Effekte statt Experimente

dab. Die zum ersten Mal vollständig online veranstalteten 42. Solothurner Literaturtage setzten das Programm der Privatisierung von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Problemen erfolgreich fort. Erinnerungen an politischere Zeiten und an Niklaus Meienberg, Journalist und Schriftsteller, der dieses Jahr 80 Jahre alt geworden wäre.

Monika Helfer gewann mit ihrem aktuellen Roman «Die Bagage» den Literaturpreis der Literaturtage 2020. Sie schreibt so, wie es Verlage, Medien und eine breite Leserschaft wünschen. Sie frönt der apolitischen Sensibilität und Innerlichkeit. Beschreibt im Roman Familienschicksale, moralische und gesellschaftliche Enge auf dem Land, Konkurrenz, Prüderie, Diskriminierung und Ausgrenzung zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Die etablierte Literatur, das machten die Online-Literaturtage einmal mehr sichtbar, meidet die heutigen, neuen Formen dieser Zustände in Stadt und Land. Politische Stoffe werden nur behandelt, wenn sie verjährt in der Vergangenheit liegen wie der Zweite Weltkrieg oder die Verfolgung der Fahrenden in der Schweiz. Man blendet öffentliche Auseinandersetzungen mit realen Widersprüchen aus, man beschäftigt sich viel lieber mit besser verkäuflichen Familiengeschichten, mit Persönlichkeitsentwicklung, Heimatsuche, Flucht aus dem Alltag, mit Emotionen, Atmosphären, Kriminalgeschichten und Frauenbiografien.

Phantasie und Fiktion
Auch Tom Kummer flüchtet in seinem neuen Roman «Von schlechten Eltern» in die Phantasie. Seine Hauptfigur, ein Chauffeur, ist nachts oft in der Diplomatenlimousine unterwegs. Kummer sagte an den Literaturtagen, er habe bei der Arbeit am Roman bei Tag die Schweiz gemieden, um sich ihr so nach langer Abwesenheit in den USA wieder zu nähern, er habe, ähnlich wie seine Hauptfigur, nächtliche Autofahrten im Berner Oberland und am Jurasüdfuss genossen. Der Berner Journalist und Autor Kummer verkauft ich schon lange als «Borderliner». Er ist bekannt für Plagiate, das Abschreiben von Abschnitten und Sätzen aus veröffentlichen literarischen und journalistischen Werken. Er mischt Fiktion und Realität, zum Beispiel indem er in früheren Jahren imaginäre Porträts von Hollywoodstars wie Brad Pitt oder Sharon Stone als reale Interviews verkaufte. Dabei geht es ihm um Stil, Originalität und das Punkten im verschärften Wettbewerb. Politisches Engagement ist kein Thema.

Roman als Königsdisziplin
Der Kulturbetrieb des beginnenden 21. Jahrhunderts ist eine Folge der neoliberalen Konterrevolution der Achtziger- und Neunziger Jahre. Die in Nischen praktizierten progressiven Lebens-, Gesellschafts-, Politik- und Wirtschaftsentwürfe gerieten damals unter starken neoliberal-neokonservativen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Druck und wurden exorziert. In den 1980er-Jahren wurde in den Medien und an den Literaturtagen den Schreibenden und dem Publikum eingebläut, doch nicht immer und überall Probleme zu suchen und herumzumäkeln, man wolle jetzt endlich spannende Geschichten erzählt bekommen. Die Romanform des 19.Jahrhunderts wurde zur Königsdisziplin gekürt. Historische Romane wie der von Jürg Weibel über den in den USA stinkreich gewordenen Schweizer «General» Johann August Sutter wurden freudig begrüsst. Experimente mit der Form waren «out», schrille Effekte «in». Hansjörg Schertenleib setzte in seiner Prosa auf Hingucker wie dicke alte Frauen auf schweren Motorrädern – und wurde mit Preisen überschüttet.

Energischer Rerchercheur
Niklaus Meienberg war einer der letzten in Journalismus und Literatur, die sich klar politisch äusserten und herkömmliche Formen und Stile aufbrachen. Er war ein brillanter und lustvoller Sprachwerker, der trotz Erfolg mit Reportagen, Prosa und Lyrik an den Widersprüchen, an der Arroganz des Bürgertums und der Gängelung der Linken durch das System scheiterte. Sein Engagement gegen den US-Golfkrieg von 1991 wurde nicht verstanden. 1993 mit 53 Jahren wählte er den Ausgang durch Suizid. Seine Auftritte bleiben in Erinnerung: Nicht nur seine wilden Haare, auch die bequeme Kleidung mit zerknitterten Hemden und ohne Reversjacke. Er schrieb nicht ohne Konflikte für WoZ, Tagesanzeiger und die damals noch linksliberale Weltwoche.

Präsenz und Brillanz
Bei Meienbergs Präsenz und Brillanz konnte ihm der eine oder andere Preis nicht verwehrt werden. Sogar seine Heimatstadt St.Gallen kam 1990 nicht darum herum, ihm den Kulturpreis zu verleihen. Obwohl er sich nicht scheute, die geistliche und politische Obrigkeit des Kantons und den St. Galler Repressions- und Fichierungsspezialisten im Bundesrat, Kurt Furgler (FDP), anzugreifen. Die letzte progressive Welle 1989, der hohe Ja-Anteil der Armeeabschaffungs-Initiative der GSoA und die Empörung über den Fichenskandal, stärkten ihm den Rücken. In seiner in der WoZ veröffentlichten Dankesrede zum Preis nimmt er Furgler und den St.Galler Freisinn aufs Korn.

Abverstrupfter Klosterschüler
Der Historiker erinnert sie darin an die freisinnigen Volksversammlungen am Ende des Ancien Regimes in den 1940er-Jahren des 19.Jahrhunderts, mit denen «dem Fürstabt von St.Gallen eine Art Verfassung abgetrotzt wurde.» Um sich nicht allzu fest ins Abseits zu begeben, vergleicht er die Bespitzelung und Fichierung mit Methoden der im Untergang begriffenen Deutschen Demokratischen Republik. Gleichzeitig ist ihm bewusst, dass er mit solchen Vergleichen das bürgerliche System lobt, das ihn und viele andere bespitzelt hat. In dieser Rede tritt er als Niklaus Meienberg II auf, das angriffige und für die Medien griffigere «Duplikat» des ungleich sensibleren «Originals» Meienberg I, einem «Herr im mittleren Alter», dem die Medienschelte («abverstrupfter Klosterschüler», «Nestbeschmutzer») gesundheitliche Störungen verursache.

Füsilierter Landesverräter
In der Schweiz und darüber hinaus zur Kenntnis genommen bis angefeindet wurde der Historiker lic. phil. Niklaus Meienberg bereits 1975 mit dem Band «Reportagen aus der Schweiz» mit acht klassenbewussten Texten über Zeitgenossen wie den Boxer Fritz Chervet, den Rennfahrer Jo Siffert, den innerrhodischen CVP-Ständerat Raymond Broger und den Arbeiter und «Landesverräter» Ernst S., der 1942 geringfügige Mengen Munition nach Deutschland verkauft hatte und dafür als Landesverräter hingerichtet wurde. Richard Dindo machte daraus den Dokumentarfilm «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.». Spionage und Feindkontakte waren damals nicht selten. Dazu der renommierte Historiker Edgar Bonjour: «Oben wurde pensioniert, unten füsiliert.»

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