Personenfreizügigkeit und Ausschaffung

abgelehntVielen ist noch unbekannt, dass die Schweiz nicht nur Asylsuchende, sondern auch europäische ArbeitsmigrantInnen des Landes verweist. Diese Praxis steht in Spannung zum neuen EU-Recht und wird in Zukunft wohl vermehrt zu Konflikten führen. Der Fall einer portugiesischen Arbeitsmigrantin, die sich gegen ihre Ausschaffung wehrt, wird zur Zeit im Bundesgericht behandelt.

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Im 2006 hat die stimmberechtigte Bevölkerung das neue Ausländergesetzt angenommen. Es regelt unter anderem die Einreisebestimmungen für ArbeitsmigrantInnen aus den EU-Ländern. Seit Inkrafttreten des neuen Gesetzes sind die Sozialämter verpflichtet, sozialhilfeabhängige ArbeiterInnen den Migrationsämtern zu melden. Damit hat sich die Wegweisungspraxis der Kantone verschärft. Bezieht jemand mit einer B-Bewilligung Soziahilfegelder in der Höhe von mindestens 25 000 Franken, prüfen die Migrationsämter die Rücknahme der Aufenthaltsbewilligung und somit die Ausschaffung der betroffenen Person.

Das Migrationsamt des Kanton Zürichs hat laut einer kürzlich erschienen Statistik seit Anfang 2012 30 arbeitslose MigrantInnen mit einer B-Bewilligung ausgeschafft, davon stammten 14 aus dem EU- und Efta-Raum.

Streitfall vor Bundesgericht

Die Debatte wird in den bürgerlichen Medien oft als «administrative» Umsetzung der Rechtsprechung geführt. Die aktuellen bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU stehen in Spannung zum neuen EU-Recht. Denn dieses sieht vor, dass den migrantischen ArbeiterInnen nach fünf Jahren ein Daueraufenthaltsrecht zu erteilen ist, das nicht mehr an die ursprünglichen Bedingungen geknüpft ist. In der Schweiz sollten also laut EU-Recht nach fünf Jahren alle Personen mit B-Bewilligung eine Niederlassungsbewilligung (C-Bewilligung) erhalten. Das aktuelle Freizügigkeitsabkommen erlaubt jedoch, die Verlängerung der ersten fünfjährigen Aufenthaltsbewilligung (B-Bewilligung) eineR migrantischen ArbeiterIn auf ein Jahr zu befristen, wenn sie bzw. er arbeitslos ist. Im Bundesrat laufen die Auseinandersetzungen um die Anpassung der bestehenden bilateralen Verträge ans EU-Recht. Ob und wann dies konkret wird, ist offen.

Das Bundesamt für Migration (BFM) strebt jedoch in der aktuellen Situation einen Präzedenzfall an und zieht den Fall einer alleinstehenden arbeitslosen Portugiesen ans Bundesgericht weiter. Der Frau wurde wegen Sozialhilfebezugs die Aufenthaltsbewilligung entzogen. Dagegen hat sie Beschwerde eingereicht und diese wurde vom kantonalen Verwaltungsgericht gutgeheissen. Bestätigt auch das Bundesgericht dieses Urteil, müssen die Kantone ihre Ausschaffungspraxis von ArbeiterInnen mit B-Bewilligung anpassen.

Eine politisch brisante Frage

Im Kontext steigender Langzeitarbeitslosigkeit in Europa, der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU und der Konflikte um gewerkschaftsfeindliche Entlassungen in der Schweiz (vgl. Seite 3) gehen Fragen der Ausschaffung von Arbeitsmigrant-Innen über den «administrativen» Charakter hinaus. Die Prognosen für die EU-Länder, aus denen viele ArbeitsmigrantInnen in die Schweiz einreisen, sind alles andere als rosig. In Spanien ist kaum eine Verbesserung der Lage zu verzeichnen. Rezession und hohe Arbeitslosigkeit dominieren auch die sozioökonomische Entwicklung in Portugal. Und in Italien dauert der sozioökonomische Restrukturierungsprozess an, Sinnbild dieses Prozesses ist der Wandel der Arbeitsbeziehungen, der in Anlehnung an den FIAT Chef als «Marchionne System» bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um die Ausschliessung gewerkschaftlicher VertreterInnen, die sich gegen ökonomische Restrukturierungen wehren.

Heute fungieren die südeuropäischen ArbeitsmigrantInnen also als «industrielle Reservearmee» für die «strukturell starken» Ökonomien Nordeuropas (u.a. Deutschland, Schweiz). Sie dienen als Manövriermasse und als Instrument der Durchsetzung von Lohn- und Sozialdumping. Eine Antwort auf diese Entwicklungen kann weder in der Aufkündigung der bilateralen Abkommen (zum Beispiel in der Form der Einwanderungsinitiative der SVP) liegen, noch ausschliesslich auf intensivere Arbeitsmarktkontrollen (wie von einigen Gewerkschaften und linken Parteien gefordert) basieren. Einzig die Verbindung der Lohnabhängigen, der Erfahrungsaustausch ihrer individuellen und kollektiven Mobilisierungen über Staat und Nation hinaus und auf der Basis ihrer Klassenzugehörigkeit können die Rechte aller Lohnabhängigen stärken.

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