Die Mär vom Fortschritt

René Arnsburg. Der Kapitalismus hat seine Fähigkeit zur grundlegenden Erneuerung verloren. Er bremst den Fortschritt insgesamt aus und zerstört die Lebensgrundlagen der Menschheit.

Zur Zeit wird viel über eine vermeintliche vierte industrielle Revolution (Industrie 4.0) gesprochen. Die vorgebrachten Argumente sind dabei nicht so neu, wie man meint. Die Vorstellung eines intelligenten Computers reicht zurück bis zu Alan Turing (1912 bis 1954) und dessen Idee einer lernfähigen Maschine.

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Ein Krieg gegen den Planeten

Agnès Rousseaux / Sophie Chapelle. Das Klima wandelt sich immer stärker, die Folgen sind Naturkatastrophen, Dürren und Hunger. Die kanadische Aktivistin Naomi Klein erklärt, warum das Kapital keine Hilfe ist beim Kampf gegen den Klimawandel und warum es eine antikapitalistische Antwort braucht.

Wir gehen möglicherweise direkt auf eine Klimakatastrophe zu. Wir wissen, was geschehen wird, wenn wir nichts dagegen tun, aber es wird kaum etwas unternommen. Warum ist das so?
Naomi Klein: Es ist nicht so, dass gar nichts getan wird – aber wir tun genau das Falsche. Wir haben ein Wirtschaftssystem, das Erfolg und Fortschritt als endlose wirtschaftliche Expansion begreift.

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Taumel der Westeuphorie

dab. Die Berlin-Blockade und die Luftbrücke 1948/49 sowie der Fall der Mauer 1989: Die publikumswirksamen Inszenierungen dieser Ereignisse in allen Medien befeuern bis heute das Freiheitsgefühl und den Antikommunismus einer konsum- und wettbewerbstrunkenen Gesellschaft und Politik.

Der Fall der Mauer, Deutschland erinnert sich etwa so an den 9. November vor 29 Jahren: Die Mauer fällt, die Schlagbäume gehen auf, alle lieben sich und teilen den Taumel der Westeuphorie.

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Der allgegenwärtige Antisemit

Moshe Zuckermann

Tierrechtsgruppe Zürich. Heute ist es kaum mehr möglich, Kritik an Israel zu äussern, ohne gleich als Antisemit gebrandmarkt zu werden. Linke Gesinnung macht davor keinen Halt und wendet sich immer mehr nach rechts. Der israelische Soziologe Moshe Zuckermann hat darüber ein neues Buch geschrieben.

Herr Zuckermann, der Antisemitismusvorwurf breitet sich im politischen Diskurs zurzeit inflationär aus. Mit dem real existierenden Antisemitismus hat das aber wenig zu tun. Wer also ist «der allgegenwärtige Antisemit», den Sie im Buchtitel ankündigen?
Moshe Zuckermann: Eben der nur zur leeren Floskel verkommene «Antisemit», der keiner ist, aber als solcher besudelt wird, um ihn politisch und gesellschaftlich zu verfolgen und auszuschalten. «Allgegenwärtig» ist dieser «Antisemit», weil er als solcher beliebig abrufbar ist, allzeit zugegen durch den schieren Akt der perfiden Verleumdung. » Weiterlesen

Revolution und Reformen

Eric Diggelmann. Von Kuba kennt man Strände, Rum, Zigarren und Revolution. Einst eine Kolonie der USA konnte sich die Insel ihre Unabhängigkeit erkämpfen. Wie wurde Kuba zu dem, was man heute kennt?

Vor der kubanischen Revolution war Kuba im Wesentlichen ein Casino für US-amerikanische MillionärInnen: Glücksspiele, Prostitution, Korruption und Rum-Produktion dominierten die Wirtschaft. Zudem herrschte der in Südamerika typische «Machismo» – die lateinamerikanische Interpretation von Patriarchat –, Rassismus und Homophobie vor.

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Nachspiel eines Vulkanausbruchs

In der sogenannten Zone Null soll man einen Mundschutz tragen, weil die Luft voller Bakterien der verwesenden Körper sind.

Andreas Boueke. Ein Vulkanausbruch in Guatemala. Einige Tage lang schenken die Medien der Welt einem kleinen Land in Mittelamerika etwas Aufmerksamkeit. Doch noch bevor auch nur klar ist, wie viele Menschen gestorben sind, wird nicht weiter berichtet.

Die Menschen waren es gewohnt, mit dem Vulkan zu leben. «Oft konnten wir hören, wie es im Inneren des Bergs rumorte», erinnert sich Paulino Orisabal. Bis zum 3. Juni wohnte der alte Mann mit seiner Familie in dem Dorf Rodeo an den südlichen Abhängen des Hochlands von Guatemala. Morgens warf der «Vulcano de Fuego» Schatten auf sein Dach. «Wir haben uns nie gross Sorgen gemacht, wenn mal ein wenig Asche vom Himmel fiel.»

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Der Zürcher Generalstreik von 1912

Das Volkshaus in Zürich wurde 1912 militärisch besetzt.

sit. Genau am Erscheinungstag dieser vorwärts-Ausgabe vor 116 Jahren fand in Zürich der Generalstreik statt. Über 20 000 ArbeiterInnen nahmen an der Demonstration teil. Die Repression war gewaltig: Das Volkshaus wurde militärisch besetzt, der Vorstand der Arbeiterunion verhaftet, städtische Angestellte entlassen und 13 Streikführer ausgeschafft.

Freitag, 12. Juli 1912: Der Zürcher Generalstreik beginnt um 9.00 Uhr mit einer Protestversammlung im Quartier Aussersihl, an der über 20 000 ArbeiterInnen teilnehmen. Es folgt eine beeindruckende, friedliche Demonstration durch die Stadt. Am Nachmittag hält Robert Grimm, der 1918 eine treibende Kraft des Landesgeneralstreiks sein wird, eine Rede vor 18 000 Menschen. Der Tramverkehr ist durch die Besetzung der Depots lahmgelegt.

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«Wir kämpfen für alle»

Rechts Lauren Mc Court

Peter Lazenby. Im Mai streikten abermals McDonald’s-ArbeiterInnen in Grossbritannien. Die «McStreiks» haben mittlerweile auch Streiks in anderen Restaurantketten inspiriert. Ein Gespräch mit Lauren McCourt, die in einer Filiale in Manchester streikte und versucht, ihre KollegInnen für den Arbeitskampf zu organisieren.

Die ArbeiterInnen in der Gastronomie leiden unter Ausbeutung, schlechten Löhnen und unsicheren Arbeitszeiten. In Grossbritannien wehren sie sich jetzt. Die BFAWU-Gewerkschaft aus der Branche organisiert auch bei der Fastfoodkette McDonald’s. Im September wurde in McDonald’s-Filialen in Cambridge und Crayford gestreikt (vorwärts berichtete). Es war der erste Streik in der 44-jährigen Geschichte des Konzerns in Grossbritannien. Im letzten Monat folgten Streiks in fünf Filialen, darunter zwei in Manchester. Die ArbeiterInnen verlangen nicht das Unmögliche von McDonald’s – nur einen Mindestlohn von 10 Pfund pro Stunde die Möglichkeit von festen Arbeitszeiten. Sie wollen ebenfalls die Abschaffung der altersabhängigen Bezahlung, bei der jüngere KollegInnen vom Unternehmen finanziell bestraft werden, nur weil sie jünger sind. Momentan führen die Null-Stunden-Verträge dazu, dass die ArbeiterInnen ihre Miete nicht bezahlen können, wenn sie nicht genügend Arbeitsstunden im Monat bekommen.
Die Streiks umfassen nicht viele McDonald’s-Filialen und -ArbeiterInnen, aber sie erhielten breite Unterstützung von anderen Gewerkschaften und der Öffentlichkeit. Und die Zahl an Gewerkschaftsmitgliedern steigt unter ihnen. Die Streiks sind Teil eines Kampfes gegen den Konzern auf beiden Seiten des Atlantiks und darüber hinaus. In den USA kämpft die SEIU-Gewerkschaft für einen 15$-Mindestlohn. Die zwei Gewerkschaften sind in Kontakt miteinander. McDonald’s-ArbeiterInnen aus den USA haben sich sogar einem Protest ihrer britischen KollegInnen in einer Filiale in London angeschlossen, ebenso waren Leute aus Schweden und Neuseeland dabei. Der Protest war Teil der Globalen Protesttagen von McDonald’s-ArbeiterInnen. Unter den Streikenden in Manchester war die 23-jährige Lauren McCourt.

Was waren deine Erfahrungen mit dem Streik und der gewerkschaftlichen Organisierung?
Lauren McCourt: Ich bin eine McStreikerin aus Manchester und nahm am nationalen Streik der McDonald’s-ArbeiterInnen vom 1. Mai teil, mit dem wir unter anderem für 10 Pfund die Stunde kämpfen. Immer wieder fragen mich die Leute, was eine Gewerkschaft überhaupt ist. Sie haben ernsthaft nie zuvor davon gehört. Ich habe ihnen versucht, zu erklären, dass jene ihre Rechte am Arbeitsplatz verteidigen und ihnen helfen, wenn sie in Schwierigkeiten geraten. Die Antwort schien sie nicht zu begeistern. Niemand glaubt, dass sie in Schwierigkeiten geraten, und denken, dass eine Mitgliedschaft bei der Gewerkschaft deshalb bloss Geldverschwendung wäre.
Nach dem ersten Streik im September letzten Jahres begannen sich die Dinge im meinem Laden zu verändern. Die Leute zeigten plötzlich Interesse, weil sie zum ersten Mal sahen, wie Leute wie sie gegen dieselben Probleme kämpften, die auch sie hatten – und dabei gewannen. Der erste Streik hat zur grössten Lohnerhöhung bei McDonald’s geführt seit Jahrzehnten. Ich habe realisiert, dass es für uns ArbeiterInnen nicht ausreicht, die Gewerkschaft als eine Art Versicherung zu haben. Wir brauchen die Gewerkschaft, um Veränderungen an unserem Arbeitsplatz herbeizuführen und aktiv und gemeinsam dafür zu kämpfen, dass es auch dazu kommt. Die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten hat seit dem ersten Streik zugenommen, weil immer mehr junge ArbeiterInnen sehen, dass, wenn wir zusammen kämpfen, höhere Löhne, bessere Verträge und Arbeitsbedingungen gewonnen werden können. Daran haben sie nie gedacht, weil wir in der Post-Thatcher-Ära aufgewachsen sind, in der die Gewerkschaften nicht mehr so kämpferisch sind. Das dürfte auch der Grund sein, weshalb unsere Löhne überhaupt so tief sind. Wenn wir vereinzelt bleiben und nicht zusammen in einer Gewerkschaft sind, können uns die ChefInnen ausbeuten, wie es ihnen gefällt.

In den letzten Wochen haben die Angestellten der US-Restaurantkette TGI Friday’s gegen schlechte Bezahlung und das Abziehen der Trinkgeldern gestreikt.
Genau. Sie sagen, sie wären vom McStreik inspiriert worden und hätten unsere Parolen auf ihren Streikposten gerufen. Wir können schon sehen, was passiert, wenn man zusammen kämpft: Es inspiriert solche wie du selbst, das gleiche zu tun. Unsere Bewegung ist aus der Kampagne «Fight For $15» (Kämpfe für 15$-Mindestlohn) aus den USA entstanden, mit der sie nicht nur die Löhne für FastfoodarbeiterInnen erhöhen konnten, sondern den gesetzlichen Mindestlohn in mehreren Bundesstaaten von 7,25 auf 15 Dollar verdoppelt haben. Das ist genau, wofür wir kämpfen.
Die Probleme, die wir haben – Null-Stunden-Verträge, tiefe Löhne und altersabhängige Bezahlung –, sind die gleichen, die Tausende andere Menschen in diesem Land haben. Wir kämpfen für sie alle. Es beginnt hier. Ich hoffe, sie sehen, was wir machen, und werden inspiriert, dasselbe zu tun, weil, wenn wir zusammenstehen und unsere zahlenmässige Stärke nutzen, werden wir immer mehr Macht haben als diejenigen, die uns misshandeln und ausbeuten. Dann werden wir gewinnen – wenn wir nicht mehr weniger akzeptieren, als was wir verdienen, und wir rumstehen und darauf warten, dass die Dinge von allein besser werden.

Waren vor allem junge Leute beim Streik aktiv?
Der Arbeitskampf bei McDonald’s geht nicht nur um junge Leute, auch wenn viele im Mittelpunkt der Aktionen standen. McDonald’s kümmert es nicht, wen sie ausbeuten. Was sie kümmert, ist, was auf ihrem Konto landet. Es ist der zweitgrösste Arbeitgeber der Welt und beutet systematisch die ArbeiterInnen aus. Es ist ein Unternehmen, das Profite in Milliardenhöhe einfährt. Die Gewerkschaftsbewegung braucht unbedingt mehr junge Leute. Wir müssen in den Schulen präsent sind, wie sie das früher gemacht haben. Die Gewerkschaften waren an den Berufsschulen, Fachhochschulen und Universitäten. Die Gewerkschaften müssen sich ändern, sonst repräsentieren sie nur Leute aus der Vergangenheit. Wir müssen den jungen Leuten zuhören, was sie wollen

Imperialismus der neuen Ära

Vijay Prashad. Die grossen Rivalen des US-Imperialismus – China und Russland – können nicht an die militärische Macht der USA heranreichen. Die neuen Bündnisse der Brics-Länder sind eine neue Herausforderung für den Westen, sind aber nicht antiimperialistisch eingestellt.

In der gegenwärtigen Zeit sind die USA eine Art Weltpolizei, um die Struktur des Imperialismus zu erhalten. Sie schnüren ein Netz von Verbündeten, das aus den Nato-Ländern bis zu den wichtigen regionalen Verbündeten wie Saudi-Arabien, Indien und Kolumbien besteht. Die USA haben klargemacht, dass ihre Hegemonie von keinen Rivalen – insbesondere China und Russland – angetastet werden können.

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Keine Panik 4.0!

Torsten Bewernitz. Die Industrialisierung 4.0 ist momentan in aller Munde. Von den ProfiteurInnen wird sie als industrielle Revolution vermarktet, gleichbedeutend mit der Einführung der Elektrifizierung. Für die ArbeiterInnen bedeutet sie vor allem eins: eine effizientere Ausbeutung ihrer Arbeitskraft.

Ein Wort geht um in Europa und der Welt – der Begriff «Industrialisierung 4.0», manchmal auch «Industrie 4.0» oder «Arbeit 4.0». Die Wirkung dieses Begriffes hat etwas Gespenstisches. Die ersten empirischen Studien zur Digitalisierung oder auch Smartifizierung der Industrie und vor allem auch des Dienstleistungssektors aus dem MIT und aus Oxford sagen massive Arbeitsplatzverluste voraus. Auch, wenn andere Studien diese Zahlen von über 40 oder sogar 59 Prozent relativieren, bleibt in der öffentlichen Debatte die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust ein wesentlicher Bestandteil dieses Diskurses.

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Der Planwirtschaft gehört die Zukunft

Lichtenberg 1986: Das-KWV-steht-für-Kommunale-Wohnungsverwaltung

Dr. Peter Elz. War die Planwirtschaft in den sozialistischen Ländern ineffizient und innovationsfeindlich? Tatsächlich verursacht der Kapitalismus die grösseren Probleme: Massenarbeitslosigkeit, Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, Zukunftsängste der Menschen. Ein Plädoyer für das bewusste Wirtschaften.

Bei vielen, auch Linken, gibt es gegenwärtig geringe Bereitschaft oder gar Abneigung, in einer Planwirtschaft eine Alternative zur kapitalistischen Marktwirtschaft zu suchen.

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Angriff auf die kapitalistische Verwertung

Peter Nowak. In diesem Jahr sind zwei Bücher über die Massenproteste von 2016 gegen das Arbeitsgesetz in Frankreich erschienen. Beide Bücher geben gute Einblicke in eine soziale Bewegung in Frankreich, die jederzeit seine Fortsetzung in dem Land finden könnte.

Vor zwei Jahren begannen in Frankreich Massenproteste gegen das französische Arbeitsgesetz, das die prekären Arbeitsverhältnisse in dem Land vertiefen und zementieren sollte. Vorbild dafür ist die Agenda 2010 in Deutschland. Der Protestzyklus begann am 9. März 2016 und hielt bis zum 5. Juli an.

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Gentechnik durch die Hintertür

Mathias Stalder. Urs Niggli, Leiter des Forschungsinstituts für biologischen Landbau, plädiert für ein neues Prüfverfahren bezüglich Gentechnik. Ein Gespräch mit Eva Gelinsky, Koordinatorin der IG gentechnikfreie Saatgutarbeit.

In den USA wächst ein herbizidresistenter Raps auf den Feldern, der mit einem der neuen Verfahren entwickelt wurde. Er ist allerdings nicht als Gentech-Pflanze (GVO) erkennbar, weil in den USA die neuen Gentechnik-Verfahren und damit entwickelte Pflanzen nicht als Gentechnik reguliert und gekennzeichnet werden. Was ist der Unterschied zu herkömmlichen GVOs?

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Angriff aus dem Innern

TKG. Interview mit einem Vertreter des Kommunistischen Jugendverband Tschechiens über die Erfahrungen in der sozialistischen Tschechoslowakei und dem sogenannten Prager Frühling im Mai 1968. Welche Rolle spielte die Kommunistische Partei? Welche Lehren werden aus der Vergangenheit gezogen?

Wie schätzt ihr die sozialistische Erfahrung in eurem Land ein? Was sind die ideologischen und politischen Lehren, die ihr aus jener Geschichte zieht?
Der sozialistische Aufbau in unserem Land war eine wichtige Erfahrung für unsere Völker. Zum ersten Mal herrschte die arbeitende Klasse im Land; das Mehrprodukt gehörte denen, die es produzierten. In der neuen Gesellschaft gab es eine rapide wirtschaftliche Entwicklung, auf dem Land entstanden Kollektivwirtschaften.

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Gegenmacht herstellen!

Maximilien Dardel. Welche Bilanz zieht die Partei der Arbeit Belgiens (PTB) aus der Erfahrung von Syriza in Griechenland? Wie ist dem politisch-medialen Einfluss des Establishments zu begegnen? Wann wird die PTB regieren? Zweiter Teil des Interviews mit David Pestieau, Vizepräsident der PTB.

Die PTB erfreut sich im Moment an guten Umfragewerten, zumindest im französischsprachigen Teil. Ein wichtiger Vertreter der Partei, Raoul Hedebouw, erklärte aber: «Wir werden frühestens in 10 oder 15 Jahren an der Macht sein.» Ihre Partei scheint immer wieder die Frage einer Machtübernahme zu vermeiden. Welche Vision haben Sie gegenüber diesem Szenario?
David Pestieau: Ich denke, dass eine Regierung heute nicht die reale Macht in einer kapitalistischen Gesellschaft widerspiegelt. Die Macht des Staates ist ein Ensemble, wo es die Regierung gibt, aber auch die extrem grosse Zahl der LobbyistInnen der multinationalen Konzerne, welche quasi direkt oder indirekt am Kabinettstisch sitzen. Wir sagen, dass das derzeitige Spiel von Wahlen uns in Situationen bringt, in denen wir an der Regierung sein, aber keine wirkliche Macht ausüben könnten. Das ist sehr wichtig, denn es bestimmt unsere Strategie als linke Kraft. Wenn Sie die Gesellschaft von Grund auf verändern wollen, wenn Sie auch nur eine andere Verteilung des Reichtums wollen und kein Verständnis dieser Realität entwickeln, werden Sie die falsche Strategie verfolgen.
Die radikale Linke in Europa hat diese Erfahrung mit Griechenland erlebt. Es gab eine Regierung, die mit fast absoluter Mehrheit der Sitze gewählt wurde, Syriza, mit einem relativ radikalen Anti-Austeritätsprogramm, das sie aber nicht umsetzen konnte. Das praktische Resultat war, dass sie an der Regierung waren, aber nicht die Macht hatten. Man hat erlebt, dass von den ersten Tagen dieser Regierung an alle Entscheidungen der griechischen Regierung Angela Merkel und der EU-Kommission zur Kenntnis gegeben wurden, weil die hohen griechischen Beamten für das europäische Establishment arbeiteten. Es war zu sehen, dass das griechische und europäische Establishment auf die Regierung von Alexis Tsipras durch eine wirtschaftliche Strangulierung Druck ausübten, insbesondere gerade vor dem Anti-Austeritätsreferendum vom Juli 2015. Die in Griechenland praktizierte Strategie war, zu regieren, ohne wirklich über reale Macht zu verfügen. Sie mussten ein Programm verwirklichen, welches das Gegenteil des Programms war, mit dem sie gewählt worden sind.
Man kann nur feststellen: Wenn wir eine Strategie wollen, die die Probleme unserer Zeit wirklich anpackt, dann muss die Macht in ihrer Gesamtheit infrage gestellt werden. Wenn wir in der Lage sein wollen, diese Macht auch nur ein wenig zu erschüttern, muss es eine genügend starke Gegenmacht geben. Und diese Gegenmacht bedeutet nicht nur, ein gutes Wahlergebnis zu haben. Es muss auch eine Bewegung in der Gesellschaft geben und eine Organisation, eine Fähigkeit, eine gewisse ideologische Hegemonie herzustellen, um ausreichend starke Positionen zu haben, um auf die Strasse gehen zu können, wenn es wirtschaftliche Erpressung gibt. Man muss alternative Medien haben, um eine andere Tonart zu Gehör zu bringen. Man muss Leute haben, die den Kampf auch innerhalb der Institutionen führen können. Wenn wir nicht in der Lage sind, ein Minimum an Gegenmacht auf die Beine zu stellen und die Möglichkeit haben, die Bedingungen zu schaffen, um eine gewisse Anzahl unserer politischen Positionen durchzusetzen, laufen wir Gefahr, genau so wie Syriza zu enden.
Richten wir uns also nicht an den Umfragen aus. Selbst wenn wir den Wahlerfolg haben würden, den uns diese Umfragen prognostizieren, müssen wir in der Lage sein, eine gänzlich andere Politik zu verwirklichen.
Ausserdem haben wir in Belgien ein System von Regierungskoalitionen. Und hier sehen wir im Moment keine Veränderungen bei den anderen Kräften, die sich links nennen. Wir haben eine sozialdemokratische Partei, welche die politische Szene seit Jahrzehnten dominiert, und wir haben eine grüne Partei. Doch diese beiden Parteien verharren heute immer noch in demselben Joch, dem sie sich seit 30 Jahren unterworfen haben.
Der Historiker Enzo Traverso sagte, dass die Sozialdemokratie in gewisser Weise ein Nebenprodukt der Oktoberrevolution sei. Ich würde nicht so weit gehen, aber auf jeden Fall ist der Erfolg, den die Sozialdemokratie hatte, mit einem sehr spezifischen Moment des Kapitalismus verbunden, der keineswegs sein wahres und normales Gesicht zeigt. Wenn man genau hinsieht, hat der Kapitalismus seit dem 19. Jahrhundert mehr Krisen erlebt als Stabilität. Diese berühmten goldenen Jahre zwischen 1945 und 1980, die die glorreichen Tage der europäischen Sozialdemokratie waren, sind mit einem besonderen Zeitabschnitt des Wiederaufbaus einer starken ArbeiterInnenbewegung und der Existenz eines konkurrierenden Systems verbunden.
In den neunziger Jahren hat die Hinwendung zum Sozialliberalismus den sozialdemokratischen Parteien eine Zeit lang einen Wechsel ermöglicht, mit der sogenannten Politik des kleineren Übels: «Ohne uns wäre es schlimmer.» Heute ist seit einiger Zeit eine grosse politische Krise der traditionellen politischen Kräfte, insbesondere der Sozialdemokratie, zu sehen. Es war also logisch, dass dieses Phänomen auch Belgien treffen würde. Die Besonderheit im französischsprachigen Belgien ist, dass dieser Absturz der Sozialdemokratie nicht zugunsten der extremen Rechten erfolgte, sondern auch zugunsten der Kräfte der radikalen Linken.

Ihre Abgeordneten leisten den Eid in den drei offiziellen Sprachen Belgiens, um ihr Festhalten an der Einheit des Landes zu zeigen. Es ist wichtig zu betonen, dass Sie die einzige gesamtnationale Partei Belgiens sind. Doch wenn der Protest gegen die Sparmassnahmen und die EU in Wallonien sich positiv für die PTB auswirkt, scheint in Flandern die Neue Flämische Allianz (N-VA) Vorteil daraus zu ziehen. Wie erklären Sie das? Ist das das Zeichen eines unüberwindbaren Gegensatzes innerhalb der belgischen Nation?
In Belgien haben wir eine Besonderheit mit drei Sprachen: In Flandern wird Niederländisch gesprochen, in Wallonien hauptsächlich Französisch, in einem kleinen Teil wird Deutsch gesprochen, und in Brüssel spricht man Französisch und Niederländisch. Es gibt die gleiche Situation in einem anderen Land Europas, nämlich der Schweiz. Der Unterschied ist, dass dort alle Parteien nationale Parteien geblieben sind. In Belgien wurden zuerst die Parteien gespalten, bevor die Leute gespalten wurden. Aus Gründen des politischen Opportunismus wurde beschlossen, die Parteien in zwei Teile zu trennen. Wir sind eine nationale Partei geblieben. Es ist schwierig zu sehen, wie man eine internationalistische oder auch nur eine europäische Vision verteidigen könnte, wenn man nicht in der Lage ist, in Belgien eine einzige Partei zu sein und sich unter MarxistInnen zu verständigen, die einfach nur eine andere Sprache sprechen! Wir haben darauf gesetzt und tun es jeden Tag, eine nationale Partei zu sein. Die sprachliche Spaltung in Belgien dient den Interessen der besitzenden Klassen.
In Flandern entwickelte sich die Sozialdemokratie in einem Kontext, in dem die Rechte stärker war und es eine nationalistische Bewegung gab, die sich entwickelte und politisch in die Rechte und sogar extreme Rechte einmündete. Die Besonderheit Belgiens, die die Dinge noch komplizierter macht, ist, dass wir eine faschistische, rechtsextreme Partei haben, der «Vlaams Belang», und zusätzlich noch in der traditionellen flämischen Bewegung das Aufkommen einer «zivilisierten» extremen Rechten, wie man sagt, eine neue Rechte, die N-VA. Wir haben also eine der am besten organisierten faschistischen Parteien in Europa, die neben einer anderen Partei der neuen nationalistischen Rechten existiert, die auf sehr spezifische Art die Anti-Establishment-Stimmung vereinnahmt, obwohl sie selbst Teil davon ist.
Es ist eine schwierige Gleichung, die wir im Norden des Landes zu lösen haben. Diese Situation hat zur Folge, dass wir in Flandern nicht die gleichen Wahlergebnisse wie in Wallonien bekommen. Aber in einer Stadt wie Antwerpen, der grössten Industriestadt des Landes, bekommen wir immerhin neun Prozent, was angesichts dieses Kontextes ein sehr gutes Ergebnis ist, auch im Vergleich zu nicht wenigen anderen Parteien der radikalen Linken in Europa. Aber der Kampf ist schwieriger. Wir glauben nicht, dass die WallonInnen von Natur aus wesentlich linker sind als die FlamInnen, wie ich auch nicht meine, dass die Menschen des französischen Südens genuin mehr rechts sind als die in anderen Regionen Frankreichs. Wir meinen, dass es mit besonderen politischen Kontexten zusammenhängt und dass der Kampf überall geführt werden muss, mit dem Gedanken geführt werden muss, dass die Werktätigen vereint werden müssen. Das ist unsere Aufgabe.

In letzter Zeit scheint die grossen belgischen Medien eine echte Angst vor Rot ergriffen zu haben. Wie gehen Sie damit um, dass ein Teil der Presse Sie ständig mit dem Bild des Kommunisten mit einem Messer zwischen den Zähnen darstellt?
Wenn Sie einen Kampf führen, bei dem Sie eine Reihe von neoliberalen Dogmen in Frage stellen, werden Sie angegriffen werden. Und Sie können dabei irgendeine Farbe haben; wenn Ihre Botschaft auch nur ein wenig den Neoliberalismus in Frage stellt, werden Sie für alles Mögliche beschimpft. Ich habe einmal eine Rede von Berlusconi gelesen, in der Romano Prodi als Kommunist beschimpft wurde! Man hat schon alles erlebt. Das ist die Angst vor einem herbeiphantasierten Rot, die als politisches Argument benutzt wird, um kurzfristig Wahlen zu gewinnen. Aber das ist unvermeidlich! Wenn Sie nicht auf diese Weise angegriffen werden, bedeutet das vor allem, dass Sie nicht damit beschäftigt sind, das System infrage zu stellen. Alle AnführerInnen von Streiks und sozialen Bewegungen werden zu bestimmten Zeiten verunglimpft und karikiert.
Ich denke, dass sich in gewissen Kreisen eine echte Angst vor der PTB zu entwickeln beginnt, über die übliche Karikatur hinaus. Man sieht es, wenn man die Erklärungen der UnternehmerInnen liest. Die schreiben, dass es absolut notwendig sei, dass die PTB nicht regiert oder die politischen Entscheidungen beeinflusst. Seit einiger Zeit spürt man also, dass dieses Phänomen, das vor allem in politischen Auseinandersetzungen genutzt wird, zu einer echten Angst geworden ist. Denn die PTB steigt auf und könnte andere politische Parteien beeinflussen. Die UnternehmerInnen reagieren und fordern, die PTB als nicht salonfähige Partei einzustufen.
Wie kann man es vermeiden, ein Etikett verpasst zu bekommen? Man muss damit anfangen, seine eigenen Ideen zu verteidigen und zu erklären. Alle Kommunikationsmittel nutzen, um es zu tun und nicht allein von traditionellen Informationskanälen abhängig sein. Man darf der Karikatur auch keine Flanke öffnen. Ich denke, dass es in gewisser Weise eine tiefe politische Krise und eine antikommunistische Botschaft gibt, die vor 20 Jahren sehr viel leichter durchging als heute. Es gibt heute ein tiefes Misstrauen der einfachen Leute gegenüber der Botschaft der dominierenden Medien. Wenn wir also über den Aufbau einer Gegengesellschaft sprechen, schliesst das auch ein, ein Netzwerk von Informations- und Diskussionsmöglichkeiten zu haben. Und da bin ich optimistischer als in der Vergangenheit, wenn ich die Entwicklung der alternativen Medien und der neuen Technologien sehe.

Übersetzung: Georg Polikeit

Noch unterwegs: die MEGA

Georg Fülberth. Für das Studium der Lehren von Marx und Engels ist die MEGA unabdingbar. Die Marx-Engels-Gesamtausgabe war nach dem Untergang der DDR gefährdet, konnte gerettet werden und wird bis heute fortgesetzt.

Als Friedrich Engels 1895 starb, war der wissenschaftliche Nachlass von Karl Marx noch weitgehend unerschlossen. Gewiss: nach dessen Tod war 1885 der zweite und 1894 der dritte Band des «Kapital» erschienen. Aber das waren nur Teile aus der ungedruckten Textmasse. Engels wies Eduard Bernstein und Karl Kautsky in Marx‘ Handschrift ein, damit sie seine Herausgebertätigkeit fortsetzen konnten.

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Karl Marx: Grundlagen seines Denkens

André Rauber. Marx ist immer noch, 200 Jahre nach seiner Geburt, lebendig. Seine historischen Analysen und ökonomischen Theorien, seine dialektisch-materialistische Philosophie sind ein Werkzeug für die Überwindung des Kapitalismus. Vieles, was Marx schrieb, und viele gesellschaftliche Gesetze, die er entdeckte, behalten ihre Richtigkeit noch heute.

Karl Marx war Philosoph, Ökonom und politischer Aktivist. Er studierte Recht, Philosophie und Geschichte in Bonn und Berlin. Ab 1842 arbeitete Marx bei der liberalen «Rheinischen Zeitung» und wurde bald zum Chefredakteur ernannt. Hauptsächlich wegen seine polemischen Texte wurde die Zeitung am 31. Januar 1843 verboten. Seine journalistische Aktivität liess Marx die politischen und ökonomischen Debatten seiner Epoche besser verstehen. Dies brachte ihn dazu, die Philosophie von Friedrich Hegel neu zu denken. Hegel stellte fest, dass im Universum alles in Bewegung ist. Als Folge davon entwickelte er ein dialektisches Denken, da der Prozess der Entwicklung des Gedankens und des Seins sich auf die Überwindung der Gegensätze ausrichtet (These, Antithese, Synthese). Mit seiner Theorie hatte Hegel einen grossen Einfluss auf den jungen Marx. Doch Hegel war philosophisch ein Idealist. Er war überzeugt, dass der Geist (Gott oder eine überirdische Macht) die Materie schafft. Marx hingegen folgte Ludwig Feuerbach, auch ein Anhänger Hegels, wandte sich vom Idealismus ab und wurde zum Materialist.
Marx kritisierte aber auch den Materialismus von Feuerbach, weil dieser den Mensch ausserhalb aller sozialen und gesellschaftlichen Verbindung betrachtete. Marx entwickelte den Materialismus von Feuerbach weiter. Auf dieser Basis und auf der dialektischen Methode Hegels erarbeitete Marx seine eigene Philosophie, die später dialektischer Materialismus genannt wird. Auf dieser Grundlage entstand ein neues Konzept, das einen zentralen Platz in der Lehre von Karl Marx einnimmt: der historische Materialismus, was in der Summe die Anwendung der Dialektik auf das Studium der menschlichen Gesellschaft und Geschichte ist.
Teils gezwungen aus Not wegen der Schliessung der «Rheinischer Zeitung» und teils aus Interesse an den sozialistischen Ideen emigrierte Marx im 1843 nach Paris. Hier lernte er Friedrich Engels kennen, den Sohn eines reichen Baumwollfabrikanten aus Deutschland. Engels wurde sich durch seine Stellung im Familienbetrieb der Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse bewusst. Sein Werk «Die Lage der arbeitenden Klasse in England» im Jahr 1848 war eine der ersten Kritiken an der politischen Ökonomie seiner Zeit. Ein tiefe Freundschaft, eine enge Zusammenarbeit und eine materielle Unterstützung der Familie Marx durch Engels würde die beiden Männer ein Leben lang begleiten und verbinden.

Entfremdete ArbeiterInnen
Im Exil in London vertiefte Marx seine Studien der Ökonomie. Sie waren für ihn unabdingbar, um seine philosophischen und politischen Theorien zu vervollständigen. 1867 veröffentlichte Marx den ersten Band seines Hauptwerks «Das Kapital», in dem er das Funktionieren des kapitalistischen Systems aufdeckte. Die weiteren Bände wurden nach seinem Tod 1883 veröffentlicht.
1845 bis 1846 erarbeitete Marx in der Schrift «Die deutsche Ideologie» sein Konzept der Entfremdung. Im Kapitalismus gehört den ArbeiterInnen ihr Arbeitsprodukt nicht. Sie haben nur eine Ware, nämlich die eigene Arbeitskraft, die sie den KapitalistInnen verkaufen müssen, und aus der die KapitalistInnen ihren Profit schöpfen. Sie können einerseits ihre Arbeit nicht als Ausdruck ihre kreativen Kapazitäten erleben, andererseits wird ihnen das Produkt ihrer Arbeit enteignet. Die Produktion ist den ArbeiterInnen also entfremdet und wird ihnen fremd im Prozess der Produktion. Das kapitalistische System, das durch die Konkurrenz und die Teilung der Arbeit gekennzeichnet ist, distanziert jede einzelne ArbeiterIn von ihren ArbeitskollegInnen.
Gemäss Marx werden die sogenannten ProletarierInnen, die Mitglieder der ArbeiterInnenklasse, zu der alle gehören, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, von der Produktion, von ihrem vollständigen menschlichen Potenzial und den anderen ArbeiterInnen entfremdet. In der Folge sind die ArbeiterInnen nicht, das was sie sein könnten, ihre Persönlichkeit ist deformiert. Diese Situation kann nur durch die Überwindung des Kapitalismus, durch eine neue Gesellschaft, die nicht auf finanzieller Rentabilität beruht, die aber allen Menschen ermöglicht, sich allseitig in ihrer Arbeit und Existenz zu realisieren. Marx hält folgerichtig fest, dass dieser Umstand nur durch das Proletariat selber aufgehoben werden kann. Und zwar dadurch, dass es die eigene gesellschaftliche Kraft erkennt und organisiert sowie die gesellschaftlichen Widersprüche erkennt und aufhebt.

Analyse des bürgerlichen Staats
In dieser Zeit begann Marx zusammen mit Engels, auch die Anlyse über den bürgerlichen Staat zu vertiefen. Der Staat ist für Marx und Engels die organisierte Macht der herrschenden Klasse, um die Ausbeutung der unterdrückten Klasse zu ermöglichen. Im Unterschied zu den AnarchistInnen, welche die sofortige Abschaffung jeglicher Form des Staates fordern, und dem Grossteil der utopischen SozialistInnen, sind Marx und Engels der Ansicht, dass der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft bestimmte Voraussetzungen hat: Die Eroberung der Staatsmacht durch die ArbeiterInnenklasse, die Zerstörung des alten bürgerlichen Staatsapparats sowie die Gründung eines proletarischen Übergangstaats, dessen Ziel die Zerstörung des alten ausbeuterischen Produktionssystems ist.
Diese Übergangsphase der Klassengesellschaft zur klassenlosen Gesellschaft setzte für Marx und Engels die Diktatur des Proletariats voraus, eine Form der Machtausübung, die für Marx und Engels ein demokratischer Akt ist. Denn sie bedeutet, dass die Mehrheit (das Proletariat) über die Minderheit (die KapitalistInnen) herrscht. Erst wenn die Produktion in den Händen des Proletariats ist, werden die Klassen verschwinden und die politische Macht seine Bedeutung verlieren. Für Marx und Engels wird das Ende der Staatsmacht einhergehen mit der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft, und die Herrschaft über Menschen wird zur Verwaltung der Dinge.

Das kommunistische Manifest
Marx und Engels skizzierten im «Manifest der Kommunistischen Partei» die Grundsätze ihrer neuen Wissenschaft, des historischen Materialismus. Die Geschichte wird darin als die Abfolge von Produktionsweisen, die von der einen in die andere übergehen, verstanden, nicht einfach als eine Reihe von empirischen Fakten. Das Manifest entstand im Auftrag des «Bundes der Kommunisten» und übertraf mit seiner Bedeutung den eigentlichen Zweck. Ursprünglich sollte das Manifest die Positionen und das Programm der Organisation festhalten. Marx und Engels gingen jedoch viel weiter: Sie erarbeiteten eine erste theoretische Analyse der historischen Entwicklungstendenzen in der Gesellschaft: «Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.»
Marx und Engels zeichnen im Manifest die geschichtlichen Umbrüche nach, die zum Aufstieg der Bourgeoisie als herrschende Klasse der heutigen Zeit geführt haben. Diese Entwicklung ging auf der ökonomischen Ebene einher mit der Entstehung der Grossindustrie. Durch die Auflösung der feudalen Ideologie, die die Realität der gesellschaftlichen Beziehungen verschleiert hatte, stellte die bürgerliche Wissenschaft aber auch die Mechanismen ihrer Herrschaft bloss.
Marx und Engels zeigten unter anderem anhand der Überproduktionskrise die eklatanten Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise auf, die sich ihrer Meinung nach in einer zugespitzten Phase befand: Auf der einen Seite die zunehmende Produktion von Reichtum, auf der andere die ungleiche Verteilung desselben. Davon ausgehend beschreibt das Manifest die ökonomische und soziale, sowie die politische und ideologische Rolle des revolutionären Proletariats, das sich zunehmend bewusst wird. Die ArbeiterInnen sind die «Totengräber» der Bourgeoisie, hervorgebracht von ihr selbst. Das Proletariat bildete sich selber, wird sich seiner selbst bewusst durch den politischen und ökonomischen Kampf für die menschliche Emanzipation: «An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.» Unter diesen Umständen ist das, was Marx kommunistische Partei nennt, die organisierte Kampfform des Proletariats.

Notwendige Ungleichheit
Die Geschichtswissenschaft lässt sich nach Marx und Engels auf die Theorie der Produktionsweisen zurückführen. Im Vorwort der Kritik der politischen Ökonomie präzisiert Marx diesen Gedanken: «In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, auf der sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und dem bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.» Denn wenn man glaubt, dass die Geschichte das Werk der Menschen ist, die nach ihrem Willen und ihren Ideen handeln, muss die Frage beantwortet werden, woher diese Ideen kommen, die technisch gesehen eine Funktion des Gehirns sind. Und wenn das menschliche Gehirn eine Bedingung für die Entstehung von Ideen ist, erklärt dies nicht, weshalb man genau diese und nicht andere Ideen hat. Die Ideen hängen von den Lebensumständen ab: ProletarierInnen denken proletarisch, Bürgerliche denken bourgeois.
Allerdings ist dieses Denken nicht rein und nicht gefeit vor Veränderungen des Bewusstseins. Das ist heute in der hochentwickelten Gesellschaft, die durch die Medien einer Dauerberieselung der herrschenden Gedanken ausgesetzt ist, so wahr wie nie zuvor. Tatsächlich ist alles in dieser kapitalistischen Gesellschaft darauf ausgelegt, den Arbeiter-Innen ein falsches Bewusstsein zu vermitteln. Man bringt sie beispielsweise zum Glauben, dass sich Ungerechtigkeit nicht beseitigen lassen. Nach dem Untergang der sozialistischen Staaten und dem Aufschwung der konservativen Rechten im Westen wird sogar die Tatsache, dass alle Menschen gleich sind, zunehmend verleugnet und den Leuten wird weisgemacht, dass gesellschaftliche Ungleichheit etwas Natürliches sei wie die Selektion der Arten (was man Sozialdarwinismus nennt) und dass dies notwendig sei für den Fortschritt der Wirtschaft und damit der Gesellschaft. Die kapitalistische Gesellschaft ist aber keine natürliche Ordnung. Ihr gingen andere Gesellschaftsformen voraus, die ihrerseits den Leuten als natürlich, ewig und gut verkauft wurden. Man denke an das Verhältnis von Sklave und Meister in der antiken Sklavenhaltergesellschaft. Es ist aber wahr, dass soziale Ungleichheit unabdingbar ist für das Funktionieren des Kapitalismus, weil er diese Ungleichheit braucht. Die Menschen sind dadurch gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, wenn sie leben wollen. Und sie müssen sie an diejenigen verkaufen, die die Produktionsmittel besitzen, und sich mit dem abfinden, was sie bekommen können. Sie stehen schliesslich in Konkurrenz mit allen anderen ArbeiterInnen.

Waren und Wert
An diesem Punkt müssen wir uns mit dem Hauptwerk von Marx auseinandersetzen, mit dem «Kapital»: «Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‹ungeheure Warensammlung›, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.» Marx unterscheidet den Gebrauchswert der Waren von ihrem Tauschwert. Der Kern des Wertes ist die «abstrakte» Arbeit – unabhängig vom eigentlichen Zweck –, die mit der «Verausgabung menschlicher Arbeitskraft» in Verbindung steht.
Der Wert ist damit keine natürliche Eigenschaft der Waren, sondern eine gesellschaftliche Beziehung. Marx analysiert danach die Warenzirkulation innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft: Die Umwandlung von Geldkapital in produktives Kapital erlaubt den KapitalistInnen, mehr Geldkapital herauszuholen, als sie ursprünglich eingesetzt hatten. Diese Schöpfung von «Mehrwert» wäre unmöglich ohne eine ganz spezifische Ware: die Arbeitskraft, die die ArbeiterInnen den KapitalistInnen verkaufen müssen. Im gegenwärtigen ökonomischen Verständnis wäre Mehrwert eine Wertsteigerung einer Ressource oder eines Vermögens, die ohne Gegenleistung erlangt wurde. Zum Beispiel durch Zinsen oder Finanzspekulation. Für Marx stammt der Mehrwert allerdings auch aus dem Mehrprodukt: Die Arbeiter-Innen schaffen Produkte im Wert von dem, was sie zum Leben brauchen, aber auch einen bestimmten Teil mehr. Die KapitalistInnen zahlen den ArbeiterInnen aber nur so viel Lohn, wie sie etwa zum Leben brauchen. Das überschüssige Produkt, das Mehrprodukt, eignen sich die KapitalistInnen an. Das Verhältnis zwischen Mehrwert und Lohn nennt Marx die Ausbeutungs- oder Mehrwertrate.

Fall der Profitrate
Um ihre Profite zu steigern, können die KapitalistInnen die Löhne senken, die notwendige Arbeitszeit für die Produktion verringern oder die Arbeitsintensität erhöhen. Die ArbeiterInnen können hingegen für die Verbesserung ihrer Situation kämpfen, indem sie die Erhöhung der Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Marx erklärt, dass sich die BesitzerInnen der Produktionsmittel die «Mehrarbeit» der ArbeiterInnen aneignen durch eine vertragliche Lohnbeziehung, die eine Ausbeutungsbeziehung ist. Das Ziel der KapitalistInnen ist, sich Mehrwert anzueignen, weil dieser ihren Profit und ihre Profitrate bestimmt.
Der Mehrwert hängt neben der Ausbeutung der Arbeit auch von der Zusammensetzung des Kapitals zusammen: Marx unterscheidet konstantes Kapital (Maschinen) und variables Kapital (Arbeitskraft), aber nur letztere kann Mehrwert schaffen. In der Dynamik der Akkumulation des Kapitals ergibt sich eine zunehmende Produktivität der Arbeit, einerseits durch die Parzellierung der Tätigkeiten (bspw. Fordismus), andererseits mit der Ersetzung von ArbeiterInnen durch Maschinen (bspw. Digitalisierung). Die direkte Konsequenz dieses Prozesses ist aber die Verringerung der Profitrate, weil eben nur die ArbeiterInnen Wert schaffen. Dieser tendenzielle Fall der Profitrate, den die KapitalistInnen durch die Ausdehnung der Märkte oder die Intensivierung der Ausbeutung zu entgegnen versuchen, verschärft den inneren Widerspruch des Kapitalismus, der zu seinem Untergang führt, oder genauer an seine Überwindung heranführt.

«Keine Zukunft ohne Marx»
Was sagt uns Marx heute, mehr als 150 Jahre nach dieser Prophezeiung? Der Kapitalismus ist heute noch quicklebendig, während der Grossteil der Gesellschaften, die seinen Lehren gefolgt sind, untergegangen sind. Gleich wahr ist aber auch, dass der Geist von Marx uns noch immer heimsucht, wie das Gespenst des Kommunismus noch immer umgeht. Vieles, was Marx schrieb, und viele gesellschaftliche Gesetze, die er entdeckte, behalten ihre Richtigkeit noch heute.
1993, vier Jahre nach dem Fall der Mauer und zwei Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion, veröffentlichte der französische Philosoph Jacques Derrida ein Werk mit dem Titel «Marx’ Gespenster», in dem er zeigt, wie Marx wieder auflebt im Kampf gegen Krieg und ethnische und rassistische Gewalt, gegen Ausschluss, Ungleichheit, Hunger, wirtschaftliche Unterdrückung etc. Derrida schrieb gegen diejenigen, die Marx auf den Mülleimer der Geschichte werfen wollen: Es gebe wenige Texte in der philosophischen Tradition, «deren Lehren mir dringender erscheinen», und es gebe «keine Zukunft ohne Marx». Auch in der Welt der Kunst ist Marx lebendig. Buchstäblich so im Theaterstück «Marx in Soho», worin sich Howard Sinn vorstellt, was Marx zum heutigen New York sagen würde: «Auf dem Weg hierhin bin durch die Strassen Ihrer Stadt gelaufen. Ich bin über stinkenden Abfall hinweggeschritten, neben den Körpern von Männern und Frauen, die auf dem Trottoir schlafen, eng aneinander, um gegen die Kälte zu kämpfen. Von einem Jungen hörte ich: ‹Ein bisschen Geld, bitte, für eine Tasse Kaffee.› Das nennen Sie Fortschritt, weil Sie motorisierte Fahrzeuge haben und Telefone und Flugmaschinen und tausend Parfüms, um gut zu riechen? Und die Menschen, die auf der Strasse schlafen? Marx wird wütend: Ich hatte Unrecht, als ich 1848 dachte, der Kapitalismus läge im Sterben. Meine Überlegungen waren vielleicht verfrüht, vielleicht um 200 Jahre, sagt er mit einem Lächeln, aber es wird sich ändern. Alle gegenwärtigen Systeme werden sich ändern. Die Menschen sind keine IdiotInnen. Täuschen Sie sich nicht! Es ist schon passiert und es kann sich wiederholen. Der Kapitalismus schaufelt sein eigenes Grab. Sein unstillbarer Hunger nach Profit – mehr, mehr, mehr! – gebiert eine Welt des Chaos. Er verändert alles – Kunst, Literatur, Musik, die Schönheit selbst, wird zur käuflichen Ware. Er verwandelt die Menschen selbst in Waren. Aber nicht nur die ArbeiterInnen am Fliessband, auch die ÄrztInnen, WissenschaftlerInnen, JuristInnen, DichterInnen, KünstlerInnen – alle müssen sich verkaufen, um zu überleben.»

Das Erbe von Marx
Die Basis von Marx’ ökonomischen Analysen bleiben auch heute grösstenteils gültig, weil sich das kapitalistische System in seiner Gier nach Profit nicht grundsätzlich geändert hat. Der «Sieg» des Kapitalismus über die sozialistischen Staaten hat keinesfalls seine Widersprüche verschwinden lassen. Oft liegt für die Individuen der einzige Ausweg aus der sozialen Verzweiflung und der ökonomischen Not in der Flucht in Anarchismus, Individualismus, Nihilismus oder in der Religion. Der Philosoph Georges Labica meint, man müsse Vertrauen in die Geschichte haben, die nicht zur ewigen Bewegungslosigkeit verdammt ist. Dies zeige sich bei den Errungenschaften der sozialen Bewegungen zeigt, die sich ständig erneuern. Vielleicht muss man sich der vielfältigen Quellen des Sozialismus rückbesinnen, sich in ein reicheres, freieres und schillernderes Denken vor dem Einschlafen des Marxismus zurückversetzen, auch wenn dies eine ganze Reihe Naivität und unrealistische Ideen mit sich bringen würde. Dies hätte zumindest den Vorzug, auf das Erbe der Menschenrechte und der Freiheit zurückzugehen. Oder vielleicht braucht es eine moderne Rekonstruktion der «Kapitals», in welchem die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft fortgesetzt wird. Man sieht jedenfalls, dass es heute keine grössere Wahrheit gibt, die sich nicht mit dem Erbe von Marx befassen muss.

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