Wir sind alle verdächtig!

sit. Auf gigantischen Druck der Versicherungslobby hat das Parlament das «Gesetz zur Überwachung von Versicherten» verabschiedet. Es ist ein Generalangriff auf die Privatsphäre von allen BürgerInnen, bei dem auch GPS-Peilsender und gar Drohnen eingesetzt werden können. Dagegen wurde das Referendum ergriffen, das auch von der Partei der Arbeit unterstützt wird.

«Haben Sie gewusst, dass neu Krankenkassen, AHV, IV oder SUVA die Versicherten mit Bild- und Tonaufnahmen im privaten Bereich überwachen dürfen? Selbst der Einsatz von GPS-Peilsendern, die an Fahrzeugen angebracht werden, und Drohnen ist erlaubt», fragt das Referendumskomitee auf ihrer Website. Ermöglicht wird dies durch das neue «Gesetz zur Überwachung von Versicherten», welches das Parlament im März im Eiltempo abgesegnet hat. Sybille Berg, Autorin und Mitstreiterin der ersten Stunde im Referendumskomitee, erklärt dazu: «Ab Morgen kann ein Spitzel vor ihrer Haustür sitzen. Es betrifft nicht die anderen! Sondern Sie!»

Orwells «Big Brother» lässt grüssen
«Das ist das erste offen verfassungswidrige Gesetz, das in der Schweiz erlassen wurde», weiss Philip Stolkin. Der Anwalt hat gemeinsam mit Sybille Berg und einer kleinen Gruppe von weiteren MitstreiterInnen das Referendum ergriffen. Stolkin bezieht sich in seiner Aussage auf Artikel 13 «Schutz der Privatsphäre» der Bundesverfassung, auf welche die BundesrätInnen bei Amtseintritt schwören müssen. Paragraph 1 hält fest: «Jede Person hat Anspruch auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihres Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs.» Und Paragraph 2: «Jede Person hat Anspruch auf Schutz vor Missbrauch ihrer persönlichen Daten.» Im krassen Widerspruch dazu steht das neue Gesetz. Erlaubt sind neu verdeckte Foto- und Filmaufnahmen nicht nur auf öffentlichem Grund, sondern auch an Orten, die «von einem allgemein zugänglichen Ort frei einsehbar sind». Konkret: Ein Detektiv darf den Garten, Balkon, Wohn- und Schlafzimmer überwachen, wenn diese von der Strasse aus einsehbar sind. Dabei reicht ein «begründeter Verdacht» der Versicherungen. «Damit erhalten private Firmen für die Überwachung mehr Rechte als die Polizei für die Observation von potenziellen Terroristen», schreibt das Referendumskomitee, denn nur gerade für den Einsatz von GPS-Peilsender und Drohnen ist eine richterliche Verfügung notwendig.
Unterstützt wird das Referendum auch von der Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS). Angefragt zum Grund, antwortet Gavriel Pinson, Präsident der PdAS: «Ich beantworte die Frage mit einer Gegenfrage und einer Feststellung: Wie weit sind wir noch vom ‹Big Brother›-Überwachungsstaat entfernt, der George Orwell in seinem Roman ‹1984› beschreibt? Mit dem neuen Gesetz werden die Versicherungen zu dem, was die allgegenwärtige ‹Gedankenpolizei› im Roman von Orwell ist.» Ja, der Roman aus dem Jahr 1948 sei allen mal wieder zur Lektüre empfohlen, insbesondere jener Generation, für die das Wort «Fichenskandal» ein Fremdwort ist.

Rollstuhl und High Heels
Doch warum überhaupt das neue Gesetz und warum wird derart gewaltiges Geschütz aufgefahren? Die Anzahl der Missbräuche kann kaum der Grund dafür sein. So belegen offizielle Zahlen, dass es sich beim Missbrauch um ein äusserst rares Phänomen handelt: Bei rund 220 000 Rentenbezüger-Innen konnte die IV im Jahr 2016 bei 650 Personen einen Missbrauch feststellen, das entspricht gerade einmal drei Promille (!) der Gesamtzahl. Weiter sagen die Zahlen, dass jede dritte Überwachung von IV-BezügerInnen unbegründet war.
Von Bedeutung ist vielmehr Folgendes: Der Einsatz von SozialdedektivInnen ist bekanntlich nicht neu und war bereits Praxis im Lande der Eidgenossen. Doch dann kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinem Urteil vom 18. Oktober 2016 zum Schluss, dass der Schweiz eine «klare gesetzliche Grundlage» für die Observationen fehle. Als Folge davon mussten die Versicherungen ihre SozialdedektivInnen zurückpfeifen, was ihnen gar nicht passte, und ihre Lobby begann ihre gewaltige Maschinerie in Gang zu setzen. Dazu gehört auch die bürgerliche Presse, die Einzelfälle von Missbräuche zu nationalen Dramen hochspielte, mit denen jetzt das Gesetz «gerechtfertigt» wird. Bestes Beispiel dafür ist die CVP-Nationalrätin Ruth Humbel aus dem Kanton Aargau. Stark ihres christlichen Glaubens sagte sie in der Ratsdebatte: «Am Hearing in der Kommission wurden uns unglaubliche Bilder gezeigt im Vergleich von medizinischem Befund und tatsächlichem Gesundheitszustand: Ein Mann, scheinbar auf einen Rollstuhl angewiesen, wurde wacker zupackend auf dem Bau gefilmt. Eine Frau konnte offiziell kaum gehen und stöckelte dann auf den Überwachungsbildern mit High Heels davon.» Die Versicherungslobby hat ganze Arbeit geleistet: Selten bis gar nie wurde in der Schweiz so rasch die nötige Stimmung in der Bevölkerung geschaffen und ein Gesetz so schnell durch das Parlament gepeitscht.

Auf in den Kampf!
Auf Rollstuhl und High Heels wird jetzt mit Kanonen geschossen. So geschieht genau das, was Dimitri Rougy auf Anfrage des vorwärts festhält: «Während das Parlament gegen unten tritt, lässt es die Grossen laufen. Die Halsabschneider, die in der Schweiz Milliarden von Franken an Steuern hinterziehen, haben kaum etwas zu fürchten. Wo das grosse Geld liegt, schaut das Parlament weg. Den Kleinen nimmt es noch die letzten Rappen weg.» Der Kampf gegen das neue Gesetz wird nicht einfach werden. Rougy: «Ich gehe davon aus, dass die SVP mit einer rassistischen und menschenfeindlichen Kampagne auffahren wird. Wir werden uns dagegen rüsten müssen. Und das tun wir bereits. Wir sind über 12 000 Menschen, die für den Rechtsstaat und unsere Grundrechte kämpfen werden. Und diesen Kampf wollen wir gewinnen!». Auf in den Kampf!

Referendum unterschreiben: pledge.wecollect.ch

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