Die gerechte Justitia, die unabhängig und neutral mit verbundenen Augen Recht spricht, gibt es nicht. So finden in der Schweiz praktisch täglich politische Prozesse statt, denn der Arm des «Strafrechtstaates» reguliert die unteren Klassen. Ein Interview mit Rechtsanwalt Marcel Bosonnet, der seit Jahrzehnten linke, politische AktivistInnen verteidigt.
Was genau ist unter einem «politischen Prozess» zu verstehen.
Eine allgemeingültige Definition des politischen Prozesses gibt es nicht. Die Anklage und das Gericht unterscheiden in Strafverfahren oft den Beschuldigten einerseits als privaten Widersacher, andererseits als einen Feind des Gemeinwohls. Ich würde deshalb alle jene Strafverfahren als politische Prozesse bezeichnen, bei denen das Gericht und der Justizapparat im Angeklagten einen politischen Feind wahrnimmt und entsprechend agiert.
Die Wahrnehmung und die entsprechende Einschätzung des Gerichts entscheiden, ob es ein politischer Prozess wird?
Ja, ganz genau, dieser Schritt ist ganz entscheidend! Das Gericht würde zwar nie und nimmer zugeben, dass es ein politischer Prozess ist. Es bezeichnet sich selber als unpolitisch, sprich gerecht, objektiv und unparteiisch. Falls aber das Gericht den Angeklagten als politischen Feind betrachtet und entsprechend einstuft, unterliegt er nicht mehr den gleichen Rechtsanwendungen wie andere Angeklagte, obwohl das gleiche Strafrecht angewendet wird. In solchen Verfahren sprechen wir JuristInnen vom «Feindstrafrecht», das zur Anwendung kommt. Es unterscheidet sich vom sonstigen Recht, obwohl – wie gerade erwähnt – formal die gleichen Gesetze angewendet werden. Bildlich gesprochen wird in einem solchen Prozess in einem Ausnahmezustand verhandelt.
Am besten lässt sich das am konkreten Beispiel des Verfahrens gegen die drei AnarchistInnen aufzeigen: Der Gerichtspräsident versicherte zwar, dass die Gesinnung der Beschuldigten beim Ausgang des Verfahrens keine Rolle spielt. Doch er selber ordnete gleichzeitig Massnahmen an, die den fundamentalen Bestimmungen eines fairen Verfahrens widersprachen und dem Beschuldigten eine wirksame Verteidigung erschwerten oder gar verunmöglichten. So wurde zum Beispiel die Befragung von wesentlichen Entlastungszeugen nicht zugelassen. Weiter wurden der Verteidigung Akten vorenthalten, die der Bundeskriminalpolizei und der Bundesanwaltschaft bekannt sind. Es handelt sich dabei offensichtlich um Geheimakten, die entlastend für die Angeklagten sein müssen. Denn wären die Akten für die Angeklagten belastend, würden sie sicherlich als Beweismittel im Sinne der Anklage vorliegen. In solchen Fällen ist es meine Aufgabe als Verteidiger, den politischen Charakter des Verfahrens aufzuzeigen und die Rechte einzufordern, die sonst allen anderen zugestanden werden.
Besonders ausgeprägt zeigt sich die politische Justiz zudem in Asylverfahren und gegen AusländerInnen. Ich glaube, in keinem anderen Teil des Strafrechts lässt sich dessen politischer Gehalt derart gut erkennen, wie im Ausländerrecht. Es beginnt mit der Unterscheidung EU-BürgerInnen und andere, nicht EU-BürgerInnen. Dann lässt sich klar erkennen, dass bereits ohne strafbare Handlung jemand während 18 Monaten in ein Gefängnis geschlossen werden kann, nur weil er nicht über eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz verfügt.
Du hast den Prozess gegen die drei AnarchistInnen erwähnt. Sie wurden kürzlich zu dreieinhalb Jahren verurteilt. Einen der drei Angeklagten hast Du verteidigt. Wie ist deine Einschätzung zum Prozess?
Diese drei Personen hat man bekanntlich bei einer angeblichen Verkehrskontrolle überprüft und verhaftet. In ihrem Fahrzeug befanden sich Sprengstoffutensilien und Bekennerschreiben hinsichtlich eines Anschlags auf das IBM-Nanotechnologiezentrum in Rüschlikon. Bis kurz vor der Anklage wurde in der Öffentlichkeit geltend gemacht, die drei Personen hätten versucht, das Nanotechnologiezentrum IBM in die Luft zu sprengen. Unmittelbar vor der Anklageerhebung wurde dieser Anklagepunkt fallen gelassen, denn er war nie gerechtfertigt. Er diente alleine dazu, in den Medien und in der Öffentlichkeit politische Stimmung zu erzeugen. Somit verblieben der Anklagepunkt des Besitzes von Sprengstoff und die Vorbereitung einer Brandstiftung. Die Schweiz ist das einzige Land in Europa, das bereits ein Verhalten bestraft, bevor überhaupt der Versuch einer Straftat begangen wurde. Die drei AnarchistInnen wurden somit auf Grund ihrer Überlegungen und nicht wegen dem Versuch, das IBM-Nanozentrum in die Luft zu sprengen, verurteilt. Und somit letztlich wegen ihrer politischen Gesinnung. Dies ist ein klassischer Ausdruck eines politischen Prozesses.
Gibt es zurzeit laufende politische Prozesse in der Schweiz?
Den kommenden Prozess gegen Andrea Stauffacher (Aktivistin des Revolutionären Aufbaus) ist offensichtlich ein politischer Prozess. Seit Jahren wird gegen Andrea durch die Staatsanwaltschaften, die Bundeskriminalpolizei und die Bundesanwaltschaft verschiedene Strafverfahren geführt. Dabei wurden alte Vorfälle bis zum Jahre 2002 durch die Bundesanwaltschaft wieder ausgegraben, die bereits durch die Staatsanwaltschaft Zürich eingestellt wurden. Vor Einreichung der Anklage beim Bundesstrafgericht hat die Bundesstaatsanwaltschaft das Strafverfahren in fast der Hälfte der untersuchten Fälle eingestellt. Wir werden in wenigen Wochen sehen, wie begründet diese Anklage ist und welche Ziele damit verfolgt werden.
Gerade aber auch in Prozessen, die ohne mediales Getöse durchgeführt werden, zeigt sich der politische Charakter des Strafprozesses. Zum Beispiel jenes Verfahren gegen eine peruanische Frau, die beschuldigt wurde, sich mehrere Jahre ohne Bewilligung in der Schweiz aufgehalten und bei verschiedenen Haushalten als Raumpflegerin gearbeitet zu haben. Sie wurde verhaftet, mit einer Strafe wegen illegalem Aufenthalt belegt und das Geld, das sie in all den Jahren verdient hatte, wurde ihr als illegaler Gewinn weggenommen. Sie wurde mit 5.00 Franken zurück in ihre Heimat abgeschoben. Oder ich denke auch an den Bauarbeiter, der aus gutem Grunde streikte und anschliessend wegen Nötigung verurteilt wurde. In einer Frage ausgedrückt: Sind nicht die Prozesse gegen Polizeibeamte, die AusländerInnen misshandeln und gleichwohl regelmässig von den Gerichten freigesprochen werden, Paradebeispiele für politische Prozesse, weil bei ihnen exemplarisch der Herrschaftscharakter des Rechts zur Erscheinung kommt? Es ist meines Erachtens ein grosser Irrtum zu meinen, nur die Prozesse gegen linksstehende Personen seien politische Prozesse.
Als Anwalt verteidigst du seit vielen Jahren politische AktivistInnen. Welche Entwicklung stellst du fest?
Früher brauchte es ein Verbrechen, um bestraft zu werden. Heute ist dies nicht mehr nötig, wie es das Ausländerrecht beweist. In der heutigen Zeit der sozialen Unsicherheit zielt das Strafrecht auf eine Neuausrichtung des Verhaltens all derer, die in prekären finanziellen Verhältnissen leben und somit am Rande der Gesellschaft. Nicht mehr der Arm des Wohlfahrtstaates, sondern der Arm des Strafrechtstaates reguliert die unteren Klassen. Dabei benutzt die bürgerliche Politik in der freien Marktwirtschaft das Gefängnis als eine Art Staubsauger zur Entsorgung des «Sozialmülls». So kann der Ausländer ohne Aufenthaltsbewilligung 18 Monate in ein Gefängnis eingesperrt werden, ohne dass er ein Delikt beging. Zunehmend werden Jugendliche ausgeschult und in Gefängnisse oder in gefängnisähnliche Institutionen eingesperrt. Neue Jugendgefängnisse werden gebaut. Sozialhilfebezüger werden im Hinblick auf allfälligen «Missbrauch» überwacht und allenfalls auch bei geringen Vergehen drakonisch bestraft.