«Wir haben nur unsere Würde»

Patrick Kane/Seb Ordoñez. Nach Jahren der Vernachlässigung, Ausbeutung und Diskriminierung begehrt die mehrheitlich afrikanischstämmige Bevölkerung der kolumbianischen Hafenstadt Buenaventura auf. Das wichtige Handelszentrum wurde mit Strassenblockaden lahmgelegt. Die Regierung antwortete mit Gewalt.

Die wichtigste Hafenstadt Kolumbiens, Buenaventura, befindet sich in einem unbefristeten Streik, um auf die systematische Vernachlässigung der mehrheitlich afrokolumbianischen Bevölkerung der Stadt aufmerksam zu machen. Die Proteste breiten sich in der Pazifikregion Kolumbiens weiter aus. Seit dem 16. Mai wurden wichtige Strassen für den Handel und Kommerz blockiert. Der Verkehr in und aus der Stadt war lahmgelegt, mit einigen abgesprochenen Ausnahmen, und auch praktisch alle Geschäfte blieben geschlossen. Die Beteiligung an den Streikaktivitäten schwellte in den ersten Tagen stark an und erzeugte eine fast festivalartige Atmosphäre. Um die Blockaden spielten die Menschen Fussball und Musik. Die zentrale Autobahn aus Buenaventura, eine der wichtigsten Handelsstrassen in Kolumbien, wurde von ländlichen indigenen und afrikanischstämmigen Gemeinschaften blockiert.

Ursprünglich hatten die OrganisatorInnen acht Blockaden auf den Hauptstrassen geplant, aber am Ende des ersten Tages waren geschätzte dreissig in der ganzen Stadt entstanden. Immer mehr Quartiere zogen eigene Strassenblockaden auf und zeigten damit klar ihre Unzufriedenheit mit der Situation in Buenaventura. Massenmärsche fanden statt; mit Gesang und traditioneller Musik zeigten die Leute Hoffnung und Entschlossenheit. Danelly Estupiñan von der Organisation Proceso de Comunidades Negras, die als eine der ersten im Streik aktiv war, sagte: «Heute, nach 30 Jahren institutioneller Gewalt und mörderischer Politik, erheben die Menschen von Buenaventura die Stimme, um zu erklären, dass wir nicht nachgeben. Egal, wie lange es dauert oder was es kostet, wir werden für unsere Rechte kämpfen.»

Militärische Attacke
Die Antwort des Friedensnobelpreisträger und kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos war grausam. Am 19. Mai ordnete er eine militärische Attacke gegen die Stadt an, in einer Operation mit Tausenden Kräften aus der Polizei, dem Militär und der Marine. Über die Stadt wurde ein Notstand mit Ausgangssperre ausgerufen. Die Stadt wird gegenwärtig von schwerbewaffneten Militäreinheiten und Einheiten von Ordnungskräften geflutet. Staatliche Kräfte setzten beinahe täglich Gummischrot und Tränengas gegen die DemonstrantInnen ein, um die Durchfahrt von Lastwagenkolonnen in und aus dem Hafen zu erzwingen. Trotz dieser Repression fanden Massenproteste gegen den Notstand statt, darunter ein Marsch von historischem Ausmass am 21. Mai, an dem über 150 000 Menschen teilnahmen. Derweil ist «Wir haben keine Waffen, aber wir haben unsere Würde» zum Slogan des Streiks geworden. Die Forderungen des Streiks umfassen die Errichtung eines Spitals, saubere und zuverlässige Wasserversorgung, Arbeitsplätze für ein würdevolles Leben und ein Ende der Umweltzerstörung in der Umgebung. Im Zentrum steht nicht zuletzt auch die historische Schuld Kolumbiens gegenüber der afrokolumbianischen Bevölkerung nach Generationen der Vernachlässigung, Ausbeutung und Diskriminierung.

Schockierende Armut
Durch den Hafen von Buenaventura passieren geschätzte 75 Prozent der Importe und Exporte Kolumbiens. Er generiert gewaltige Profite und einen grossen Teil der Steuereinnahmen des Landes. Der Reichtum, der durch die Stadt und die Hafeneinrichtungen zieht, bildet einen unbequemen Kontrast zur gesellschaftlichen Realität der Stadt. Die EinwohnerInnen leben in schockierendem Ausmass in Armut (80,6 Prozent) und Arbeitslosigkeit (68 Prozent). Es fehlt der Zugang zu den einfachsten Diensten und es herrscht eine stille Angst, die durch Jahre der Militarisierung, des bewaffneten Konflikts und paramilitärischer Gewalt entstanden ist. 2015 wurde das öffentliche Spital der Stadt geschlossen; für um die 400 000 Menschen gibt es nur noch die grundlegendste Gesundheitsversorgung. Sauberes Wasser und einfachste Sanitäranlagen fehlen vielerorts in der Stadt, obwohl es eines der wasserreichsten Gebiete der Erde ist. Zehntausende Kinder haben keinen Zugang zu Bildung. Nachdem es bereits 2014 zu Massenprotesten gekommen war, wurde die lokale Regierung aufgefordert, die Probleme anzugehen – die Versprechen blieben unerfüllt.

Rekord an Vertreibungen
Um den aktuellen Aufstand und die gewalttätige Reaktion der Regierung zu verstehen, ist es wichtig, die 17 Freihandelsabkommen, die Kolumbien bis heute vor allem mit den USA und der EU abgeschlossen hat, zu berücksichtigen. Ein gemeinsames Element davon ist die Ausweitung der Infrastruktur, um Güter und natürliche Ressourcen nach Kolumbien zu importierten und besonders zu exportieren. Die Entwicklungspläne für Buenaventura sehen eine gewaltige Expansion des Hafens vor. Ferner ist die Konstruktion einer kommerziellen TouristInnenzone geplant, die die Verdrängung eines grossen Teils der Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten verlangt. Seit der Jahrtausendwende terrorisierten paramilitärische Todesschwadronen die Quartiere und begingen schwerste Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Gewalt vertrieb Hunderttausende aus der Stadt und bescherte ihr einen Rekord an Vertreibungen beschert in einem Land mit der höchsten Zahl an Binnenflüchtlingen der Welt. Die paramilitärische Gewalt neben der Expansion des Hafens und anderen Entwicklungen sind kein Zufall, sondern stehen in Beziehung zu spezifischen ökonomischen Interessen, auch zu den Freihandelsabkommen.
Es fanden erste Verhandlungen statt zwischen dem Streikkomitee von Buenaventura und der Regierung. Trotz der militärischen Antwort auf ihre berechtigten Forderungen nach zwei Wochen Streik sind die EinwohnerInnen Buenaventuras mehr denn je entschlossen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. In den Worten des Komiteesprechers: «Sie haben so viel von den Menschen Buenaventuras genommen, dass sie unsere Angst genommen haben.»

Update:
Am 6. Juni haben die Regierung von Kolumbien und die Verhandlungsdelegation der Streikenden in Buenaventura ihre Einigung bekanntgegeben. Der Generalstreik ist offiziell für beendet erklärt worden. Zuvor hatte die Protestaktion 21 Tage lang die grösste Hafenstadt Kolumbiens am Pazifik lahmgelegt.
Es seien fortschrittliche Vereinbarungen erzielt worden, erklärte Víctor Vidal, Mitglied der fast ausschliesslich mit Afrokolumbianern besetzten Delegation. Er meint, dass nun erst der schwerste Teil des Protests beginne: Die Umsetzung und Überwachung der zugesagten Investitionen. «Wir haben wichtige Erfolge erzielt und vor allem innovative Massnahmen verhandelt, diese umzusetzen», sagte Vidal. Dazu gehört ein autonomes Vermögen, das rund 460 Millionen Franken umfasst und von der Region selbst verwaltet werden soll. «Damit wollen wir verhindern, dass die Gelder schon auf dem Weg nach Buenaventura verschwinden», so Vidal. Korruption sei eins der Hauptprobleme Kolumbiens.
Um der humanitären Notlage und der extremen Armut gerecht zu werden, wurden in den Vereinbarungen vor allem drei Punkte beschlossen: Verbesserung der Bildung, Zugang zu Trinkwasser und Gesundheitsversorgung. Mit einem gesetzlich verankerten Zehnjahresplan soll der Anschluss an sauberes Trinkwasser, Abwasser, Zugang zu Schulen und der Bau eines neuen Krankenhauses umgesetzt werden.

 

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