Wer eine anfasst, fasst alle an

sciopero_generale_04Es reicht: Lateinamerikanische Länder demonstrieren gegen Frauenmorde und Macho-Kultur. In Argentinien legten Tausende Frauen die Arbeit nieder.

Feminicidio (Femizid) ist in Lateinamerika nicht ein praxisferner Fachbegriff, sondern Realität. Die Anzahl der Morde aus Frauenhass ist gross. Die Nichtregierungsorganisation «Haus der Begegnung» zählte zwischen 2008 und 2016 beispielsweise allein in Argentinien 2094 registrierte Fälle. Sicher gibt es eine Dunkelziffer, zudem bleiben 98 Prozent der Gewaltverbrechen unaufgeklärt, so dass die Täter strafffrei bleiben. Man sagt, dass alle 30 Stunden in Argentinien eine Frau stirbt. In der Praxis sind alle Zahlen Menschen: Lucia Pérez, ein 16-jähriges Mädchen aus Mar del Plata, wurde in der Nacht vom 8. Oktober ermordet, vorher mit Drogen betäubt und vergewaltigt. Schlussendlich führten innere Verletzungen zum Tod.

Ein nationaler Frauenstreik

Das wird nicht mehr einfach so hingenommen: Am 19. Oktober demonstrierten nach dem Aufruf der Fraueninitiative #NiUnaMenos 100 000 Leute in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires gegen Feminicidio. Zwischen 13 und 14 Uhr wurde in 80 Städten die Arbeit niedergelegt und später fanden landesweit Versammlungen und Demonstrationen im öffentlichen Raum statt. Viele linke und feministische Organisationen forderten an diesem nationalen Frauenstreik Massnahmen für ein Ende der ökonomischen und sozialen Benachteiligung von Frauen sowie die Anerkennung der nach wie vor unbezahlten Haus- und Erziehungsarbeit. Die Benachteiligung der Frau im Allgemeinen ist einer der Mitgründe für die geschlechtsbezogene Gewalt.

Zwar gibt es in Argentinien seit 2012 ein Gesetz, das eine lebenslange Haftstrafe für Frauenmorde vorsieht. Doch es braucht zusätzliche Massnahmen. «Der Kampf für sexuelle und reproduktive Rechte ist einer der zentralen Schwerpunkte. Dazu gehört die Entkriminalisierung der Abtreibung und ein landesweit einheitlicher Zugang zum legalen Schwangerschaftsabbruch bei Vergewaltigungen oder bei Risiken für die Gesundheit der betroffenen Frauen oder Mädchen», meint Beat Gerber, Mediensprecher von Amnesty International Deutschschweiz.

Dies sind Forderungen, die immer mehr Gewicht erhalten, da sich neben einer grossen Masse auch bekannte Persönlichkeiten aus Kultur und Politik, darunter die Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und der Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel dafür stark machen. «Dass die Forderungen der Proteste in Argentinien auch strukturelle Gewalt und Anerkennung von unbezahlter Care-Arbeit beinhalten, begrüssen wir. Es zeigt, wie tief das Problem geht», sagt Milena Geiser von der feministischen Friedensorganisation cfd.

Eine Protestkultur entsteht

Neu sind Frauenmorde nicht, zumal es ohnehin eine hohe Anzahl von Gewaltopfern in lateinamerikanischen Ländern gibt. International bekanntgeworden sind diese spezifischen Morde unter anderem durch den Roman «2666» des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño. Grundlage für den Roman waren die Frauenmorde von Ciudad Juárez, einer seit mindestens Anfang der 1990er-Jahre andauernden Mordserie in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez. Was sich mittlerweile geändert hat, ist, dass sich AktivistInnen in grosser Zahl organisieren. In Peru demonstrierten im August 150 000 Menschen unter dem Motto «Wer eine anfasst, fasst alle an»; in diesem Jahr wurden bis im August bereits 54 Frauen getötet. Andere Länder ziehen mit. Auch Mexiko, wo je nach Angaben jeden Tag sieben Frauen getötet werden, konnte eine Protestkultur aufgebaut werden. In Kolumbien versammelten sich Frauen zu Kundgebungen in verschiedenen Städten – so auch in Venezuela, Brasilien, Uruguay, Paraguay, Bolivien, Chile, Honduras, Ecuador, Costa Rica, El Salvador und Guatemala. Trotz der Gesetzte, die – ähnlich wie in Argentinien – zum sogenannten «Schutz der Frauen» geschaffen wurden, ist die Gewalt nicht kleiner geworden. Es ist ein kultureller Wandel nötig, um dies zu verändern.

Lateinamerika wacht auf und setzt sich gegen den Machismo zunehmend zur Wehr. Das ist bitter nötig; denn die Morde sind nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was sich in den Haushalten abspielt.

Kurzinterview mit Dr. Adrian Herrera von der Universität Köln.

Warum passieren in Lateinamerika und in Argentinien eine so hohe Zahl an Femicidios?

In der lateinamerikanischen Kultur ist es nicht selten, dass Frauen nur als passive Sexobjekte betrachtet werden. Auch Witze über Frauen, in denen sie zumeist als «dumm» dargestellt werden, sind nicht selten. Dazu kommt auch die unterwürfige Rolle, die ihnen der in vielen Ländern stark ausgeprägten Katholizismus zuschreibt. In einer Gesellschaft, in der Frauen sich immer mehr emanzipieren – Gewalt gegen sie ist ein horrender Ausdruck von Macht –, ist das eine Art und Weise, um ihnen zu sagen: «Vergiss nicht, wo du hingehörst!» Gleichzeitig kommen in Lateinamerika immer mehr Frauen an Machtpositionen – das ist ein grosses Paradoxon.

Warum organisiert sich ausgerechnet jetzt eine so grosse Zahl an AktivistInnen?

Es gibt natürlich immer Auslöser, die zu Massendemonstrationen führen, wenn die Gesellschaft sich besonders erschreckt und berührt fühlt – die grausame Gewalt gegen diese 16-jährige Teenagerin ist mit Sicherheit nicht ein isolierter Fall, aber indem er bekannt wurde, haben AktivistInnen entsprechend reagiert. Ausserdem darf man nicht vergessen, wie aktiv die argentinische Gesellschaft ist, wenn es darum geht, Menschenrechte zu verteidigen.

Aus dem vorwärts vom 4. November 2016 Unterstütze uns mit einem Abo.

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