Wenn der Stammtisch die Asylpolitik bestimmt

Ist es die schiere Angst vor dem «schwarzen Mann», welche die aktuelle Stammtischpolitik im Asylwesen prägt? Zur enthemmten Debatte im Nationalrat.

Mitte Juni hatte der Nationalrat über die Asylgesetzrevision beraten und die Vorlage von Bundes- und Ständerat noch weiter verschärft. Massiv. Unverfroren. Von der Realität ein grosses Stück entrückt. Die Beschlüsse des Nationalrats kamen einer eigentlichen Zerlegung des Asylrechts gleich: Hier das Familienasyl streichen, da Internierungslager bauen, dort Botschaftsverfahren abschaffen. Sachliche Auseinandersetzungen? Man vermisste sie schon im Vorfeld der Debatte und erst recht im Rat selber. An ihre Stelle traten individuelle Profilierungssucht und Selbstdarstellung, jederzeit legitimiert durch das Bedürfnis, im Namen des Volkes «ein Zeichen zu setzen». Assistiert von einer mehrheitlich desinformierten wie mutlosen «Mitte» spielten SVP und FDP erfolgreich ein altbekanntes Spiel: Je dreister die Forderung, desto schärfer der spätere Konsens. Nothilfe für alle? Der Ständerat wird es wieder drehen, die Linke diese Rolle rückwärts als Erfolg feiern und die Rechte hat somit, was sie will: den ganzen Rest. Angesichts der enthemmten Debatte wurde es selbst manchem Journalisten Bange. «Ein unheimliches Gefühl, wenn es durch das Parlament schallt wie am Biertisch», schrieb Renato Beck in der «Tageswoche». Der Schriftsteller Lukas Bärfuss schrieb im «Tagesanzeiger» von «Schande» – was bei einigen Mitte-ParlamentarierInnen immerhin das Bedürfnis nach Rechtfertigung weckte. Das an Boshaftigkeit grenzende Bedürfnis nach diesem «Zeichen», das man so dringend setzen muss, das blieb jedoch bestehen. Und weitet sich aus. Weshalb aber will der nationalrätliche «Stammtisch» eigentlich ein Zeichen setzen? Gemäss dem Empfinden der «Volksseele» und einem Teil der Medien scheint die Situation im Asylwesen schon lange komplett ausser Kontrolle.

Vorbeigeschossen

Die Ursachen für dieses Empfinden liegen auf der Hand. Seit Anfang 2011 gestiegene Asylgesuchszahlen führen zu einem anhaltenden Unterbringungsengpass im Asylbereich. Aus dem Unterbringungsengpass resultiert indirekt eine erhöhte physische Präsenz von Asylsuchenden im öffentlichen Raum. Ein Grossteil dieser Asylsuchenden sind junge afrikanische Männer, von denen einige wenige für einen Anstieg vorwiegend kleiner Delikte verantwortlich zeichnen. Jede solche Handlung wird von einem Grossteil der Medien bereitwillig skandalisiert. Die pauschale Schlussfolgerung daraus ist fatal, sie lautet: Junge Männer aus Afrika missbrauchten unser Asylsystem, übervölkerten unsere Plätze und begingen Straftaten; da ihre Asylgesuche überwiegend negativ behandelt werden, könnten sie gar nicht «echt» sein; ergo sei die Schweiz für Asylsuchende zu attraktiv, habe dementsprechend zu viele Asylgesuche und nicht einmal mehr Platz für «echte» Flüchtlinge. Deshalb erscheinen alle nur erdenklichen Massnahmen gegen solch «unechte» Asylsuchende legitim: sowohl diejenigen, die der Nationalrat neu im Gesetz verankern will als auch jene, mit denen die Kantone sich aktuell hervor tun: Die Einführung von Rayonverboten und Eingrenzungen für «kriminelle» Asylsuchende in Kreuzlingen und im Kanton Zürich; Eine Ausgangssperre und eine generelles Handyverbot für Asylsuchende in der Stadt Luzern. Oder die Erfassung der DNA-Profile aller Asylsuchender, wie das der jurassische Polizeichef fordert. BFM-Chef Mario Gattiker propagiert im «SonntagsBlick» kurz und bündig: «1. Handy-Verbot! 2. Ausgangssperre! 3. Knast!».

Das wahrhaft Bedenkliche an all diesen Strategien, Massnahmen und Verschärfungen ist ihre Unreflektiertheit. Zum einen treffen diese Massnahmen nicht nur jene Asylsuchenden, die als kriminell gebrandmarkt werden, sondern auch alle anderen. Die Delikte einiger weniger, auch wenn es grossmehrheitlich geringfügige sind, sollen als Legitimationsbasis zur breit enthemmten Verschärfungspolitik dienen. Zum anderen basiert die Politik der Zeichensetzung auf einigen nur schwer haltbaren Aussagen und bewussten Falschanalysen. Was bisher ein typisches Mittel rechtspopulistischer (Migrations-)Politik war, findet derzeit bis hinein in die rechte Hälfte der Linken Anklang. Dass dabei die (vorgegaukelten) Ziele der laufenden Asyldebatte aus dem Blickfeld geraten, versteht sich fast von selbst. Die im Juni gefällten Beschlüsse des Nationalrates kommen einem Schrotflintenschuss im Halbdunkeln gleich: man trifft willkürlich alles ein bisschen. Mit seriöser Asylpolitik hat das nichts mehr zu tun.

Ein Frontalangriff ist nötig

Es zeichnet sich heute ab, dass das Machtspielchen der politischen Rechten auch im Ständerat einmal mehr aufgehen wird. Der «politische Köder» der «Nothilfe für alle» wurde der Linken hingeworfen und sie hat sich darauf gestürzt. Es droht das eingangs erwähnte Szenario, dass sich die politische Linke von einem Scheinerfolg blenden und eine Asylgesetzrevision, die schärfer, umfassender und weitgreifender als die letzte ist, ohne adäquates Gegenrezept passieren lässt. Gegen die letzte Revision wurde vor acht Jahren das Referendum ergriffen. Heute scheint dies aus verschiedenen Gründen weder opportun noch ausreichend. Auf eine derart enthemmte politische Debatte, wie wir sie im Juni 2012 im Nationalrat erlebt haben, kann statt einer Reaktion nur ein Frontalangriff erfolgen. Ein umfassender Gegenentwurf muss her. Solidarité sans frontières wird ihn in Angriff nehmen.

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