Im Westen was Neues

In den neunziger Jahren übernahm der Westen die Arbeiten an der historisch-kritischen Gesamtausgabe der Schriften von Marx und Engels (MEGA). Trotzdem glauben viele, dass das Projekt nicht weitergeführt wurde. Ein Blick auf die Geschichte der beiden MEGA-Editionen. Aus dem vorwärts, der heute erscheint!

Der erste Versuch einer historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe wurde in den zwanziger Jahren von Dawid Borissowitsch Rjasanow, Leiter des Marx-Engels-Instituts in Moskau, unternommen. Das Projekt fand jedoch ein frühes Ende, da Rjasanow und weitere Mitarbeiter des Instituts der Stalin‘schen Säuberung zum Opfer fielen. So tragisch dieses Ende der ersten MEGA war, so symptomatisch war es. Bis zu Beginn der achtziger Jahre wurden immer wieder Veröffentlichungen von Texten, die mit dem offiziellen Bild kollidierten, durch Interventionen von sowjetischer Seite verhindert. Dass es trotzdem unter der Ägide der SED und KPdSU zu einer Neugründung des Projekts kam, gehört zu einem der grossen Widersprüche der poststalinistischen Politik. Riskierte man doch Gedankenmaterial zu Tage zu fördern, das mit der praktizierten etatistischen Herrschaftsform unvereinbar ist.

Bereits 1955 gingen erste Initiativen zur Fortführung oder Neugründung des Projekts vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU – IML Moskau – aus, die von Seiten des IML Berlin begrüsst wurden. Die Zusammenarbeitet der beiden Institute stagnierte jedoch kurz darauf, da die Führung der KPdSU die zweite russische Werkausgabe für ausreichend hielt. Ein anderer Grund für die Zurückhaltung mag gewesen sein, dass bei einem Neubeginn auch die Arbeitsmaterialien der alten MEGA aufgenommen, und ein Bereich erschlossen werden würde, den es offiziell nicht gab. Das Schweigen über die erste MEGA und ihr Ende, war eine der Bedingungen, mit welchen die MEGA2 letztlich erkauft wurde.

In den sechziger Jahren versuchte das IML Berlin das Projekt voranzutreiben, was ein längeres Ringen mit Moskau zur Folge hatte. Dabei stellte die sowjetische Seite die groteske Forderung, die MEGA2 dürfe keinen grösseren Umfang als die Lenin-Ausgabe aufweisen. Erst Anfang der siebziger Jahre mündete das Ringen in einem gemeinsamen Konzept, das im Dezember dem Politbüro der SED mitgeteilt wurde. Dabei konnte sich das IML Berlin in wichtigen Punkten durchsetzen, was das IML Moskau übergeordneten Parteiinstanzen noch lange Zeit nicht mitteilen konnte.

1972 erschien der erste Probeband der MEGA2. Die beiden Institute erhielten 120 Stellungnahmen aus verschiedenen Ländern, darunter auch aus den USA. Die durch den Probeband losgetretenen Diskussionen führten zu der nutzerfreundlichen Trennung von Text- und Apparatband. 1975 war es so weit und die ersten Bände der MEGA2 erschienen beim Dietz Verlag in Berlin. Noch im selben Jahr erschienen weiter Bände in allen vier Abteilungen. Leider stiess die MEGA2 auf wenig Resonanz in den gesellschaftswissenschaftlichen Fachzeitschriften der DDR. Die Editoren und Forscher der MEGA2 sahen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, nichts zur Parteipolitik beizutragen und sich bewusst in die Geschichte zurückzuziehen. Nach dem Fall der Mauer wurde dieses Argument in veränderter Form wieder aufgegriffen. Dieses Mal hiess es, der MEGA2 und ihren Editoren könne ja nichts passieren, da sie nichts mit der Politik zu tun gehabt hätten

 

Kampf ums Überleben

1990 schien es, als sei das Ende der MEGA2 gekommen. Die Umtaufung des IML Berlin in Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, konnte die MEGA2 ebenso wenig retten, wie die Konstituierung eines Teils der Marx-Engels-Abteilung als unabhängiger Verein.

Die rettende Initiative kam noch im selben Jahr aus Amsterdam. Auf Initiative des «Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis» wurde nach niederländischem Recht die Internationale Marx-Engels-Stiftung – IMES – gegründet. Ziel der Stiftung war es, die MEGA2 als vollständige historisch-kritische Edition der Veröffentlichungen, Handschriften und Korrespondenzen von Karl Marx und Friedrich Engels fortzuführen. An die IMES gingen die Herausgaberrechte über, und es traten ihr weiter Institution bei. Somit wurde in letzter Minute eine Trägerschaft gefunden, doch die Finanzierung stand noch in den Sternen. Die Konten der neu konstituierten MEGA-Stiftung wurden gesperrt, und deutsche Institute zur Forschungsförderung reagierten im Grossen und Ganzen ablehnend.

Nach zahlreichen privaten Initiativen von Forschern aus aller Welt, deren Höhepunkt ein von 1521 japanischen Wissenschaftlern unterzeichneten Aufruf darstellt, empfahl der deutsche Wissenschaftsrat die Aufnahme «dieser nach modernen historisch-philologischen Editionsprinzipien besorget Ausgabe» ins Program der deutschen Akademie der Wissenschaften aufzunehmen. Damit war die Fortsetzung aber noch keineswegs beschlossene Sache. Erst als eine internationale Kommission die bestehenden Bände begutachtete, und zu einem positiven Ergebnis kam, konnte ein Kooperationsvertrag zwischen der IMES und der Konferenz der DAW geschlossen werden. Diese verpflichtete sich, die weit fortgeschrittenen Bände abzuschliessen. In der Folgezeit konstituierten sich neue Arbeits- und Forschungsstellen im Umfeld der MEGA2 und es wurden neue Editionsrichtlinien beschlossen. 1993 konstituierte sich die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die der IMES beitrat, um das Akademievorhaben der MEGA2 zu betreuen. Neben der Akademisierung und Entideologisierung des Projekts, kam noch eine zweite Neuerung hinzu. Das Projekt wurde, unter Einhaltung des Vollständigkeitsprinzips, redimensioniert. Die MEGA2 war gerettet.

Die seit 1998 erschienen Bände und die hinter ihr stehenden Arbeiten, sind ebenso beachtens- und bewundernswert, wie die davor erschienen. Seit 2008 erscheint auch eine der MEGA2 folgende Edition in französischer Sprache. Die «Grande édition de Marx et d’Engels», oder kurz «La GEME».

Liebe und Kapitalismus

«Die Kunst des Liebens» von Erich Fromm ist ein Klassiker. Das Buch thematisiert Pseudo-Formen der Liebe und die wachsende Unfähigkeit des modernen Menschen, zu lieben. Ausgangspunkt ist die Psychoanalyse. Eingebettet sind Fromms Betrachtungen in die Kritik des Kapitalismus. Seine These: Wir gehen davon aus, dass wir Liebe nicht lernen müssen. Wir irren.

In einem Programm-Papier der PdA las ich unlängst, dass zwischenmenschliche Beziehungen im Kapitalismus korrumpiert seien. Ich stellte mir die Frage, was damit gemeint sei. Erich Fromm beantwortete diese Frage. Aber nicht hier und heute, sondern 1959. In seinem Klassiker «Die Kunst des Liebens» untersucht Fromm die Formen der Liebe und analysiert Pseudolieben und die Unfähigkeiten zu lieben. Ausgangspunkt für Fromm ist Siegmund Freud, den er gleichzeitig kritisiert. Die Liebe der Mutter zum Kind sei bedingungslos. Der Vater stelle – und das ist fraglich – seine Liebe zum Kind unter Bedingungen. Fromm kritisiert unser Verständnis von Liebe. Uns ginge es mehr darum, geliebt zu werden statt zu lieben. Ein Mann etwa, versucht durch Karriere im Beruf und einem guten Auskommen als attraktiv zu gelten, und damit als liebenswert. Frauen versuchen sich möglichst attraktiv zu kleiden, mit dem gleichen Ziel. Fromms These ist, wir gehen automatisch davon aus, dass wir Liebe nicht lernen müssen. Laut Fromm müssen wir sie aber lernen. Sie sei eine Kunst. Und wie jede Kunst ist sie lernbar. Fromms Buch ist kein Lehrbuch. Der Autor beschreibt, thematisiert, analysiert – mehr nicht. Vergegenwärtigen wir uns, dass – ich glaube – jede dritte Ehe inzwischen geschieden wird. Ist dies ein Scheitern der Liebe – oder war dort womöglich nie eine? Ist im Kapitalismus Liebe überhaupt möglich? Fromm sagt «Ja» und verweist gleichzeitig auf Autoren, die diese Frage verneinen. Der Humanist kritisiert unseren bis heute gültigen Begriff des Glücks: Wir blicken in ein Schaufenster, freuen uns über das, was wir sehen, kaufen es und konsumieren. Ähnlich, so Fromm, verläuft es mit der Partnerwahl. Attraktiv trifft auf attraktiv. Und was als attraktiv gilt, bestimmen Mode und der Zeitgeist. Oder wie Fromm es formuliert, gilt das als attraktiv, was «auf dem Personalmarkt gefragt ist». Fromm spricht von Tauschobjekten: Was werfe ich in die Waagschale und was bekomme ich zurück?

Ein Deal?

Liebe wird zum Deal. Fromm beschäftigt sich mit sadistischer und masochistischer Liebe, ebenso mit neurotischer Liebe. Welches Verhältnis wir zur Liebe entwickeln hängt auch davon ab, was uns unsere Eltern in frühester Kindheit und auch später vorgelebt, vorgeliebt haben. Aber was ist Liebe? Nach Fromm könnte sie eine Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz sein. Wir sind ein Teil der Natur, haben uns von ihr losgerissen, sie uns zum Untertan gemacht und können nicht zu ihr zurückkehren. Dieses Abgetrennt sein ertragen wir nicht wirklich. Fromm proklamiert jedoch nicht, zurück zur Natur, sondern vielmehr: der Mensch kann nur vorwärtsschreiten, in dem er seine Vernunft entwickelt. In der wachsenden Unfähigkeit der Menschen, ihre Nächsten zu lieben erblickt Fromm die Gefahr des Untergangs unserer Kultur. Er analysiert am Ende des Buches ein wenig die gesellschaftlichen Verhältnisse. Fromm nimmt Bezug auf Karl Marx, argumentiert mit der Entfremdung des Menschen. Er sieht in den Gruppen der Manager die eigentlich Herrschenden. Und dieses Buch ist wohl gemerkt nicht in unseren Tagen entstanden, sondern 1956. «Die Kunst des Liebens» ist sehr lesenswert. Weil es das Phänomen der Liebe im Zusammenhang mit kapitalistischen Verhältnissen und der Psychoanalyse betrachtet. Und wenn weder ersteres noch letzteres, so bleibt mittleres ein Thema für jeden Menschen. Marx und Freud hin oder her.

Erich Fromm: «Die Kunst des Liebens»
dtv-Taschenbuch
11. Auflage.
ISBN: 3423361026

Preis: ca. 14 Franken

Artikel aus dem vorwärts vom 23. Januar 2008