Frei mit Auflagen

Gaston Kirsche. Vier Monate und zwanzig Tage sass der in einem G20-Prozess angeklagte 18-jährige Fabio V. in Hamburg in Untersuchungshaft. Der eigentlich aus Italien stammende Jugendliche konnte am 27. November mittags das Gericht das erste Mal ohne Handschellen verlassen.

Unter lautem Applaus und ermunternden Zurufen zahlreicher ProzessbesucherInnen verliess Fabio V. etwas verlegen lächelnd nach der Verhandlung den Saal und ging zügig an das Ende des Gerichtsflures. Dort konnte er endlich seine aus Norditalien angereiste Mutter Jamila umarmen. Gemeinsam mit ihr verliess er umringt von Kamerateams vom «Norddeutschen Rundfunk» und dem italienischen «RAI» das Gerichtsgebäude. Bereits vor der Verhandlung war viel Italienisch zu hören gewesen, nicht nur bei Journalistinnen, auch von linken Aktiven. Die hatten vor dem Gerichtsgebäude eine kleine Begrüssung improvisiert, es wurde mit Prosecco angestossen, Jamila reichte ihrem Sohn Stücke von einem grossen Kuchen. Trotz des nasskalten Wetters war es eine fröhliche Runde, es wurden Parolen gerufen, viel fotografiert und gefilmt. Zum nächsten Gerichtstermin (nach Redaktionsschluss) wird Fabio V. nicht mehr aus der Untersuchungshaft vorgeführt, sondern aus der von seiner Mutter angemieteten Wohnung in Hamburg kommen.

Auflagen für Fabio
Nachdem die Staatsanwältin von Laffert mehrmals Widerspruch gegen eine Haftverschonung eingelegt hatte, konnte sich das Hamburger Oberlandesgericht erst am Freitag vor zwei Wochen dazu durchringen, eine Haftverschonung zu befürworten. Der fünfte Verhandlungstag am Amtsgericht Altona begann am 27. November mit den Nachfragen der Richterin Wolkenhauer, ob die Auflagen für die Haftverschonung denn erfüllt seien. Rechtsanwalt Timmermann hatte alle notwendigen Papiere parat und so zogen die vier Vorführbeamten ab, welche Fabio V. aus der Jugendstrafanstalt Hahnöfersand zum Amtsgericht gebracht hatten. Arne Timmermann hatte 10 000 Euro Kaution im Namen von Fabio V. hinterlegt, Fabio V. der Einsetzung seiner zweiten Rechtsanwältin Gabriele Heinecke als Zustellungsbevollmächtigter zugestimmt. Die Staatsanwältin tat sich hier einmal mehr mit einer kleinlichen Nachfrage hervor: Ob sie den auch unwiderruflich die Zustellungsbevollmächtigte sei?
Fabio V. bekam die Auflage, sich montags, mittwochs und freitags im Polizeikommissariat 25 in Gross Flottbek zu melden und in die von seiner Mutter in Hamburg angemietete Wohnung zu ziehen.

Nazi-Paragrafen
Da die Verhandlung wegen der Hinterlegung der Kaution durch den Rechtsanwalt erst verspätet beginnen konnte, war davor Zeit für Gespräche. «Dies ist der einzige G20-Prozess, den wir beobachten, wir halten ihn für beispielhaft», erklärte Michèlle Winkler gegenüber dem vorwärts. Sie ist als Prozessbeobachterin für das Komitee für Grundrechte und Demokratie vor Ort. «Insbesondere die Vorverurteilung in der Begründung des Oberlandesgerichtes Hamburg für die Fortführung der Untersuchungshaft vom Juli sehen wir sehr kritisch.» «Die Formulierung, Fabio V. hätte ‹schädliche Neigungen› stammt ja aus einem Paragrafen, der aus dem Nationalsozialismus kommt», so Winkler: «Das gerät jetzt zu Recht in die Kritik.» Ein Mitarbeiter des italienischen Konsulats aus Hannover beobachtet ebenfalls den Prozess, hat Fabio V. mehrmals in der Jugendstrafanstalt besucht, ihm Formulare übersetzt, damit er etwas beantragen kann im Gefängnisalltag. Der Konsul Giorgio Taborri erklärte letzte Woche gegenüber der norditalienischen Zeitung «Corriere delle Alpi»: «Wir beobachten die Prozesstermine, sind in ständigem Kontakt mit der Familie und besuchen V. im Gefängnis.» Der Konsulatsmitarbeiter erklärt auf Anfrage, ob Fabio V. denn seine Arbeit verloren hat: «Nein, der Arbeitsplatz in der Plastikfabrik wird ihm freigehalten, so sagt es der Firmeninhaber.» Aber: «Ich habe ihm allerdings geraten, doch lieber erst einmal die Schule abzuschliessen, bevor er wieder arbeitet.» Fabio habe ihm erwidert, damit beschäftige er sich jetzt nicht, jetzt gehe es um den Prozess.

Am ersten Gipfeltag
Der Prozess ist kompliziert, weil die Staatsanwaltschaft Fabio angeklagt hat, ohne dass ihm eine konkrete Tatbeteiligung an irgendeiner strafbaren Handlung nachgewiesen worden ist. Vorgeworfen wird ihm die Teilnahme an einer Spontandemonstration, bei der es am frühen Morgen des ersten Gipfeltages, dem 7. Juli, zu Steinwürfen auf Polizeibeamte gekommen sein soll: An der im Osten Hamburgs fernab vom Zentrum gelegenen Strasse Rondenbarg kam es um 6.30 Uhr am 7. Juli zu einem Zusammentreffen zwischen zwei Polizeieinheiten und einer Gruppe von etwa 200 Demonstrierenden, die vom einzigen erlaubten Camp des Gipfelprotestes in die Innenstadt aufgebrochen waren, um dort an den für diesen Tag geplanten Blockaden der Zufahrten zum Tagungsort Messegelände teilzunehmen. Was genau geschah beim Zusammentreffen der Polizeieinheiten und der Gruppe der 200, darüber gehen die Darstellungen weit auseinander. Unstrittig ist: Es gab 70 Festnahmen, darunter 15 Verletzte mit Arm- und Beinbrüchen. Einer der Festgenommenen ist Fabio V., sein Prozess ein Präzedenzfall für die anderen Angeklagten vom Rondenbarg. Und so ist es zwar sehr kleinteilig und streckenweise langatmig gewesen, wie Fabios Rechtsanwältin Heinecke am Montag den Zeugen Polizeihauptkommissar Jokschat aus Dithmarschen in Schleswig-Holstein befragte, der eine der beiden Einheiten führte.

Widersprüchliche Aussagen
Die erfahrene Anwältin schaffte es aber, dem Beamten Aussagen zu entlocken, die in eklatantem Widerspruch zu anderen Aussagen stehen: So erklärte der Beamte Jokschat, von Demonstrierenden seien sie mit «katzenkopfgrossen Steinen» beworfen worden, etwa 5×5 cm im Mass, während der Polizist Herr Elwert an einem früheren Prozesstag ausgesagt hatten, die Steine seien etwa 12×12 cm gross gewesen. Da die beiden Polizisten in unterschiedlichen Dienststellen arbeiten, konnten sie offensichtlich ihre Aussagen nicht abstimmen: Ein wesentlicher Vorwurf gegen die Demonstrierenden vom Rondenbarg, unter denen Fabio V. war, wird so unglaubwürdig. Auf die Vorhaltung, der Pförtner einer am Rondenbarg ansässigen Firma hätte mehreren Polizeibeamten Hausverbot erteilt, weil die sich auf dem Firmengelände brutal verhalten hätten, unter anderem indem sie einer Demonstrantin den Arm gebrochen hätten, weiss der Beamte Jokschat nichts zu sagen, ausser: Keine Ahnung. Konkret wird er nach mehreren Nachfragen an einem Punkt: Die Soko Schwarzer Block, welche gegen militante G20-AktivistInnen ermitteln soll, habe ihn gebeten, er möge in seiner Dienststelle darum bitten, dass sich Beamte als ZeugInnen melden, wenn sie etwas von dem angeblichen massiven Steinbewurf mitbekommen hätten und dazu aussagen könnten. Ergebnis: Keiner der 40 Beamten der Einheit von Polizeihauptkommissar Jokschat, die mit am Rondenbarg im Einsatz waren, kann einen Bewurf der Polizei durch die Demonstrierenden bezeugen. Keiner. Die Beweisaufnahme wird am nächsten Verhandlungstag, dem 4. Dezember fortgesetzt. Es wurden noch weitere sechs mögliche Prozesstermine festgelegt bis Ende Februar

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