Es braucht einen Aufstand des Gewissens!

Klaus Petrus. Auch mit 85 Jahren wird Jean Ziegler nicht müde, den Kapitalismus zu kritisieren. Sein neustes Buch «Was ist so schlimm am Kapitalismus? – Antworten auf die Fragen meiner Enkelin», handelt von einem Gespräch zwischen Ziegler und seiner Enkeltochter Zohra, die ihren Grossvater über den Kapitalismus gründlich ausfragt. Und Opa schöpft aus seinem riesigen Wissensfundus.

Jean Ziegler, in Ihrem neuen Werk geben Sie Antworten auf Fragen Ihrer Enkelin Zohra.
Ist das Buch eine Art Vermächtnis an die junge Generation?
Um Gottes willen nein. Vermächtnis, das klingt ja wie eine Grabesrede! Mein Buch möchte vielmehr eine Waffe in der Hand der Jungen sein, die aufstehen und gegen diese kannibalistische Weltordnung ankämpfen, die der Kapitalismus hervorgebracht hat. Wie die vielen tausend Jugendlichen, die jetzt an den Freitagsdemonstrationen teilnehmen. Sie sind unsere Hoffnung.

Diese Jungen kämpfen aber fürs Klima und nicht so sehr gegen den Kapitalismus.
Klar sind das nicht alles Revolutionär*innen. Aber sie erkennen, hinter der ökologischen Krise steckt ein System, und dieses System ist nur auf Profit aus. Als im März in der Schweiz die erste Klimademo stattfand, machte der Protestzug in Genf vor dem Gebäude der Credit Suisse halt. Eine junge Frau hielt eine flammende Rede und rief unter tosendem Applaus in ihr Megaphon: «Noyez les banquiers, pas la banquise!», «Ersäuft die Banker, nicht das Polareis!». Tatsächlich gehört die Credit Suisse mit der UBS zu den schlimmsten Banken, welche die Erdölförderung finanzieren – und damit die grösste Gefahr fürs Klima.

Die Demonstrierenden gehen auch mit der Politik hart ins Gericht.
Wie recht sie haben. Die Staaten machen bloss leere Versprechungen, das durchschauen diese jungen Menschen. Nehmen wir das Pariser Klimaabkommen von 2015, das 190 Staaten unterschrieben haben. Darin wurde zum Beispiel festlegt, dass bis 2030 die Erdölproduktion um die Hälfte reduziert wird. Und dass 35 Prozent des Reingewinns der grössten Konzerne, die mit Erdöl ihre Profite machen, in die Gewinnung erneuerbarer Energien fliessen sollen. Was ist passiert seitdem? Nichts, schlimmer noch: Die Erdölproduktion steigt weiter an. Und vom Reingewinn dieser Konzerne, der letztes Jahr 81 Milliarden US-Dollar betrug, gingen nicht einmal fünf Prozent in erneuerbare Energien.

In ihrem Buch beschreiben Sie, wie machtlos die Staaten gegenüber den Machenschaften dieser multinationalen Konzerne sind.
So ist es. Wir leben in einer Welt, die von Finanzoligarchen dominiert wird. Die 85 reichsten Milliardär*innen besitzen so viel Vermögenswerte aller in einem Jahr weltweit produzierten Reichtümer wie die 4,5 Milliarden ärmsten Menschen. Das muss man sich mal vorstellen. Diese Oligarchen haben eine Macht, wie kein König, kein Kaiser und kein Papst sie je hatte. Deshalb braucht es einen Aufstand des Gewissens, der von der Zivilgesellschaft kommt.

Uns interessiert, wie dieser Aufstand aussehen soll. Doch reden wir zuerst noch über Ihren Lieblingsfeind, den «schlimmen» Kapitalismus.
Sehen Sie, der Kapitalismus hat wunderbare Errungenschaften in Wissenschaft und Technik hervorgebracht, die dem Menschen zugutekommen und sein Leben erleichtern könnten. Zugleich hat er eine kannibalische Ordnung geschaffen: Überfluss für eine kleine Minderheit und mörderisches Elend für die grosse Mehrheit. So verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. Zwei Milliarden Menschen haben keinen regelmässigen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Alle vier Minuten verliert jemand das Augenlicht wegen Mangel an Vitamin A. Epidemien, die von der Medizin längst überwunden sind, töten Millionen Menschen in der südlichen Hemisphäre. Der Kapitalismus muss zerstört werden, bevor er uns zerstört.

Manche glauben, er lasse sich zum Wohle der Menschen reformieren?
Ein Kapitalismus mit freundlichem Antlitz? Das ist Unfug! Es ist wie bei der Abschaffung der Sklaverei: Lange Zeit war sie eine Utopie, verspottet von den Sklavenhalter*innen, Sklavenhändler*innen und Bankiers, die sie finanzierten. Und doch wurde sie durchgesetzt. Aber nicht, indem man die Sklaverei schrittweise reformierte oder zum Wohle der Sklaven «verbesserte», sondern indem man sie abschaffte. Das Gleiche gilt für alle Unterdrückungssysteme der Geschichte wie den Kolonialismus und Feudalismus. Keines war zu reformieren. So ist es auch beim Kapitalismus, er lässt sich nicht zähmen, er gehört abgeschafft. Und die junge Generation wird ihn zum Einstürzen bringen.

Wie sollen die Jugendlichen das tun? Bloss mit Demonstrieren?
Nein, aber das ist ein erster und wichtiger Schritt. Es geht darum, das Bewusstsein zu schärfen und Widerstand zu organisieren an allen Fronten. Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre schreibt: «Connaître l’ennemi! Combattre l’ennemi!» Zuerst müssen wir den Feind erkennen, wir müssen begreifen, wie die kannibalische Weltordnung funktioniert. Wenn der Chef des Bayer-Konzerns gegen alle wissenschaftlichen Belege behauptet, es gäbe keine Beweise dafür, dass das Pestizid Glyphosat Krebs erregt, dann muss man ihm seine Lügenmaske runter reissen und sich klar machen, dass er nur eines im Sinn hat, nämlich die Profitmaximierung seines Unternehmens. Die Jungen merken das, sie lassen sich nicht mehr hinters Licht führen. Sie erheben radikale Forderungen, denn sie wissen: Wenn nichts geschieht, ist unser Planet schon bald unbewohnbar. Es geht um Überleben oder Tod.

Gut: Zuerst den Feind erkennen und ihn dann bekämpfen. Aber wie?
Ich bin überzeugt: In einer Demokratie gibt es keine Ohnmacht. Wir haben Meinungsfreiheit und Bürgerrechte, die uns erlauben, alle Unterdrückungsstrukturen zu durchbrechen, wir können Kundgebungen abhalten und haben Zugang zu allen Informationen. Wir können nicht behaupten, wir wüssten nichts über die Massaker im Südsudan oder im Jemen oder darüber, wie gefährlich die Klimaerwärmung ist.

Wenn der Kapitalismus so mächtig ist wie Sie sagen: Schluckt er dann nicht auch den Protest der Zivilgesellschaft?
Das ist eine grosse Gefahr. Die Gesellschaftsform, die unser kollektives Leben dominiert und die durch und durch kapitalistisch ist, ist die Konsumgesellschaft. Sie pflanzt uns immer neue Wünsche ins Hirn, nach Kleidern, Handys, nach allem Möglichen. Solange die Kapitalist*innenen die Welt regieren, wird es schwierig sein, der Konsumgesellschaft zu entgehen. Die neoliberale Wahnidee will uns eintrichtern, dass sich der Markt selbst reguliert, dass er Naturkräften folgt und der Mensch nichts anders tun kann als sich diesen Marktkräften zu unterwerfen. Dadurch werden wir unserer Individualität beraubt, wir werden entfremdet. Wir verhalten sich nur noch so, wie uns das die Oligarchie diktiert und werden auf unsere Funktion als fremdbestimmte Konsumenten reduziert.

Kritiker*innen sagen, die Jugendlichen würden zwar gegen Ungerechtigkeit und fürs Klima demonstrieren, zugleich aber möchten sie nicht auf ihre Handys verzichten, hinter denen Kinderarbeit steckt, sie fliegen in die Ferien, essen Fleisch…
Wir – oder jedenfalls die meisten von uns Westeuropäer*innen – sind tatsächlich sehr privilegiert. Was uns von den Opfern trennt, ist ja bloss der Zufall der Geburt. Dieses Privileg verpflichtet uns, Verantwortung zu übernehmen. Jeder soll tun, was ihm möglich ist. Denken Sie an die Ernährung. Unser Fleischkonsum ist einer der schlimmsten Klimakiller. Noch vor ein paar Jahren wurden Leute, die sich vegetarisch oder vegan ernährten, belächelt. Heute ist das Gegenteil der Fall, die Wichtigkeit dieser Ernährungsform wird anerkannt.

Sie sind also optimistisch, dass die jüngere Generation das Steuer noch umreissen wird?
Absolut. Wir alle erleben ständig eine doppelte Geschichte. Die eine ist die effektiv gelebte Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeit ist, denkt man an Krieg, Hunger, Entfremdung, tatsächlich in Gefahr. Aber es gibt noch eine andere Gerechtigkeit, die unser Bewusstsein einfordert, und zwar in Gestalt der Hoffnung. Und dieses Bewusstsein schreitet stetig voran. Niemand kann es aufhalten. Der Revolutionär Che Guevara sagt: «Die stärksten Mauern fallen durch Risse.» Die Freitagsdemonstration unserer Enkel sind ein Vorbote dafür.

Und wann wird der Zeitpunkt gekommen sein für die Revolte, die den Kapitalismus zum Einstürzen bringt?
Genau dies ist das Mysterium der Inkarnation: Unter welchen historischen Bedingungen wird eine Idee zur sozialen Kraft, zur politischen Realität? Nun, wir wissen es nicht. Was wir aber wissen, ist: Es gibt diese rätselhafte Bruderschaft der Nacht, die schon jetzt am Werk ist, ich meine damit die planetarische Zivilgesellschaft, also unzählige soziale Bewegungen, Gewerkschaften, NGOs und Einzelkämpfer, die an ganz verschiedenen Fronten gegen die kannibalische Weltordnung ankämpfen und eine unbändige, kreative Kraft besitzen. Ihr Bewusstsein ist das Bewusstsein der Identität und der Solidarität: Ich bin der andere, und der andere ist ich. Immanuel Kant sagt: «Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.» Von einem bin ich fest überzeugt, und das fasst der französische Schriftsteller Georges Bernanos so zusammen: «Gott hat keine anderen Hände als die unseren.» Entweder wir ändern diese Welt oder sonst tut es niemand.

Jean Ziegler: Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin, C. Bertelsmann 2019, 23.90.Franken

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