregelten Arbeitsverhältnissen durchschnittlich 23 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen und sind überproportional häufig im Niedriglohnsektor beschäftigt. Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist eine gesellschaftlich akzeptierte Tatsache, die in patriarchalen und heteronormativen Systemen zu dessen Aufrechterhaltung immer weiter reproduziert wird. Deshalb ist die Frage der Geschlechterverhältnisse nicht losgelöst von der grundsätzlichen hierarchischen Beschaffenheit der Gesellschaft zu denken, die nach ausgrenzenden Kategorien wie Geschlecht, sexueller Orientierung, Ethnie, Nationalität, Behinderung, Klasse und anderen funktioniert.

Für eine Welt ohne Patriarchat, Ausbeutung und Unterdrückung

Und trotz allem bleibt es noch ein weiter Weg, bis die Gleichheit in allen Bereichen und Augenblicken des Alltags Realität wird. Es gibt noch zahlreiche Situationen, in denen sich die Diskriminierung der Frau fortsetzt, in der sie ungleich behandelt wird, Respekt und Gerechtigkeit fehlen. Es reicht ein Blick hin zu unseren Nachbarinnen, zu den Familien in unserem Wohnviertel, zu unseren Arbeitskolleginnen, zu den arbeitenden Frauen auf anderen Kontinenten um festzustellen, dass noch immer Unterschiede, Diskriminierung und Gewalt auf Grund des Geschlechtes existieren. Wir beobachten, dass sich diese Situation heute, wegen der aktuellen globalen Krise verschärft hat. Ohne Erbarmen trifft sie die Arbeiterklasse, aber auf eine viel brutalere Weise und sehr viel härter die am leichtesten zu verletzenden und benachteiligten Gruppen, wie , neben anderen, die Frauen , insbesondere die armen und jungen Frauen, so wie die Migrantinnen.

Wir kämpfen für eine Gesellschaft, in der die kapitalistische Ordnung überwunden ist und nicht der Profit im Mittelpunkt steht. Für eine Welt, in der Patriarchat, Ausbeutung und Unterdrückung keinen Platz haben.

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Frauen als Retterinnen der AHV?

Bundesrat Alain Berset. © Andreas Blatter

Bundesrat Alain Berset. © Andreas Blatter

Das Parlament berät derzeit die vom EDI unter der Leitung von Bundesrat Berset vorgeschlagene Rentenreform «Altersvorsorge 2020». Ein klarer Angriff ist die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre – aber genau darüber herrscht in den beratenden Gremien mehrheitlich Konsens.

Bereits mehrfach sind AHV-Reformen an der Urne gescheitert. Da die gesamte Schweizer Stimmbevölkerung davon betroffen ist, regt sich bei Kürzungen in diesem Bereich wesentlich mehr Widerstand als beispielsweise beim Sozialabbau bei der Invalidenversicherung, von dem «nur» 260000 Personen betroffen sind. Bei der anstehenden Reform «Altersvorsorge 2020» ist das nicht anders. Das Stimmvolk wird nicht differenziert über einzelne Punkte der Reform entscheiden können, sondern nur «Ja» oder «Nein» stimmen. Bei einem «Nein» müsste die Arbeit ganz von vorne beginnen und das wollen sämtliche Parteien verhindern – die Frage ist nur wie.

Zuckerbrot und Peitsche à la SP

Wie viele Konzessionen für dieses «Ja» gemacht werden müssen, darum geht es in der aktuellen Debatte. Bei dieser Ausgangslage haben reformistische Kräfte in den Parlamenten durchaus eine Chance, sich Gehör zu verschaffen, wie sich im Ständerat gezeigt hat. So hat die Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit, welche das Dossier als erste beriet, den Vorschlag aus dem Departement des SP-Bundesrates Berset nicht verschärft, sondern sozialer gemacht. Das ist mutmasslich dem Einsatz des aufrechten Reformisten Paul Rechsteiner zu verdanken, aber zu einem grösseren Teil der Angst, dass das ganze Paket scheitern könnte, wenn es neben der Peitsche nicht auch Zuckerbrot gibt. So schlägt der Ständerat neben der Erhöhung des Frauenrentenalters Kürzungen bei der Pensionskasse vor. Die für tiefe Löhne wichtigere AHV wird jedoch nicht angetastet, sondern verbessert. Auch bei der Finanzierung ist der Ständerat sozialer als Berset, so soll die Mehrwertsteuer um 1 Prozent statt 1,5 Prozent erhöht werden und der Bund soll finanziell nicht weniger in der Pflicht stehen als bisher.

Blutige Peitsche à la FDP

Der Nationalrat, der nun über die Vorlage beraten soll, wird wohl eine andere Taktik anwenden. FDP und SVP werden dafür sorgen, dass die Vorlage wieder verschärft wird und setzen darauf, dass die Stimmbevölkerung es nicht wagen wird, «Nein» zu stimmen. Das ist konfrontativer: «Ihr müsst «Ja» sagen, oder ihr verliert alles!». Es zeigt, dass die seit Jahren andauernde Propaganda über den drohenden Zusammenbruch der AHV gewirkt habe. Demnach setzen FDP und SVP darauf, dass die Abstimmenden nach dem Motto «Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach» einem radikalen Sozialabbau bei der Rente zustimmen werden.

Äusserst problematisch ist, dass der Arbeitgeberverband im Nationalrat eine Schuldenbremse vorschlagen wird. Diese sieht vor, dass, wenn das Vermögen der AHV unter einen bestimmten Stand sinkt, die Regierung sanieren müsse, ansonsten würde das Rentenalter automatisch auf 67 Jahre erhöht. Damit stünde die Erhöhung des Rentenalters im Gesetz und würde durch die Hintertür Realität. Wenn die FDP ihre alte Forderung tatsächlich so nebenbei in die Vorlage reinschreiben will, riskiert sie tatsächlich den Widerstand der Gewerkschaften und der SP. Das scheint ein Wagnis. Historisch betrachtet ist es der Sozialdemokratie oft besser gelungen, Sparprogramme durchzusetzen. Entsprechend äussert sich der andere Interessensverband des Kapitals, Economiesuisse, beispielsweise besorgt über die Tatsache, dass ein ganzes Paket zur Abstimmung kommt und nicht einzelne Teile davon. Natürlich steht die Economiesuisse auch für einen konzessionslosen Sozialabbau. Dieser würde dem Kapital bei der Ablehnung eines Gesamtpakets aber viel härter auf die Füsse fallen als im Falle der Ablehnung von Teilbereichen. So sieht Economiesuisse die Erhöhung des Frauenrentenalters als vordringliches Problem, welches nun ohne Konzessionen durchzubringen sei, um dann weitere «Reformen» anzugehen.

Konsens beim Frauenrentenalter Tatsächlich herrscht nur in der Frage der Erhöhung des Rentenalters der Frau Harmonie in den beratenden Gremien. Die Meinung scheint dermassen einhellig zu sein, dass gar nicht viele Worte darüber verloren werden. In den Vernehmlassungstexten taucht gelegentlich auf, dass Frauen bei gleicher Arbeit tiefere Löhne haben und es deshalb ein bisschen «ausgleichende Gerechtigkeit» wäre, ein Jahr früher in Rente zu gehen. Aber die Umfrageresultate zeigen eine grosse Akzeptanz der Erhöhung, weshalb ReformistInnen diesen Kampf nicht ernsthaft in Angriff nehmen.

Gebären gegen die Krise?

Der konfrontative Kurs ist nicht ohne Chance und wird seit Jahren propagandistisch vorbereitet, indem Angst geschürt wird: Es wird uns eingebleut, dass die AHV kaputt gehe, wenn nicht sofort gespart werde. Die demografische Zeitbombe, wonach demnächst ganz wenige Arbeitende ganz viele RenterInnen zu finanzieren haben, wird in den Medien breitgetreten. Schuld an der heraufbeschworenen Bedrohung der AHV wären demnach nicht die Wirtschaft und der Arbeitsmarkt, sondern die Frauen, die notorisch zu wenige Babys gebären. Am Stadtrundgang zur AHV von 2007 haben wir deshalb gesagt: «Die kapitalistische Krise lassen wir uns nicht in die Gebärmutter schieben». Demographie mag zwar eine Wissenschaft sein, aber sie ist politisch motiviert. Während den Frauen des Trikonts vorgeworfen wird, sie hätten zu viele Kinder, geschieht in Europa das Umgekehrte. Beides mit Absicht. Denn für die Geburtenrate ist ja praktischerweise nicht der Kapitalismus verantwortlich, sondern die Frau. Ein Ablenkungsmanöver. Die Politik könnte die AHV sehr einfach retten, wenn sie progressiv wäre. Aber dafür müsste das Finanzierungsmodell verändert werden. Es ginge darum zu entscheiden, dass die Alten grundsätzlich ein Recht auf Rente haben und dieses staatlich garantiert wird. Denn die AHV und ihr Umlageverfahren sind bei der heutigen Finanzierung wohl tatsächlich bedroht, auch wenn es sehr viel stärker an der Arbeitslosigkeit als am Geburtenrückgang liegt.

«Altersvorsorge 2020»

Der Ständerat hat die Rentenreform «Altersvorsorge 2020» beraten und in einigen Punkten die Vorlage aus dem Bundesrat etwas entschärft. Nun geht das Dossier an den Nationalrat zur Beratung – dieser wird es mutmasslich wieder verschärfen. Der aktuelle Stand ist:

• Das Frauenrentenalter wird auf 65 Jahr erhöht, das Eintrittsalter flexibilisiert. Alle sollen im Alter zwischen 62 und 70 in Rente gehen können.

• Der Ständerrat fordert eine Erhöhung der AHV-Renten zum Ausgleich für die Kürzungen bei der Pensionskasse. Die Eintrittsrenten generell um CHF 70.- und der Plafond von Ehepaarrenten von 150  auf 155 Prozent.

• Witwen- und Waisenrenten werden nicht wie vom Bundesrat vorgeschlagen abgebaut.

• Bei der Pensionskasse wird wie vorgeschlagen der Umwandlungssatz von 6,8  auf 6 Prozent gesenkt. Der Koordinationsabzug (das Jahresgehalt, ab welchem Pensionskasse bezahlt werden muss) wird aber nicht wie vorgeschlagen ganz gestrichen, sondern gesenkt. Und es wäre neu ab dem 21. Altersjahr BVG einzubezahlen.

• Die Finanzierung soll über zusätzliche 0,3 Lohnprozente, die wie üblich zwischen Arbeitenden und Betrieb geteilt werden sowie über ein zusätzliches Prozent Mehrwertsteuer erfolgen. Der Bundesrat hatte 1.5 Prozent höhere MwSt vorgeschlagen. Auch das bereits existierende «Demografieprozent» der Mehrwertsteuer soll vollumfänglich der AHV zukommen. Die Vorlage von Berset sah vor, die Beteiligung des Bundes an der AHV von 19,5  auf 18 Prozent zu kürzen, was der SR abgelehnt hat.

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Gemeinschaft und Widerstand

sciopero_generale_04Das gegenwärtige Migrationsregime bedingt das Leben von vielen Frauen* auf gewaltvolle Weise. Gemeinschaft und Solidarität bauen, jenseits von kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen Teilungspraktiken ist eine Strategie des Widerstands dagegen.

Das Migrationsregime ist Gewalt an Frauen*, weil es jeden legalen Fluchtweg in die Schweiz verunmöglicht. Der letzte legale Weg in die Schweiz zu flüchten, war bis 2013 über das sogenannte Botschaftsasyl. Über 40 Prozent der Gesuche wurden von Frauen* in CH-Botschaften ihrer Herkunftsländern gestellt. Durch die Abschaffung dieser Einreisemöglichkeit ist die Schweiz mitverantwortlich an den Gräueltaten, die Frauen* auf der Flucht widerfahren. Es drängt sie auf gefährliche Fluchtrouten, auf denen sie von ökonomischer und sexueller Ausbeutung bedroht sind.

Das Migrationsregime ist auch Gewalt an Frauen*, weil es ausser «hochqualifizierten». spezialisierten Arbeitskräften“ keine Möglichkeit der Niederlassung für Frauen* aus Drittstaaten bietet, ausser der Ehe. Dem Grossteil bleibt einzig zu heiraten, um eine Niederlassungsbewilligung zu erhalten. Aufenthaltsrechtlich wird Frau* somit auf eine Ehefrau reduziert. Seit diesem Jahr ist der Cabaret-Status – die letzte Möglichkeit ausserhalb der EU- und EFTA-Staaten eine Arbeitsbewilligung zu erwerben – abgeschafft. Dies drängt Frauen* in die Illegalität und somit in die Rechtlosigkeit. Die Arbeitsbedingungen illegalisierter Frauen* sind prekär: Illegalisierten Hausarbeiter*innen beispielsweise fehlt sozialer und rechtlicher Schutz und die Angst vor einer plötzlichen Ausschaffung ist allgegenwärtig. Dabei erfüllen sie eine Nachfrage, die mit der globalen, kapitalistischen Arbeitsteilung und den hiesigen Geschlechterverhältnissen verbunden ist: Während immer mehr Schweizer Frauen* erwerbstätig sind, hat eine Anerkennung sowie eine Umverteilung der Haus- und Care-Arbeit zu den Männern nicht stattgefunden.

Das Migrationsregime ist Gewalt an Frauen*, weil es Ausbildung, Fähigkeiten und Wissen von Frauen*, die migriert oder geflüchtet sind, aberkennt und somit ungleiche Zugänge zu ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen legitimiert. Die Aberkennung von Fähigkeiten aus rassistischen Motiven ist verbunden mit einer kapitalistischen Logik, die Migrant*innen und Geflüchtete einzig als wirtschaftliche Ressourcen wahrnimmt und somit ihren Einsatz nur in den untersten Lohnsegmenten vorsieht.Trotz all dieser widrigen Umstände schaffen es viele Frauen*, sich selbständig durch zu schlagen und finden Wege, sich selbstbestimmt zur Wehr zu setzen. Im Frauen*?!…Kafi versuchen wir an einer Gemeinschaft und an Solidarität jenseits von rassistischen, sexistischen und klassistischen Teilungspraktiken mitzubauen. Dabei geht es darum, widerständige Stimmen gegen die bestehenden Herrschaftslogiken zu stärken, zu verbreiten und Formen des Widerstands zu kreieren. Dazu ist es notwendig, von unterschiedlichen Wissenstraditionen zu lernen, um sich politisch zu bilden. Das Frauen*?!…Kafi ist Teil eines Raumes für Antirassismus und Feminismus. Im Sinne des Raums verpflichten wir uns einer antikapitalistischen, emanzipatorischen Praxis mit radikalem Anspruch. Wir sind Frauen* mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen, aus verschiedenen Gründen in Zürich: geflohen, gereist oder hier aufgewachsen. Politik verstehen wir als Teil unseres Alltags. Ob wir wollen oder nicht, bedingt Politik unser Leben, deswegen wollen und müssen wir uns organisieren, zusammenschliessen, Gemeinschaft bauen und die Stimme erheben gegen patriarchale, rassistische und kapitalistische Strukturen.

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Schluss mit den Massakern in Kurdistan!

cizreIn Cizîr (Cizre) verloren während der Ausgangssperre und der Militäroperation mehr als 200 Menschen ihr Leben. Das Militär hat zwar die Operation beendet, doch dauern die Ausgangssperre und die Übergriffe durch türkische Sicherheitskräfte an. Die Identifizierungen der Leichname der Opfer des Massakers aus den drei Kellern von Cizîr sind noch nicht abgeschlossen – und jetzt zittern die Menschen um das Leben ihrer Angehörigen im belagerten Sûr. Mit jedem verstreichenden Tag, an dem der Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung nicht gestoppt wird, gibt es weitere tote ZivilistInnen!

Cizîr (Nordkurdistan/Türkei) wurde während 64 Tagen den Angriffen der türkischen Sicherheitskräfte ausgesetzt, wobei laut örtlichen Angaben auch bio-chemische Waffen gegen die kurdische Zivilbevölkerung eingesetzt wurden. Mindestens 165 ZivilistInnen, die inmitten von Militäroperationen Zuflucht in den Kellern von Wohnhäusern gesucht hatten, wurden von türkischen Sicherheitskräften zu Tode gebombt. Die Leichname, die in die Spitäler von Cizîr geliefert wurden, sind unkenntlich. Deshalb können die Familien sie nicht identifizieren. Mehr als 100 Leichname warten nach wie vor auf Identifizierung durch einen DNA-Test.

Die unbegrenzten Ausgangssperren rund um die Uhr, welche die AKP-Regierung in kurdischen Provinzen erklärt hat, verschärfen weiterhin die Notsituation, welche grundlegende Menschenrechte und Freiheiten in der Region, einschliesslich dem Recht auf Leben und persönliche Sicherheit, untergräbt. Insgesamt wurden seit dem 16. August 2015 in sieben Provinzen und 20 Landkreise fast 400 Tage Ausgangssperre verhängt. Verwundete Menschen werden in ihren Häusern mit Mörsergranaten beschossen und daran gehindert, ins Spital zu gehen. Im Oktober 2015 konnte eine Mutter in Cizîr aufgrund der Ausgangssperre ihre von den türkischen Sicherheitskräften getötete 12-jährige Tochter nicht beerdigen und musste sie daher im Gefrierfach aufbewahren.

Schluss mit der faschistischen Praxis der AKP-Regierung!

Während sich die AKP-Regierung weiterhin von der Verantwortung für die Massaker an ZivilistInnen in Cizîr mit der abgedroschenen Phrase vom «Kampf gegen den Terror» freispricht, sind wir erneut schockiert von den Nachrichten aus dem Bezirk Sûr der Stadt Amed (Diyarbak?r). Der historische Stadtteil, dessen Stadtmauer unlängst von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt wurde, steht seit dem 11. Dezember 2015 unter Ausgangssperre – das sind bei Redaktionsschluss 88 Tage!

In einem dringenden Aufruf erklärte die Demokratische Partei der Völker HDP: « Während der militärischen Angriffe gegen die eingeschlossenen ZivilistInnen in Cizîr hatten wir der internationalen Öffentlichkeit mitgeteilt, dass ihr Schweigen und ihre Gleichgültigkeit die AKP-Regierung und deren Sicherheitskräfte bei ihren ungesetzlichen und unmenschlichen Handlungen in kurdischen Städten stärken. Wenn die Weltöffentlichkeit ihre mächtige Stimme für den Schutz von Leben und Sicherheit der eingeschlossenen ZivilistInnen in Cizîr erhoben hätte, dann hätten wir heute vielleicht nicht hunderte von toten Körpern aus den Ruinen von Cizîr bergen müssen. Nun, am Beginn einer möglicherweise ähnlichen Tragödie, die im Bezirk Sûr droht, appellieren wir erneut an die internationale Gemeinschaft.»

Die AKP-Regierung mit ihrer Politik unter Einsetzung von Militär, Polizei und bewaffneten Spezialeinheiten und ihren Massakern an der mehrheitlich kurdische Zivilbevölkerung stellt seit dem Juli 2015 eine Bedrohung des Friedens dar. Es werden schlimmste Menschenrechtsverletzungen begangen. Die Bilder erinnern an die überwunden geglaubten Szenen aus den Neunzigerjahren, wo im Zuge der Vernichtungspolitik der türkischen Regierung gegen die KurdInnen über 4000 Dörfer zerstört, Frauen und Kinder verbrannt, massenhaft exekutiert und teilweise in Massengräbern geworfen wurden.

Das Schweigen Deutschlands

Obwohl die AKP-Regierung unter Führung Erdogans vor Augen der Weltöffentlichkeit Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, unterstützt die Bundesregierung Deutschlands das Vorgehen Erdogans mit neuen Geldern, die zur Kriegsführung eingesetzt werden. Dazu der Minister des Inneren Herr de Meziere (Monitor-Beitrag vom 04.02.2016): «Alle, die uns jetzt sagen, man muss die Türkei von morgens bis abends kritisieren, denen rate ich, das nicht fortzusetzen. Wir haben Interessen. Die Türkei hat Interessen. Das ist ein wichtiger Punkt. (…) Natürlich gibt es in der Türkei Dinge, die wir zu kritisieren haben. Aber die Türkei, wenn wir von ihr etwas wollen, wie, dass sie die illegale Migration unterbindet, dann muss man auch Verständnis dafür haben, dass es im Zuge des Interessenausgleichs auch Gegenleistungen gibt.»

Hoch die internationale Solidarität!

Wir Frauen können und wollen dazu nicht schweigen. Wir werden es nicht zulassen, dass die Menschlichkeit ermordet wird. Die Zeit ist gekommen, ein System, das uns alle gefangen hält, zu überwinden und mit ihm abzurechnen. Hinter den faschistischen, frauenfeindlichen Angriffen auf die kurdische Bevölkerung steht die Absicht des türkischen Staates und seiner Verbündeten wie der Terrororganisation IS, die kurdische Freiheitsbewegung und die dahinter stehende Vision auf ein freies Leben jenseits von staatlicher und patriarchaler Herrschaft zu zerschlagen. Wir stehen in der Verantwortung, unsere Organisierung, unseren Kampf und die internationale Frauensolidarität stärker zu entwickeln. Nur unter dieser Voraussetzung wird es gelingen, die Gewaltkultur im Allgemeinen und speziell jene gegen Frauen zu überwinden.

Wir begrüssen den historischen Widerstand der Frauen in Kurdistan, der im Gedenken an Sakine Cansiz, Ekin Wan, Seve, Pakize und Fatma und alle getöteten Frauen und Kinder geführt wird und rufen die Weltöffentlichkeit, und insbesondere die Frauen, dazu auf, ihre Solidarität mit dem demokratischen Widerstand des kurdischen Volkes, der im Namen der gesamten Menschheit geführt wird, sichtbarer zu machen.

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