MuslimInnen unter Generalverdacht

Kein-Mensch-ist-illegal (1)In Bern demonstrierten am 20. November rund 200 Personen durch die Innenstadt. Die Kritik richtete sich zum einen gegen den antimuslimischen Rassismus. Zum andern wurde dagegen demonstriert, dass derzeit Ähnliches geschieht wie nach dem 11. September 2001. Kein Tag vergeht, ohne dass MuslimInnen, Geflüchtete und Terror in einem Atemzug genannt werden. Das ist eine herabsetzende Gleichung. Der Sicherheitswahn nimmt zu, Geheimdienste erhalten uneingeschränkte Kompetenzen, Grundrechte werden ausgehebelt. Die Demonstration führte vom Bahnhofplatz zum Bundesplatz, wo kurz vor dem Lichtspiel die untenstehende Rede gehalten wurde. Danach marschierte der Protestzug zum Casinoplatz. Über den Bärenplatz ging es zurück zum Bahnhofplatz.

Grundrechte ausgehebelt

Antimuslimischer Rassismus funktioniert wie jeder Rassismus. Menschen werden gespalten in ein sogenannt zivilisiertes «Wir» und einen minderwertigen Rest. So wird MuslimInnen nachgesagt, sie seien fundamentalistisch, sexistisch, kaum aufgeklärt oder eine Gefahr für die sogenannte abendländische Kultur. Im Wir, von dem seit den Anschlägen in der Öffentlichkeit die Rede ist, erkennen wir uns nicht. Unser Wir ist ein anderes. Eines, das Kapitalismus, Rassismus und Sexismus nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen will. Unser Wir will Freiheit, aber keine, die sich mit Maschinengewehren verteidigt.

Terroristische Anschläge sind tragisch, wir betrauern die Toten in Kano, Paris, Ankara, Beirut und Kobane. Europas etablierte Politik reagiert mit Solidarität, aber auch mit Rassismus und Spaltung zwischen «Europa» und «dem Rest der Welt», zwischen MuslimInnen und Nicht-Muslimen.

Zum Beispiel werden MuslimInnen auf der Strasse angegriffen oder beschimpft. Öffentlich wird Islam mit Terror in einem Atemzug genannt. Unter diesem Vorwand wurden die totale Überwachung verstärkt und Grundrechte ausgehebelt. Die Antiterrorwelle trifft in der Schweiz alle Geflüchteten und MuslimInnen. Unter dem Vorwand, es könnten sich unter ihnen potenzielle TerroristInnen verstecken, wird die Militarisierung der Grenze und gar ein Ausgehverbot für MuslimInnen gefordert. Parallel dazu geben die Migrationsbehörden bekannt, dass sie Asylgesuche von Personen aus muslimischen Staaten unter Generalverdacht stellen und diese zur Prüfung jeweils dem Nachrichtendienst weiterreichen.

«Wir werden unsere Freiheit mit allen Mitteln verteidigen», das waren Sommarugas Worte als sie am Mittwochnachmittag bekanntgab, dass sich die Sicherheitslage in der Schweiz verschlechtert habe und über ein Notstandsrecht nachgedacht werden müsse. Was meint sie mit «unsere Freiheit»? Die Freiheit der MuslimInnen, die in diesem Land und weltweit unterdrückt, stigmatisiert und ausgebeutet werden? Wohl kaum! Sommaruga treibt einen Keil zwischen ChristInnen und MuslimInnen, zwischen SchweizerInnen und MigrantInnen.

Der Rassismus braucht diese Spaltung. Er lebt von einer Spaltung in der Gesellschaft in einen «muslimischen» Kulturkreis, welcher als rückständig, fundamentalistisch, barbarisch, unzivilisiert beschrieben wird und «unserer abendländischen Kultur», welche im Gegensatz dazu aufgeklärt, zivilisiert und demokratisch sei. Wo früher mit «Rasse» argumentiert wurde, muss heute «Kultur» als Erklärung herhalten. Das Prinzip bleibt aber das gleiche: Menschen werden aufgrund von Eigenschaften eingeteilt und entsprechend privilegiert oder herabgesetzt.

Rede auf dem Bundesplatz

Die Attentate von Paris, die mehr als 120 Frauen und Männern das Leben kosteten, machen fassungslos und traurig. Wir sagen Nein zu Terror, der das Leben von Menschen zerstört. Wir sagen Nein zu Gewalt, der Menschen zum Opfer fallen. Nichts kann diese Zerstörung rechtfertigen. Letzte Woche traf es Paris. An vielen anderen Tagen trifft es Menschen in Syrien, im Libanon, in der Türkei und anderswo.

Wir sagen aber ebenso heftig Nein zur Instrumentalisierung islamistischer Gewaltakte, um Menschen muslimischer Zugehörigkeit zu diskriminieren. Wir sagen Nein zu einer Asylpolitik, die nach Religion, Herkunft oder Kultur unterscheidet. Wir sagen Nein zu einer Flüchtlingspolitik, die zwischen ChristInnen und MuslimInnen unterscheidet. Wir sagen Nein zu einer Sicherheitspolitik, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Namen der Verteidigung der Demokratie abschafft. Wir sagen Nein zu einer sogenannten Kulturdebatte, die MuslimInnen und andere Menschen als unaufgeklärt, mittelalterlich, demokratiefeindlich abwertet. Wir sagen Nein zu einer sogenannten Wertediskussion, die MuslimInnen den Wunsch nach Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit abspricht. Wir sagen Nein zu einer Integrationspolitik, die MuslimInnen und andere sogenannte MigrantInnen unter Generalverdacht stellt, demokratieschwach und gewaltbereit zu sein. Wir sagen Nein zu einer Spaltung der Gesellschaft in sogenannte SchweizerInnen und Nicht-SchweizerInnen. Wir sagen Nein zu zu einer Spaltung zwischen sogenannten Religiösen und Nichtreligiösen. Wir sagen Nein zu einer Spaltung zwischen Menschen in relativer Sicherheit und Menschen auf der Flucht. Terror und Gewalt kennen keine Religion, keine Kultur und keine Hautfarbe.

Demokratie ist kein kulturelles Gut, das nur Schweizerinnen, Europäern zusteht. Menschenrechte sind kein kulturelles Gut, das nur Schweizerinnen und Europäer schützt. Grundrechte sind kein exklusives Gut, das Menschen auf der Flucht vorenthalten werden kann. Grundrechte sind kein exklusives Gut, das Menschen mit anderer Hautfarbe vorenthalten werden kann. Grundrechte sind kein exklusives Gut, das Menschen mit anderer Nationalität abgesprochen werden kann.

Wir fordern Grundrechte für Menschen auf der Flucht. Wir fordern gleichberechtigte soziale Teilhabe für Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund. Wir fordern Solidarität mit allen Opfern von Terror. Egal wo dieser stattfindet. Wir fordern ein klares Bekenntnis zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle Menschen. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit unterscheidet nicht zwischen Religion, Kultur und Hautfarbe.

 

Aus dem vorwärts vom 4. Dezember 2015. Unterstütze uns mit einem Abo!

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