Klassenkämpferische BaumeisterInnen

baustelleDer Baumeisterverband hat es abermals abgelehnt, die Verhandlungen über den Landesmantelvertrag (LMV) im Baugewerbe wieder aufzunehmen. Er macht aus der Gewerkschaft Unia den Sündenbock, betreibt in Wirklichkeit aber einen gnadenlosen Klassenkampf von oben gegen die BauarbeiterInnen.

Die Arbeit auf dem Bau ist hart. Verletzungen sind häufig, Todesfälle nicht unbekannt: 2013 starben 21 Bauarbeiter auf Baustellen in der Schweiz. Und unter solchen miserablen Bedingungen haben die ArbeiterInnen noch für mickrige Dumpinglöhne zu schuften. Die BaumeisterInnen greifen tief in die Trickkiste, um ihre Untergebenen auszubeuten: Ein Beispiel ist die Baufirma Feldmann in Zürch-Schwamendingen. Das Unternehmen unterhält eine kleine Stammbelegschaft, bei der es die Regeln des LMV einhält. Gleichzeitig lagert es alle möglichen Arbeiten an Subunternehmen aus. Bei diesen findet dann das Lohndumping statt. Fällt der «Bschiss» auf, wird das Subunternehmen einfach ausgewechselt und die Firma kann sich in Unschuld baden.

Die Bauunternehmen streichen derweil märchenhafte Gewinne ein. Die Konjunktur der letzten Jahre war glänzend. «Die Gewinnmargen haben in den letzten Jahren enorm zugenommen – im Hochbau verdoppelt, im Tiefbau gar verdreifacht», berichtet Nico Lutz, Leiter im Sektor Bau der Unia. Die ArbeiterInnen haben davon nichts gesehen. Lohnforderungen von 150 Franken stiessen bei den Bauherren und -damen auf taube Ohren.

«Mehr als nur grosszügig»

Nun fürchtet der Baumeisterverband, dass die Wachstumsphase der Bauwirtschaft ihren Höhepunkt überschritten hat. Für 2015 erwartet er «einen leichten Rückgang der Bautätigkeit». Grund genug, um im Klassenkampf von oben verstärkt zum Angriff zu blasen. Auf der Delegiertenversammlung im Mai hat sich der Baumeisterverband erneut einer Wiederaufnahme der Verhandlungen über den LMV verweigert. Die Schuld für die Blockade wird der Unia zugeschoben: Mit ihrer «Fachstelle Risikoanalyse», mit der die Gewerkschaft Subunternehmen auf deren Arbeitsbedingungen überprüft, würde sie die «Sozialpartnerschaft unterlaufen». «Selbstlos» erklärten sich die BaumeisterInnen aber bereit, den laufenden LMV über 2015 hinaus zu verlängern – jedoch nur in unveränderter Form. Laut Gian-Luca Lardi, Zentralpräsident des Baumeisterverbands, sei es «ja wirklich mehr als nur grosszügig, einen so arbeitnehmerfreundlichen Gesamtarbeitsvertrag wie den LMV unverändert zu verlängern». Der Status quo wäre grosszügig genug für die BauarbeiterInnen, meint also der Baumeisterverband. Verbesserungen wie ein Schlechtwetterschutz sollen weg vom Verhandlungstisch. Im Gespräch mit der Unia-Zeitung work macht Nico Lutz klar: «Die Fachstelle Risikoanalyse der Zürcher Unia nehmen die Patrons nur als Vorwand, um Verhandlungen zu blockieren. Wir haben den Arbeitgebern nämlich mehrmals angeboten, zusammen ein Branchenregister aufzubauen, das Auskunft gibt, ob sich eine Firma bisher an den Vertrag gehalten hat. Sie haben bisher alles abgelehnt.» Die BauarbeiterInnen seien laut Lutz bereit, für ihre Forderungen zu kämpfen. Aller Voraussicht nach werden sie kämpfen müssen.

Aus der Printausgabe vom 5. Juni 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Nein zur grenzenlosen Präimplantationsdiagnostik

präAm 14. Juni entscheiden die Stimmberechtigten der Schweiz über die Legalisierung der Präimplantationsdiagnostik (PID). Die Partei der Arbeit unterstützt das Referendum dagegen. Die PID ist eine medizinische Untersuchung des Embryos bei einer künstlichen Befruchtung. Sie kann verwendet werden, um Körpermerkmale wie Geschlecht, Haarfarbe und Augenfarbe sowie Erbkrankheiten und/oder Abweichungen in der Körperstruktur des Embryos zu erkennen. Bisher ist die PID in der Schweiz verboten. 2011 wollte der Bundesrat dieses Verbot lockern und wollte es Paaren mit schwerwiegenden Erbkrankheiten gestatten von der PID Gebrauch zu machen. Im Parlament wurde diese Lockerung ausgeweitet auf alle Paare, die eine künstliche Befruchtung durchführen lassen. Gegen diese Legalisierung der PID wurde sodann das Referendum ergriffen, welches die Partei der Arbeit unterstützt.

Im Sinne des Kosten-Nutzen-Denkens

Mit der PID wird es möglich werden bestimmte Embryonen anderen vorzuziehen. Diese Auswahl kann dazu führen, dass Embryonen mit einer abweichenden Körperstruktur (z.B. mit einem Down-Syndrom) systematisch verworfen werden. In diesem Moment wird darüber entschieden, welches Leben lebenswert und welches lebensunwert ist. Die Entscheidungsgrundlage bildet dabei die Leistungsgesellschaft. Auf der Befürworterseite wird damit argumentiert, dass mit der PID viel Leid bei Betroffenen und Angehörigen verhindert werden könne. Es bleibt dabei unerwähnt, dass das meiste Leid durch Stigmatisierung und Leistungsideologie entsteht. Die kalte kapitalistische Logik selektioniert die Menschen in produktive und unproduktive Kräfte, was auch bei Menschen ohne Beeinträchtigung viel Leid verursacht. Nur ein integratives Gesellschaftssystem, in welchem jeder und jede sich nach seinen Bedürfnissen entwickeln kann, würde dieses Leid verhindern.

Als weiteres Argument wird von den BefürworterInnen aufgeführt, dass die betroffenen Paare frei entscheiden könnten, ob sie zur PID greifen wollen oder nicht. Es besteht jedoch die Gefahr, dass diese so genannt freie Entscheidung schon bald einmal nicht mehr so frei sein wird. Im Sinne eines Kosten-Nutzen-Denkens könnten zukünftige Eltern schon bald einmal vor die Entscheidung gestellt werden, einer PID-Untersuchung entweder zuzustimmen oder das Risiko eines Kindes mit Behinderung in eigener Verantwortung und mit eigenen finanziellen Mitteln zu tragen. Gerade in Zeiten von Kostenoptimierung und Sparmassnahmen ist dies kein unrealistisches Szenario. Dies trifft dann wie fast immer vor allem die Familien der ArbeiterInnenklasse, für welche schon heute behinderte Kinder in finanzieller Hinsicht eine grosse Herausforderung darstellen. Die existierenden Hilfestellungen sind insbesondere für solche Familien noch immer ungenügend. Somit würde den zukünftigen Eltern am meisten geholfen, wenn sie sich keine Sorgen über die Zukunft eines behinderten Kindes machen müssten und wüssten, dass die benötigten Hilfeleistungen ohne Wenn und Aber zur Verfügung stünden.

Stigmatisierung von Behinderten

Mit der Legalisierung von PID wird der Stigmatisierung von Behinderten und generell von der Norm abweichenden Menschen Vorschub geleistet. Schon heute werden Eltern von behinderten Kinder zum Teil mit Misstrauen beäugt. Statt Unterstützung liegt der Vorwurf in der Luft, dass sie die Behinderung nicht verhindert hätten und somit vorsätzlich eine Belastung für die Gesellschaft «produziert» hätten. Abgesehen davon, dass sich nie alle Behinderungen durch pränatale Tests verhindern lassen, da die meisten Behinderungen peri bzw. postnatal entstehen, wird es immer Menschen geben, welche nicht ins Bild passen und die wirtschaftlichen Leistungsanforderungen nicht erfüllen. Wenn man bedenkt, dass die Norm durch den Durchschnitt definiert wird, bedeutet dies nichts anderes, als dass sich der Leistungsdruck auf uns alle erhöht, sobald man sich den aktuell Schwächsten entledigt.

Die Partei der Arbeit ist der Ansicht, dass es bei der Legalisierung des PID nur vordergründig darum geht, zukünftige Eltern zu entlasten. Es geht vielmehr darum, Menschen zu verhindern, die den Leistungsstandards einer kapitalistischen Gesellschaft nicht genügen.

 

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Wiederaufbau in Kobanê

Vor-einem-Wiederaufbau-muss-Kobane-wieder-sicher-gemacht-werdenVor vier Monaten befreiten die Volks- und Frauenselbstverteidigungseinheiten YPG und YPJ die Stadt Kobanê vom selbsternannten Islamischen Staat (IS). Geblieben ist eine zerbombte Stadt, kaum ein Haus steht unversehrt, ganze Strassenzüge wurden dem Erdboden gleich gemacht. Geblieben ist aber auch die Freude und der Stolz, den als unbesiegbar geltenden IS vertrieben zu haben. Für die Bevölkerung von Kobanê war klar: «Wir bauen unsere Stadt wieder auf!» Trotzdem kommt alles nur zögerlich voran. Schuld daran ist nicht zuletzt die Türkei, die alles dran setzt, das Embargo gegen Rojava aufrechtzuerhalten und die Grenze nach Kobanê möglichst dicht zu halten.

Nach 135 Tagen Belagerung konnten die YPG und YPJ den IS am 26. Januar 2015 aus der Stadt Kobanê vertreiben und somit ihr emanzipatorisches Projekt erfolgreich verteidigen. Auch wenn Kobanê schon lange keine Schlagzeilen mehr macht, ist der Krieg nicht vorbei. Die Front ist nun etwa 50 Kilometer von der Stadt entfernt, und nach wie vor ist der Kanton Kobanê von allen Seiten vom IS umzingelt, bis auf die Grenze mit der Türkei. Die YPG und YPJ befreien ein Dorf nach dem anderen, doch alle befreiten Gebiete müssen zuerst sorgfältig nach Minen und vom IS gelegten Sprengfallen untersucht werden, bevor die Bevölkerung zurück kann. Zurzeit häufen sich die Gerüchte, dass die türkische Regierung in Syrien einmarschieren und eine Pufferzone einrichten möchte, offiziell um den syrischen Präsidenten Assad zu stürzen. Diese Pufferzone, mit der der türkische Staatspräsident Erdogan bereits letzten Herbst drohte, richtet sich auch diesmal nicht gegen den IS, sondern primär gegen das selbstverwaltete Projekt in Rojava und die KurdInnen in der ganzen Region.

Was viele im Herbst leise wünschten, wurde lauthals Ende Januar verkündet: «Wir sehen uns zu Newroz in Kobanê!» Das kurdische Frühlingsfest, das seit Jahren auch als politisches Symbol des Widerstandes gilt, konnte zwar nur im kleinen Rahmen von ein paar Tausend Menschen in Kobanê gefeiert werden – und erst noch unter strömendem Regen. Doch dieser Tag war unvergesslich. Über eine Million Menschen wären gekommen, wenn die Türkei nicht die Grenze zugemacht hätte; auch illegal war es um den 21. März besonders schwierig rüber zu kommen. Zudem wurde die Lage als zu gefährlich eingeschätzt: Die Hänge vom Mistenur-Hügel, ein strategisch wichtiger Punkt, sind noch voll Minen und Blindgänger. Ausserdem wurden über 40 Personen in Haseke (Kanton Cizîre) durch einen Selbstmordanschlag des IS während der Newrozfeier am 20. März umgebracht. Deshalb wurde zwar beschlossen, das Newrozfest durchzuführen, aber nur mit den Leute von Kobanê selbst, am westlichen Stadtrand, wo der IS nie vordringen konnte und es somit keine Minen hat.

Newroz in Kobanê

Trotz Regen und Kälte ist die Stimmung feierlich, überall wird getanzt. Als dann aber ein Laientheaterensemble und einige Guerilla-KämpferInnen ein Stück über den Widerstand von Kobanê spielen, wird die Stimmung augenblicklich schwermütig. Sie spielen nach, wie die Bevölkerung fliehen musste, die Angst und Verzweiflung sind deutlich spürbar, fast zu real, neben mir weint ein gestandener Herr und wohl kein Auge bleibt ganz trocken. Alle folgen gebannt den Ereignissen, voller Sorge, obwohl wir ja alle wissen, dass es gut ausgehen würde.

Der Krieg und die Trauer sind ständige Begleiter, doch jedes Fest, jedes Lachen, jeder Tanz und jedes Lied sind kleine Akte des Widerstandes gegen den IS, der solche Tätigkeiten als Blasphemien betrachtet und strengstens verbietet. Als später eine kurdische Rockband ihr Bestes gibt, fordert uns eine junge Kämpferin zum Tanzen auf, ihr Gesicht strahlt und ihre Energie steckt alle an. Vergessen die nassen Kleider, wir tanzen im Schlamm wie an einem Open-Air. Hevala Rûken, so ihr Name, habe auch in den schlimmsten Zeiten gelacht und den anderen Mut gemacht, erzählt uns Mustafa Ali. Er ist Journalist bei der kurdischen Nachrichtenagentur ANHA und lebt in Kobanê. Er ist fast die ganze Zeit in der Stadt geblieben und gehörte somit zur kleinen Gruppe lokaler JournalistInnen, die die Welt damals über die Geschehnisse in Kobanê auf dem Laufenden hielten. Im improvisierten Pressezentrum betreuten sie auch die wenigen ausländischen JournalistInnen, sorgten für ihre Sicherheit, brachten sie zur Front, organisierten GesprächspartnerInnen, dolmetschten die Interviews – und tun dies auch heute noch.

Mustafa Ali hat uns die Stadt gezeigt, die Kriegsschauplätze. Er erzählt vom Mut der KämpferInnen, die die Stadt auch dann verteidigten, als der Rest der Welt den Sieg des IS voraussagte. Stolz in seiner Stimme, aber auch Trauer, viele sind gefallen. Wir laufen durch die Ruinen, gewisse Strassenzüge sind vollkommen zerstört, andere Quartiere sind besser dran, doch überall sind Einschusslöcher, die Strassen voller Schutt und kaputtem Mobiliar, da eine zerfetzte Bibliothek, dort ein zerbombter Coiffeursalon, überall Spuren des früheren Alltags zwischen den Trümmern. Ein Bagger aus der Stadt Amed (Diyarbakir auf Türkisch) fährt an uns vorbei, die Männer tragen Handschuhe und Masken, ein ekelhafter Geruch begleitet sie, sie räumen IS-Leichen weg. Noch heute, zwei Monate nach unserem Besuch, werden Leichen gefunden.

Wir treffen immer wieder auf Menschen, die vor Kurzem zurückgekehrt sind. Sie tragen Schutt weg, retten, was noch irgendwie brauchbar ist aus den Trümmern, und versuchen ihre Häuser wieder bewohnbar zu machen. Ihr Unterfangen kommt mir oft ziemlich aussichtslos vor, zumal es an allem fehlt: Maschinen, Werkzeugen, Baumaterial; die Türkei lässt nichts rein. Aber die Leute scheint das nicht zu verunsichern: Der IS wurde vertrieben, wir sind wieder zurück, das Leben geht weiter.

Aufbruchsstimmung

Tatsächlich kehrt das Leben zurück. Die Stadt liegt in Trümmern, aber sie wirkt nicht gespenstig. Die Rückkehr hat auch eine Kehrseite: Die Vorräte an Mehl und Öl der einzigen Bäckerei reichen nicht mehr lange, jetzt wo die Leute zurückkehren, braucht es viel mehr Brot, mehr als 40 Tonnen pro Tag. Fewziya Ebdê, Ko-Präsidentin des Parlaments von Kobanê, erklärt uns in einem Telefoninterview Mitte Mai, dass sich die Situation bezüglich Lebensmittel ein wenig entspannt habe. Die Türkei lasse Lastwagen mit Nahrungsmitteln durch. Sie betont aber, dass es je nach Tagen mehr oder weniger gut funktioniere. Deshalb brauche es unbedingt internationalen Druck, damit die Türkei endlich die Grenze öffnet.

Am 2. und 3. Mai fand eine Konferenz zum Wiederaufbau von Kobanê in Amed statt. Mustafa Ali war vor Ort und sagte, dass sie sehr gut gelaufen sei. Ein Koordinationskomitee wurde gegründet, die Teilnehmenden konnten sich eine Übersicht über den aktuellen Zustand verschaffen und die notwendigen Schritte planen. Die kurdischen Gemeinden Amed und Wan (bzw. Van auf Türkisch) übernehmen den Wiederaufbau der Trinkwasser- und Kanalisationssysteme. Auch andere Städte und NGOs möchten sich beteiligen, internationale Brigaden sind geplant. Doch solange an der türkischen Grenze Willkür herrscht, kommt alles ins Stocken.

Tausend tickende Zeitbomben

SpezialistInnen sind gefragt, aber wir sehen vor allem Familien mit Kleinkindern, ältere Menschen. So viele Menschen, denen eigentlich alles fehlt, angefangen beim Dach über den Kopf. Die Nächte sind sehr kühl, es regnet immer wieder und der Wind tut noch das Seine, so dass die Kinder in der einzigen zur Zeit unseres Besuches offenen Schule den Mantel nicht ausziehen während dem Unterricht. Doch schaut man in die Gesichter der Leute, in ihre Augen, so sieht man nichts davon, nur Zuversicht und Stolz. Mustafa Ali und Fewziya Ebdê bestätigen beide, dass es bis heute so ist.

Nachdem wir die Schule besucht haben, begleiten wir ein paar internationale Aktivistinnen zu einem Gespräch mit der YPJ-Kommandantin Hevala Rengîn. Die KämpferInnen sind in der Stadt präsent, sorgen für die Sicherheit oder erholen sich von den Fronteinsätzen. Sie tragen ihre Uniformen und haben natürlich auch ihre Kalaschnikows dabei – doch sie spielen sich nie auf, sie strahlen Wärme aus, helfen mit, so dass die Stadt überhaupt nicht militarisiert wirkt, im Gegenteil. Beeindruckend ist, dass die Rolle der Frauen überall Thema ist, nicht nur bei den Kommandantinnen der YPJ. Auch die Kämpfer, auch die Menschen auf der Strasse, mit denen wir ins Gespräch kommen, erzählen uns von den mutigen Frauen und verkünden, dass dies die Revolution der Frauen sei. Es ist schön, in einem befreiten Gebiet zu sein, wo Utopien ernsthaft diskutiert werden und die Menschen an emanzipatorischen Veränderungen glauben und bereit sind, dafür zu kämpfen, auf den verschiedensten Ebenen und mit den verschiedensten Mitteln.

Gegen Ende des Gesprächs mit der Kommandantin hören wir plötzlich eine Detonation. Alle erstarren, fast wäre ich unter den Tisch gesprungen. Hevala Rengîn macht sich sofort auf dem Weg, wir folgen etwas zögernd. Sie improvisiert eine kleine Pressekonferenz für die ebenfalls angerannten JournalistInnen: «Das ist zurzeit unser grösstes Problem, darüber müsst ihr berichten. Heute wurde niemand verletzt. Aber viel zu viele Kinder sind schon gestorben, weil sie in den Trümmer gespielt haben und ein Blindgänger hochgegangen ist. Viel zu viele KämpferInnen sind schon bei der Räumung von Minen und Sprengfallen gestorben. Und das nur, weil keine MinenspezialistInnen da sind, um uns zu helfen, die Bomben sicher zu entschärfen und uns darin auszubilden.» Ich fragte mich all die Tage über: Wo bleibt die UNO? Wo die Anti-Minen-Teams? Wir überlegten uns ernsthaft, einen Anti-Minen-Hund zu kaufen und über die Grenze zu schmuggeln – erfuhren aber inzwischen, dass verschiedene NGOs am Thema dran sind. Fewziya Ebdê erzählt uns, dass ein paar SpezialistInnen da waren zur Abklärung und sie Leute vor Ort ausbilden werden. Doch konnten sie ihre Arbeit noch nicht aufnehmen. Die UNO und die internationalen Organisationen würden sich an die Anweisungen der Türkei halten, und die lauten: Jegliche Hilfe muss über die AFAD, den offiziellen Katastrophendienst der Türkei, laufen, sprich dort stecken bleiben. Die Türkei will nicht zusehen, wie mit internationaler Unterstützung ein basisdemokratisches Projekt vor ihrer Nase aufgebaut wird, das nicht nur eine Zukunftsperspektive für die Menschen in Rojava, sondern auch eine Hoffnung für die kurdischen und anderen linken AktivistInnen in der Türkei darstellt.

 

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«Streik bleibt unumgänglich»

kitaIn Freiburg legte das Team der Kinderkrippe des Kantonsspitals die Arbeit nieder, um gegen die Privatisierung ihrer Krippe zu kämpfen. Nun soll die Leiterin der Kinderkrippe entlassen werden. Der Streik fand am 31. März statt. Als die Angestellten am 27. Januar von der beschlossenen Privatisierung Kenntnis genommen hatten, versuchten sie über den Dialog eine Verbesserung zu erlangen. Doch verweigerte ihnen die Spitaldirektion jegliche Diskussion. Der Streik war deshalb für das Personal das einzige Mittel, dagegen zu kämpfen. Ein Gespräch mit dem Regionalsekretär beim VPOD Region Freiburg.

Petra Thor: Die Demonstration ist soeben zu Ende gegangen. Wie ist die Mobilisierung gelungen?

Gaétan Zurkinden: Die Beteiligung war nicht schlecht. Es kamen zirka 200 Personen, das zeigt, dass viele Leute mit der Entlassung und der Privatisierung der Krippe nicht einverstanden sind.

Diese Demonstration richtet sich gegen die geplante Entlassung einer der Streikenden der Kinderkrippe, wo ein Tag lang gestreikt wurde. Weshalb wurde in der Kinderkrippe gestreikt?

Die Leitung des Kantonsspitals hat entschieden, die Krippe zu privatisieren. Privatisieren bedeutet, dass die Qualität der erbrachten Leistungen zurückgehen wird.

Was bedeutet das konkret?

Derzeit befindet sich die Krippe im Spital selber und ist voll auf die Bedürfnisse des Pflegepersonals ausgerichtet. Das zeigen zum Beispiel die Öffnungszeiten. Die Eltern haben auch die Möglichkeit, rasch vor Ort zu sein, falls was mit dem Kind wäre.

Die öffentliche Krippe im Spital würde also geschlossen und das Personal müsste eine private Krippe ausserhalb finden?

Da es in Zukunft eine private Krippe sein wird, werden sich Rentabilitätsfragen stellen. Das heisst meist weniger Personal und eine Einschränkung der Dienstleistungen und ja, die Krippe wird ausserhalb des Spitals sein. All das bedeutet mehr Schwierigkeiten, das Familien- und Berufsleben aufeinander abzustimmen.

Haben die Angestellten der Krippe vor dem Streik bereits Schritte unternommen?

Als die Privatisierung Ende Januar bekannt wurde, haben die Angestellten direkt mit unserer Gewerkschaft, dem VPOD, Kontakt aufgenommen. Alle waren gegen den Leistungsabbau und die schlechteren Arbeitsbedingungen. Wir haben also versucht, mit der Leitung zu sprechen, mussten aber rasch feststellen, dass diese von unseren Vorschlägen nichts hielt und an der Privatisierung festhielt. Ab einem gewissen Punkt war der Streik das einzige Mittel, um der Stimme des Personals Gehör zu verschaffen.

Bisher gab es weder seitens der Leitung des Kantonsspitals noch seitens des Regierungsrates positive Reaktionen. Hat der Streik also nichts genützt?

Die Behörden wählten einen repressiven Weg. Sie wollten nicht auf uns eingehen. Das hat die betroffenen Angestellten stark verunsichert. Dann wurde auch noch die Teamleiterin der Krippe entlassen. In der Tat gibt es bisher keine Anzeichen dafür, dass die Behörden auf unsere Forderungen eingehen wollen.

Ein wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit der Entlassung von Odile Claire war, dass der Staatsrat den Streik als nicht zulässig erklärte. Wie kam er zu diesem Schluss? Immerhin habt ihr das Gespräch gesucht und der Streik betrifft klar die Arbeitsbedingungen. Wie argumentiert denn der Staatsrat?

Nun, wir befinden uns offenbar in einem Kanton, wo der Staatsrat denkt, dass streiken illegal sei. Er stützt sich dabei auf einen Artikel im Staatspersonalgesetz. Das Problem ist, dass dieser Artikel nicht im Einklang mit der Bundesverfassung ist. Dort ist das Streikrecht verankert. Obwohl der kantonale Artikel nicht verfassungskonform ist, ist er für den Staatsrat wichtig, um Streikbewegungen zu zerschlagen. Deshalb wurden auch alle unter Druck gesetzt. Man drohte ihnen schriftlich mit der Entlassung, falls sie erneut streiken würden. An Odile wollen die Vorgesetzten ganz klar ein Exempel statuieren. Sie sagen, als Teamleiterin hätte sie sich loyaler verhalten sollen als die anderen.

Heute fand eine Demonstration statt. Was sind die nächsten Schritte in diesem Arbeitskampf?

Mit dieser Demonstration haben wir uns an die Leitung des Kantonsspitals und an den Staatsrat gerichtet. Der Ball ist nun bei ihnen. Falls sie nicht korrekt reagieren, müssen wir uns erneut mobilisieren und weiter Druck aufbauen.

Gibt es auch rechtliche Wege, die begangen werden können?

Nein, nicht direkt. Es ist nun eine politische Angelegenheit. Auf der einen Seite die Behörden, die behaupten, der Streik sei illegal. Auf der anderen die Gewerkschaft, die das Streikrecht der Angestellten verteidigt. Aber klar, falls die Entlassung durchgesetzt werden sollte, bestehen für Odile juristische Rekursmöglichkeiten. Solche Verfahren dauern allerdings lange und sie könnte dabei vieles verlieren.

Viele Streiks in der Schweiz enden mit Entlassungen der Streikenden. Die ArbeiterInnenbewegung kann das Streikrecht nicht verteidigen und Kündigungen vermeiden. Führt diese Unfähigkeit bei den Arbeitenden zu Angst?

Das kommt schon darauf an. Es gab auch erfolgreiche Streiks. Wenn wir den Streik bei den Transport Public de Genève oder den Streik der Wäschereiangestellten in Marsens anschauen: beide waren ein Erfolg. Es gibt also keine allgemeinen Spielregeln. Generell ist der Streik ein nötiges Mittel, um sich zu verteidigen. Klar, wenn es für die ArbeitgeberInnen wichtig ist, etwas durchzusetzen, werden sie alles versuchen. In solchen Fällen muss auch die Gewerkschaft reagieren, um die Leute zu verteidigen. Das heisst, sie muss mobilisieren. Nur so können Niederlagen vermieden werden. Wenn man die Arbeits- und Lohnbedingungen verteidigen oder sogar Verbesserungen durchsetzen will, muss man einfach Druck aufsetzen können. Es geht hier um Kräfteverhältnisse. Diesen Druck kriegst du durch unterschiedliche Wege hin. Das kann mal eine Demonstration, eine Petition oder anderer ein Weg sein. Aber der Streik – das ist klar – bleibt ein unumgängliches Mittel.

 

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Gedränge in der Wandelhalle

Seit einigen Tagen wird das Thema Lobbyismus in den Schweizer Medien breitgetreten. Auslöser waren die zweifelhaften Machenschaften rund um eine Interpellation der FDP-Nationalrätin Christa Markwalder. Einmal mehr führt der Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit bürgerlicher Staatsgeschäfte zu hitzigen Diskussionen.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Am 21. Juni 2013 reichte die Berner FDP-Parlamentarierin Christa Markwalder im Nationalrat eine Interpellation ein. Darin stellte sie dem Bundesrat Fragen über das Verhältnis der Schweizer Regierung zum «Demokratisierungsprozess» in Kasachstan. Geschrieben hatte sie den parlamentarischen Vorstoss nicht selbst, sondern die PR-Firma Burson-Marstaller. Vermittelt wurde die Sache von einer Angestellten dieser Firma, der Lobbyistin Marie-Louise Baumann, die in der Wandelhalle, der Lobby des Bundeshauses, ein und aus geht. Soweit alles wie gehabt: Es ist keine Seltenheit, dass LobbyistInnen mit ihrem Expertenwissen Vorstösse für ParlamentarierInnen verfassen. Dummerweise hat die NZZ durch Recherchen herausgefunden, dass sich Baumanns Unternehmen für die Verfassung des Textes über 7000 Franken von einer vermeintlichen kasachischen Oppositionspartei auszahlen liess. Nur ist jene Partei gar keine waschechte Opposition im autoritär regierten Land und frisierte die Interpellation. Unter anderem wurde der Begriff «Menschenrechte» gestrichen. Zudem landeten interne Kommissionspapiere in den Händen der Partei. Darüber droht nun die blauäugige Frau Markwalder zu stolpern. Und so kam der Lobbyismus als Realität des Parlamentsalltages wieder einmal in die Schlagzeilen der grossen Medien.

Die Realität im Bundeshaus

Jedes Parlamentsmitglied im Bundeshaus hat die Möglichkeit, zwei Personen zu bestimmen, die einen privilegierten Zutritt zur Lobby erhalten. Neben persönlichen MitarbeiterInnen sind dies eben häufig Exemplare jener Gattung, die ein aufrechte Demokrat mit Skepsis begutachtet: Die LobbyistIn. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2011 kam zum Resultat, dass eine Kerngruppe von etwa 220 LobbyistInnen regelmässig im Bundeshaus anzutreffen sind. Doch die Interessensvertretung im Bundeshaus geht weiter: Die meisten ParlamentarierInnen des Schweizer Milizsystems sind mit all ihren Mandaten bei Unternehmen und Interessensgruppen im engeren Sinne nicht ungebunden. Die gescholtene Markwalder etwa ist mit einer 50-prozentigen Anstellung bei der Zurich-Versicherung im Bereich «Gouvermental Affairs» selber nahe am Lobbyismus angesiedelt. So dürfte es bloss eine Frage der Zeit sein, bis der nächste «Fall» von der Vierten Macht im Staat skandalisiert wird. Nächstes Mal stolpert dann vielleicht ein Unvorsichtiger über ein lukratives Verwaltungsratsmandat.

Grundsätzlich ist an Interessensvertretung im Parlament nichts einzuwenden, wenn man die bürgerlichen Spielregeln für vernünftig hält. Wer Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizer Gewerkschaftsbundes (SGB), wählt, der will gewerkschaftliche Interessen im Parlament vertreten wissen. Wer die Atomkraft länger am Netz haben will, der entscheidet sich für Urs Gasche, Verwaltungsrat der BKW AG in Bern. ParlamentarierInnen sind nun mal VertreterInnen bestimmter Interessen, dafür werden sie schliesslich gewählt. Und die LobbyistInnen in der Wandelhalle dürften in etwa den parlamentarischen Kräfteverhältnissen entsprechen, die nun wirklich allein vom Schweizer Stimmvolk verschuldet sind.

Zwischen Ideal und Realität

So skandalisieren die MeinungsmacherInnen auch meist nicht die Interessensvertretung an sich, sondern bestimmte Interessenvertretungen, die sich entweder ausserhalb der offiziellen Spielregeln bewegen oder aber ungebührlich über das Allgemeinwohl gestellt würden. Hier zeigt sich ein Widerspruch zwischen dem Ideal und der Realität bürgerlicher Staatsgeschäfte. Wer der Politik zustimmt, der muss auch mit den vermeintlichen Auswüchsen leben können. Schliesslich suchen sich Interessen immer ihre Kanäle und dehnen die Spielregeln dazu soweit sie können. Wer heute die Verschärfung der Regeln fordert, der wird morgen einen neuerlichen Verstoss beklagen, ohne sich über die gesellschaftlichen Bedingungen des Games Rechenschaft abzulegen. Statt in das Wehklagen über den überbordenden Lobbyismus einzustimmen, müsste eine radikale Kritik die Form der Politik in einer antagonistisch verfassten Gesellschaft zum Gegenstand haben.

Das Schweizer Allgemeininteresse

Der sozialdemokratische Nationalrat Andreas Gross sinnierte kürzlich in vollständiger Absehung von der Realität der Klassengesellschaft: «Von uns Parlamentarier wird erwartet, uns für das einzusetzen, was wir im Allgemeininteresse der Schweizer für richtig erachten. Wer nun aber einen Teil seines Lohns von einer Interessensorganisation bekommt, der denkt nicht mehr primär ans Allgemeininteresse, sondern vor allem an die Sonderinteressen jener, die ihn entlöhnen.» Das Allgemeininteresse bedeutet in einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft immer, das Funktionieren des nationalen Gesamtkapitals sicherzustellen. Die Reproduktion der Gesellschaft setzt dies voraus. Das schliesst ein, dass auch die ArbeiterInnen (als ausbeutbare Arbeitskräfte aber auch als potenzielle Störenfriede) berücksichtigt werden müssen. Es schliesst aber auch ein, dass bestimmte Interessensverbände – etwa die mächtigsten Kapitalfraktionen – zurückgebunden werden, wenn sie den Gesamtzusammenhang, die kapitalistische Klassengesellschaft, bedrohen. Das ist das eigentlich Stabile an der bürgerlichen Staatlichkeit und das was alle bürgerlichen Regierungen unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit organisieren müssen; mit allen furchtbaren Folgen. Da könnte man das Interessensgezänk in Wandelhalle und Parlament beinahe lieb gewinnen, zumal es die reale Zerrissenheit dieser Gesellschaft deutlich abbildet.

 

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Die zahnlose Erbschaftssteuer

Die Initiative zur Reform der Erbschaftssteuer tönt gut: Ein einheitliches System für die Schweiz, keine Ungleichbehandlung der ErbInnen, Geld für die AHV. Was uns Rot-Grün und die Christlich-Sozialen servieren, ist allerdings ein wässriges Süppchen. Reiche mit bis zwei Millionen Stutz kommen ungeschoren davon, Familienunternehmen mit 50 Millionen ebenso.

«Die Erbschaftssteuerreform will das heutige System nicht auf den Kopf stellen, sondern schlägt eine gezielte Anpassung vor.» Mit diesen Worten hat es Regula Rytz, Co-Präsidentin der Grünen, auf den Punkt gebracht. Am 14. Juni wird die Initiative zur Erbschaftssteuerreform den Stimmberechtigten zur Abstimmung vorgelegt. Lanciert wurde die Initiative von SP, Grünen, Gewerkschaftsbund und – etwas verdächtig – auch von der EVP. Im Kern geht es um Folgendes: Kantonale Erbschaftssteuern werden abgeschafft, stattdessen erhebt der Bund eine einheitliche Erbschafts- und Schenkungssteuer. Zwei Drittel der Einnahmen daraus gehen an die AHV, ein Drittel bleibt bei den Kantonen. Der Steuersatz beträgt 20 Prozent. So weit, so gut; obwohl der Steuersatz auch höher sein könnte. Grossbritannien und die USA mit 40 Prozent und Frankreich mit 45 Prozent sind in dieser Beziehung deutlich mutiger.

Steuerfreie Millionen

Um es allen recht zu machen, und mit «allen» ist das Kleinbürgertum gemeint, sind verschiedene Ergänzungen und Sonderregelungen hinzugefügt worden. Erstens erlässt die Erbschaftssteuer den Reichen einen Freibetrag von 2 Millionen Franken. Ein- bis zweifache MillionärInnen dürften also steuerfrei vererben. Das ist geschickt gemacht: Letztes Jahr wurde die Steuerbonusinitative der Partei der Arbeit Zürich (PdAZ) vom Bundesgericht für ungültig erklärt, weil es zu grosse «Brüche und Sprünge bei der Besteuerung» verursache. Mit dem Freibetrag wird ein solcher «Bruch» vermieden. EinE ErbIn von zwei Millionen und einem Franken muss nur 20 Rappen Steuern zahlen. Bei der PdAZ-Initiative, wo der Steuersatz von einem Prozent wesentlich milder gewesen wäre, hätte jemand mit 2999999 Franken Vermögen nichts, jemand mit 3 Millionen sofort 30000 Franken zahlen müssen. Allerdings bedeutet dieser Freibetrag auch, dass etliche Bonzen, die über ein Vermögen von nicht viel mehr als zwei Millionen verfügen, ziemlich gut davonkommen.

Zweitens sind Eheleute und PartnerInnen von der Erbschaftssteuer befreit. Das kann einigen Multimillionärsfamilien helfen. Beispielsweise kann eine Multimillionärin mit vier Millionen Franken den Kindern und der Lebenspartnerin je zwei Millionen vermachen, ohne Steuern zu bezahlen. Stirbt dann noch die Lebenspartnerin gibt es für die ErbInnen wieder zwei Millionen; insgesamt könnten sie auf diese Weise bis vier Millionen Franken steuerfrei erben. Für reiche Homosexuelle bedeutet die Reform tatsächlich einen Fortschritt. Gleichgeschlechtliche Paare in der Schweiz dürfen bekanntlich rechtlich keine Kinder adoptieren, auch nicht die Kinder des oder der PartnerIn. Die nicht leiblichen Kinder von homosexuellen Elternteilen werden dadurch vom kantonalen Erbrecht teilweise stark benachteiligt. Spitzenreiterin ist diesbezüglich Basel-Stadt, wo die Erbschaft an eineN NichtverwandteN mit bis zu 49 Prozent besteuert wird.

«Ein liberales Anliegen»

Die Initiative sieht für die allseits umworbenen KMU besondere Regelungen vor. Um Familienunternehmen nicht zu gefährden, gelten für Betriebe die mindestens zehn Jahre von den ErbInnen weitergeführt werden «besondere Ermässigungen». Im Initiativtext bleibt offen, wie diese konkret aussehen, sie sollen bloss den Weiterbestand der Betriebe nicht gefährden und Arbeitsplätze erhalten. Das Initiativkomitee spricht von einem Freibetrag von 50 Millionen Franken und einem Steuersatz von fünf statt 20 Prozent auf den Rest. Landwirtschaftliche Betriebe, die in der Familie bleiben, sollen sogar völlig steuerfrei wegkommen.

EVP-Präsidentin Marianne Streiff gibt zu verstehen, dass es sich nicht um eine wirtschaftsfeindliche Initiative handelt: «Die Initianten sind ganz bewusst darauf bedacht, mit der Erbschaftssteuerreform Familienunternehmen und Bauernhöfe (…) zu schonen.» Und Parteikollege Heiner Studer sagt offen: «Tatsächlich ist es ein liberales Anliegen.»

Bürgerliche Parolen

Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften unterstützen das Vorhaben, wobei sie dabei die sozialen Aspekte der Erbschaftssteuerreform hervorheben. Die Schweiz stünde unter den OECD-Ländern in Sachen Vermögenskonzentration auf dem ersten Platz. Zwei Prozent der Schweizer SteuerzahlerInnen besitzen soviel wie die übrigen 98 Prozent, schreibt die SP in ihrem Argumentarium. Damit will sie wohl an das Motto der Occupy-Bewegung anknüpfen: Wir unteren 99 Prozent gegen das obere eine Prozent. Eine sozialistische Position ist das nicht. Zu den unteren 99 Prozent gehören in der Schweiz laut der Vermögensstatistik 2011 immerhin alle Steuerpflichtigen mit bis drei Millionen Franken und zu den unteren 98 Prozent noch Menschen mit zwei Millionen Franken Vermögen. Die Interessen von MillionärInnen dürften sich doch deutlich von denen der ArbeiterInnen unterscheiden.

Gewerkschaftsbund-Präsident Paul Rechsteiner bringt hingegen ein recht vernünftiges Argument zur Sprache, das für die Initiative spricht, namentlich die Anbindung der Steuer an die AHV: «Dass die reichsten der Erblasser mit der Erbschaftssteuer einen Zusatzbeitrag an die AHV leisten, sorgt für ein Stück Ausgleich innerhalb der betagten Generation der Bevölkerung, was umso wichtiger ist, als sich die finanziellen und sozialen Gegensätze im Alter verschärfen.» Und doch greift auch diese Seite immer wieder auf erzbürgerliche Parolen zurück. In der Gewerkschaftszeitung work stellt der Ökonom Volker Grossmann klar, dass man nicht links sein muss, um mit Ja zu stimmen: «Das ist keine Frage der Gerechtigkeit, sondern der gesamtwirtschaftlichen Effizienz.» Es geht darum «Anreize» zu schaffen, damit sich Leistung lohnt. Die «Leistungsgesellschaft» soll nicht zur Farce verkommen. Mit anderen Worten: Der Kapitalismus soll gerettet werden.

Die Initiative zur Erbschaftssteuerreform macht Kompromisse, wo sie nur kann. Um kleinbürgerliche Stimmen zu gewinnen, hat man einem sinnvollen Anliegen alle Zähne gezogen. Die Rechnung ist nicht aufgegangen: Die restlichen bürgerlichen Parteien lehnen die Initiative allesamt ab. Damit ist der Ausgang der Abstimmung wohl besiegelt. Die Partei der Arbeit hätte an ihren Prinzipien festhalten und die Nein-Parole beschliessen sollen. Eine Erbschaftssteuer mit tiefem Steuersatz und einem Freipass für MillionärInnen ist nicht unterstützenswert. Es muss nicht jeder Furz der linken Parteien mitgemacht werden.

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Die Intervention geht weiter

Mideast Saudi Arabia Air ForceSaudi-Arabien führt die Bombardements im Jemen trotz gegenteiliger Ankündigung weiter. Die Militärintervention hat mittlerweile über tausend Menschenleben gefordert sowie mehr als das Dreifache an Verletzten.

Weniger als einen Monat nach Beginn der Intervention im Jemen seitens Saudi-Arabiens verkündete die Militärführung in Riad das Ende der Operation «Sturm der Entschlossenheit». Der jemenitische Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi im saudischen Exil glaubte, «dass die wichtigsten Ziele der Operation am Boden erreicht seien, dass die Legitimität seiner Regierung gesichert sei und die Bürger Jemens nicht mehr in Gefahr wären wie zuvor». Auf sein «Ersuchen» hin sollte die Operation nun beendet werden. Wer dies als das Ende der Militärintervention interpretierte, lag falsch. Um die Präsenz der Regierung auf dem Territorium Jemens zu verstärken und dem Volk Sicherheit und Stabilität zu bringen, wurde bloss eine neue Phase der Intervention eingeläutet, die Operation «Wiederherstellung der Hoffnung». Die neue Operation bedeutet in Wirklichkeit die Fortsetzung der Luftangriffe durch die von Saudi-Arabien angeführte Kriegskoalition.

Präsident ohne Legitimation

Die Militärintervention durch die Saudis begann am 26. März und hat das Ziel, den jementischen Präsidenten Hadi, der im Januar gestürzt wurde, wieder an die Macht zu bomben. Die schiitischen sogenannten Huthi-RebellInnen, aber auch ein grosser Teil der regulären Streitkräfte im Jemen, darunter Luftwaffe und Spezialeinheiten, stehen in Opposition zum ehemaligen Machthaber. Die Mehrheit des Militärs ist noch immer dem Vorgänger Hadis treu, Ali Abdullah Saleh, der nach den Massendemonstration der jemenitischen Version des «Arabischen Frühlings» von den USA zum Rücktritt gezwungen worden war. Der gegenwärtige offizielle Amtsinhaber Hadi wurde von den Monarchien der arabischen Halbinsel und der US-Regierung zum Nachfolger bestimmt. In einer Wahl 2012 wurde er «demokratisch» legitimiert: Es ergab sich eine Zustimmung von 99,8 Prozent für Hadi, wobei er als einziger Kandidat zur Auswahl stand.

UN-gestützte Aggression

Mitte April hat sich nun auch der UN-Sicherheitsrat dazu herabgelassen, einige Worte über die saudische Aggression zu verlieren. Die Resolution, die von 14 der 15 Mitglieder des Sicherheitsrates gebilligt wurde, stellt sich auf Seiten Saudi-Arabiens und verurteilt einzig die Gewalt der RebellInnen. Während von den US-treuen Regierungen nichts anderes zu erwarten war, da die Intervention auf den ausdrücklichen Segen und die logistische Unterstützung der USA zählen kann, gibt das Verhalten Chinas und Venezuelas, die beide der Resolution zugestimmt haben, zu denken. Für China habe die «Einheit, Souveränität und territoriale Integrität» des Jemens Priorität und der Konflikt solle auf friedlichem Weg durch Dialog gelöst werden. Auch Venezuela pocht auf eine politische Lösung und kritisiert bloss, dass nicht alle Parteien in die Gespräche einbezogen werden. Eine friedliche Lösung, wie sie die beiden Länder vorschlagen, kann aber nur ein frommer Wunsch bleiben, wenn nur eine Seite dazu aufgefordert wird. Russland hat als einziges Land sich wenigstens eine Zustimmung zur Resolution verweigert. Wie der russische Vertreter richtig bemerkt, werden darin nicht beide Seiten zum Ende der Gewalt aufgerufen.

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Post-GAV als Katastrophe?

muelligen-originalDer neue GAV für die Post ist beschlossene Sache. Syndicom und transfair sehen ihn als Erfolg. Die kleinere «Schweizerische Autonome Pöstlergewerkschaft» (SAP) hingegen spricht von einer Katastrophe, die besonders gewerkschaftliche AktivistInnen treffe, und kündigt Kampfmassnahmen an. Die Gewerkschaftsdelegation, die den neuen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) ausgehandelt hat, schaue «mit Zufriedenheit und einem bisschen Stolz auf das Erreichte», das «ausgewogen und akzeptabel» sei, schreibt der syndicom-Präsident Alain Carrupt in einem GAV-Extrablatt. «Eine Katastrophe» ist der GAV hingegen für die kleinere «Schweizerische Autonome Pöstlergewerkschaft» (SAP), überdies macht sie den grösseren Konkurrenzgewerkschaften heftige Vorwürfe. Was ist geschehen?

Seit August 2013 verhandelten die Post und die ihr angegliederten Unternehmen mit den beiden Gewerkschaften syndicom und transfair über einen neuen GAV. Es schien ein zähes Ringen gewesen zu sein. Über Monate wurden die Verhandlungen sogar ausgesetzt. Das allerdings darf nicht verwundern, denn der alte Vertrag ist seit 2002 in Kraft. Und vor über zehn Jahren konnte sich noch kaum jemand die heutige Wirtschaftslage ausmalen, dafür war die Umwandlung des Staatsunternehmens in eine spezialgesetzliche Aktiengesellschaft schon in vollem Gange. Eine AG ist die Post seit Neujahr 2013, den Beamtenstatus verloren die PöstlerInnen jedoch bereits 2001 mit der Inkraftsetzung des neuen Bundespersonalgesetzes.

Nun ist der neue Vertrag also unter Dach und Fach. Rund Dreiviertel der 250 Gewerkschaftsdelegierten haben in Bern für seine Annahme gestimmt, wobei die Zustimmung der Angestellten der Post AG nur 66 Prozent erreichte. Unterstellt sind dem GAV rund 60000 Angestellte der Post AG, der PostFinance AG und der PostAuto Schweiz AG sowie neu auch die ChauffeurInnen der privaten PostautobetreiberInnen. Das war eine der gewerkschaftlichen Forderungen. «Alles Gelbe» gehöre «unter ein Dach». Den neuen, manchmal auch als «modernisiert» bezeichneten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen begegneten die Gewerkschaften zudem mit dem Motto «Umbau ja – Abbau nein». Aber offenbar besteht bei den ArbeiterInnen der Post keine Einigkeit darüber, was einen «Abbau» genau ausmacht.

SAP sieht betriebliche AktivistInnen in Gefahr

Fakt ist, dass der neue GAV durchaus einige Verbesserungen beinhaltet. Im Detail sticht hier besonders die ausgedehnte Abdeckung hervor, die neu auch Lernende, Aushilfen sowie das erwähnte private Busfahrpersonal mit einschliesst. Doch bereits mit diesem Punkt waren nicht alle ChauffeurInnen zufrieden. So legte fast die Hälfte aller Berner ChauffeurInnen mittels einer Petition ihren Widerspruch ein. Grund war die Reduktion der Zuschläge für Sonntags- und Nachtarbeit, welche die oppositionellen BusfahrerInnen als eine Folge der Ausweitung des GAVs sehen.

Auf Verbesserungen können hingegen frischgebackene Mütter und Väter zählen, deren Urlaubstage merklich erhöht werden. Zudem sind die verschiedenen Lohnzulagen neu in der Pensionskasse versichert und damit rentenbildend. So viel zum Positiven.

Doch für Olivier Cottagnoud, Präsident der Basisgewerkschaft SAP, überwiegen eindeutig die Verschlechterungen. Am schlimmsten sei der Wegfall der garantierten Wiedereinstellung im Falle einer missbräuchlichen Kündigung. Künftig erhalten illegal Gekündigte 12 Monatslöhne ausbezahlt. Syndicom hält das für einen präventiven Schutz, nicht so Cottagnoud: «Für die Post ist das nicht schlimm, sie hat das Geld dazu!» Doch für die engagierten Leute an der Front sei das bedrohlich. Schon heute sei es schwierig, die KollegInnen für den Kampf zu motivieren, da viele Repressalien fürchteten. Bruno Schmucki, Mediensprecher von syndicom, hält dem entgegen, dass der Paragraph zur Wiedereinstellung ohnehin kaum zur Anwendung gekommen sei und dass neu der Preis für eine Kündigung deutlich gestiegen sei und so durchaus präventiven Charakter habe. Cottagnoud dagegen fragt rhetorisch: «Warum war es der Post denn ein Anliegen, dass dieser Kündigungsschutz wegfällt, wenn er doch kaum zur Anwendung kam?»

Weitere Einbussen muss das Personal bei den Treueprämien machen, aber auch bei der Arbeitszeit, die partiell leicht erhöht wird. Weiter wird den Postangestellten noch immer lediglich eine 15-minütige bezahlte Pause gewährt, aber auch nur dann, wenn sie vorher bereits 3,5 Stunden gearbeitet haben. Weiter entfällt die automatische Lohnerhöhung abgestuft nach Anstellungsdauer. An ihrer Stelle tritt die individuelle Leistungserhöhung. Dieser individuelle Lohnanteil macht zwar bloss 0,4 Prozent aus, war gemäss Schmucki aber nicht verhandelbar. «Hier zeigte sich die ideologische Seite der Post».

Von «Stellvertreterpolitik» und «Geheimverhandlungen»

Auch ein dezidiert linker Zürcher Briefträger, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, sagt dem vorwärts: «Bei aller berechtigten Kritik an den Gewerkschaften; es ist die Post, die einen schlechteren GAV wollte!» Doch unter den KollegInnen sei die Enttäuschung dennoch verbreitet. Auch Cottagnoud weiss von Frustrierten, die nun der syndicom den Rücken zukehren. Doch weshalb hat die Basis, wenn auch weit weniger klar als in anderen Jahren, den GAV durchgewinkt? «Eigentlich wollte man mit einer Mobilisierungsgruppe kontinuierlich Druck aufbauen», erinnert sich der Zürcher Briefträger, «doch alle Versuche in diese Richtung wurden von oben demobilisiert.» Unter den KollegInnen seien die GAV-Verhandlungen als Geheimverhandlungen wahrgenommen worden. «Wie soll Druck aufgebaut werden, wenn kaum Informationen an die Basis gelangen?» Der monatelange Verhandlungsunterbruch sei etwa eine Folge der Kritik an dieser Arbeitsweise gewesen. Dabei bemühte sich syndicom, Transparenz zu schaffen und setzte ein 50-köpfiges «Soundigboard» ein, eine Beobachtungsgruppe, die den Prozess begleitete. Das kampflose Abschliessen des GAVs ist für den Briefträger auch eine Folge längjähriger «Stellvertreterpolitik» der Gewerkschaften.

Die autonome PöstlerInnen der SAP teilen diese Kritik: «Das, was die Gewerkschaften in den noblen Salons nicht erreichen, müssen sie sich erkämpfen! Doch an den Kampf sind sie nicht mehr gewohnt.» Deshalb gründeten gewerkschaftliche DissidentInnen vor zehn Jahren die SAP, die ständig wachsend, heute rund 700 Mitglieder zählt, kein Geld von der Post erhält, dafür in einem internationalen Netzwerk von Basisgewerkschaften vernetzt ist und auch mal nach Tunis an das Weltsozialforum reist. Von den GAV-Verhandlungen war sie hingegen ausgeschlossen, trotz unzähliger Einsprüche, zuletzt beim Bundesgericht. Dafür hat sie nun eine Klage bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) eingereicht und möchte sich, wenn auch nicht mehr mit Streik, so doch mit symbolischen Kampfmassnahmen gegen den neuen GAV äussern.

 

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Neonazis gegen Kapitalismus?

May Day In Germany: RostockDie heutigen Nazis lassen häufig antikapitalistische und antiimperialistische Töne von sich hören. In Deutschland hat sich der sogenannte Strasserismus in den 90er Jahren durchsetzen können, sodass auch die NPD für eine «antikapitalistische Wirtschaftsordnung» kämpft.

«Sie haben völlig recht», entgegnete vor einigen Jahren ein schulbekannter Neonazi in einer Schule im Berlin-Prenzlauer Berg seiner Lehrerin. «Hitler war ein grosser Verbrecher. Er hat den Nationalsozialismus an das Kapital verraten. Unsere Leit- und Vorbilder sind nicht Hitler, Himmler, Goebbels und andere Grössen des ‹Dritten Reiches›, sondern Gregor und Otto Strasser.» Die Lehrerin war zunächst in zweierlei Hinsicht sprachlos. Zum einen hatte sie während ihrer Ausbildung in der DDR nie etwas über die Faschisten Gregor Strasser (1892–1934) und Otto Strasser (1897–1974) gehört und zum anderen verblüffte sie die völlig unerwartete Ideologie heutiger neonazistischer Gruppierungen in der BRD. Diese Berliner Lehrerin stellt keine Ausnahme dar. Bis in die Gegenwart hinein ist den meisten Menschen in den alten und neuen Bundesländern die geistige und programmatische Metamorphose beachtlicher Teile des bundesdeutschen Neonazismus kaum bekannt. Nach dem Scheitern aller Pläne von Otto Strasser, Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre sein in der Weimarer Republik und danach entwickeltes faschistisches Politikkonzept nahtlos auf die BRD zu übertragen, war der Strasserismus bis auf die heute noch in Nordrhein-Westfalen agierende Unabhängige Arbeiterpartei (UAP) weitgehend in der politischen Versenkung verschwunden. Ein zaghafter Wandel machte sich erst wieder in den 70er Jahren bemerkbar, als die Neue Rechte in der Bundesrepublik analog ihrer französischen Gesinnungsfreunde nach neuen Ideen suchten, um die politische wie geistige Isolierung der Rechtsextremen zu überwinden. Während man in der französischen Nouvelle Droite insbesondere Vorstellungen von Antonio Gramcsi von der Eroberung der kulturellen Hegemonie vor einer politischen Machtübernahme aufgriff, suchte der sogenannte nationalrevolutionäre Flügel der westdeutschen Neuen Rechten Anknüpfungspunkte beim angeblich linken Flügel der NSDAP, der besonders von den Gebrüdern Strasser repräsentiert wurde. Diese rechtsextremen sogenannten Nationalrevolutionäre, die sich vom Hitlerismus und dem NS-System, aber nicht von der Idee eines «nationalen Sozialismus» distanzierten, gruppierten sich in den 80er Jahren vor allem um die Zeitschriften «wir selbst» (Koblenz), «Europa Vorn» (Köln) und um die «Deutsch-Europäische Studiengesellschaft» (Hamburg).

«Ethnopluralismus» statt Rassismus

Von den IdeologInnen dieser Kräfte, die sich als «progressive NationalistInnen» verstanden, wurden eine Reihe neuer Begriffe entwickelt, um den Rechtsextremismus besser in der Öffentlichkeit anbringen zu können. So sprach man anstatt von Rassismus jetzt vom Ethnopluralismus, statt Biologismus nur noch von einem Biohumanismus. Nach wie vor blieb aber auch bei ihnen die Überwindung der demokratischen Republik und die Errichtung eines neuen Deutschen Reiches das Ziel, in dem die Grundwerte der Aufklärung, vor allem das Prinzip der Gleichheit aller Menschen, überwunden und durch eine ethnisch homogene und hierarchische Volksgemeinschaft ersetzt werden sollte. Die Rezeption der Strasser-Vorstellungen in der BRD vollzog sich über verschiedene Phasen, die nicht widerspruchslos abliefen. Bis in die 80er Jahre hinein waren die neuen Strasser-AnhängerInnen in intellektuellen Zirkeln relativ isoliert und politisch wirkungslos. Das änderte sich in dem Masse, wie Michael Kühnen, von den 70er bis Anfang der 90er Jahre wichtigster Repräsentant des bundesrepublikanischen Neonazismus, sich über Positionen der faschistischen Sturmabteilung (SA) dem Strasser-Konzept näherte. Bis zu Beginn der 90er Jahre dominierten dann Strasser-Ideen in fast allen nennenswerten neonazistischen Gruppen der BRD. Zu nennen sind hier insbesondere die inzwischen verbotenen Gruppierungen Nationalistische Front (NF) einschliesslich ihrer diversen Nachfolgegruppen, die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) und die Deutsche Alternative (DA). Dass die Strasser-Ideen gerade in Ostdeutschland einen beachtlichen Widerhall fanden und finden, hängt mit einer diffusen Nachwirkung des «Sozialismus« in der DDR, der Ambivalenz zu den angeblich antikapitalistischen Vorstellungen der Gebrüder Strasser und der neonazistischen Parole zusammen, dass der Sozialismus an sich eine gute Idee wäre, nur müsse dieser nicht internationalistisch, sondern nationalistisch ausgerichtet sein.

Durchsetzung des Strasserismus

Die Durchsetzung des Strasserismus in den meisten neonazistischen Vereinigungen vollzog sich nicht konfliktfrei. So setzte 1992 der damalige DA-Bundesvorsitzende Frank Hübner den verantwortlichen Redakteur der DA-Zeitung «Brandenburger Beobachter», Frank Mencke, ohne viel Federlesens ab, weil dieser in einem Artikel Hitler als Wahrer der Menschenrechte und den SS-Obergruppenführer und Organisator des Holocaust, Reinhard Heidrich, als Vorbild für die jungen Neonazis hingestellt hatte. In der Begründung seines Handelns erklärte Hübner, dass solche Auffassungen nicht den Positionen der DA entsprächen. Ein anderes typisches Beispiel waren die Auseinandersetzungen über diese Problematik in der neonazistischen NPD und ihrer Jugendorganisation, den Jungen Nationaldemokraten (JN), die im Sommer 1996 zur Absetzung fast der gesamten Redaktion der JN-Zeitschrift «Der Aktivist – Nationalistisches Infoblatt» führte. Erst in dem Umfang, wie sich der 1995 neugewählte NPD-Vorsitzende Udo Voigt gegen den Flügel des abgesetzten vorherigen Vorsitzenden Günter Deckert durchsetzte, veränderte sich auch der politische und ideologische Kurs der NPD in Richtung auf die Strasser-Linie. Der von Deckert favorisierte geschichtliche Revisionismus (vor allem die «Auschwitz-Lüge») wurde zugunsten der sozialen Gegenwartsprobleme in den Hintergrund gerückt. Wie im Strasserismus wird jetzt auch in der NPD eine hemmungslose nationalistische und rassistische Revolutions- und Sozialismus-Phraseologie betrieben, die durch den Übertritt von Funktionären der Ende 1997 aufgelösten Gruppierung Die Nationalen (NAT) noch verstärkt wurde. Bereits im Mai 1996 fand der 26. ordentliche Bundeskongress der JN in Leipzig unter der heute bundesweit vorgetragenen Losung «Gegen System und Kapital – unser Kampf ist national!» statt. In Distanzierung von bisherigen Praktiken beteiligte sich auch die NPD im August 1997 nicht mehr offiziell an den Gedenkveranstaltungen für den Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess. Dazu argumentierte die Spitze der NPD, so etwas sei nicht mehr zeitgemäss und würde von der Masse der Bevölkerung nicht verstanden.

Testfeld Osten

Hauptexperimentierfeld für die Durchsetzung des neuen NPD-Kurses ist der Freistaat Sachsen. Hier haben NDP und JN seit dem Ende der 90er Jahre ihre politische Isolierung durchbrochen und zählen jetzt ca. 1000 hauptsächlich junge Mitglieder. 2004 und 2009 konnten Abgeordnete der NPD in den Sächsischen Landtag einziehen, 2014 scheiterte sie knapp an der 5-Prozent-Hürde. Ähnlich wie in Sachsen agieren NPD und JN auch in Mecklenburg-Vorpommern. Bei den neonazistischen Mitgliedern und AnhängerInnen der NPD steht nach wie vor die rassistische Hetze gegen AusländerInnen und eine massive soziale Demagogie im Zusammenhang mit der Massenarbeitslosigkeit und der Lehrstellenmisere im Vordergrund der Tagesagitation. Das verdeutlicht aber noch nicht genügend die veränderte, angeblich antiimperialistische Politik der NPD. Das wird deutlicher, sieht man sich die weitergehenden Positionen der NPD an. So heisst es im aktualisierten Parteiprogramm: «Die NPD lehnt die in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung systematisch betriebene Internationalisierung der Volkswirtschaften entschieden ab. (…) Auf der ganzen Welt erteilt der Aufbruch der Völker dem multikulturellen Einheitswahn eine Absage. Grundlage einer europäischen Neuordnung muss das Bekenntnis zum nationalstaatlichen Ordnungsprinzip und zum Prinzip der Volksabstammung sein. (…) Wir fordern die Revision der nach dem Krieg abgeschlossenen Grenzanerkennungsverträge.» Noch deutlicher wird die der NPD nahestehende Zeitung, in der «der Kampf für eine nationale, antikapitalistische Wirtschaftsordnung», eine «Basisdemokratie gegen Bonzenhierarchie» gefordert wird. Das alles wird in den neuen Bundesländern mit einer rechtsextremen Vereinnahmung der DDR und einer Anbiederung an einstige DDR-Funktionsträger verbunden. In einem in Sachsen verbreiteten NPD-Flugblatt wird dazu erklärt: «Wir Mitglieder der NPD stehen zur ganzen deutschen Geschichte und auch zur Geschichte der DDR. Die Mehrheit unserer Mitglieder ist (…) der Meinung, dass die DDR das bessere Deutschland war. Wir wollen deshalb die positiven Erfahrungen der DDR in unsere Politik einbringen.» Aber selbst das reicht der NPD noch nicht. Um an ehemalige Kader der SED heranzukommen, wird in dem zitierten Flugblatt entgegen der geschichtlichen Wahrheit weiter verkündet, dass die NPD «in der Tradition der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung» steht. Ideologisch ist man in diesem Zusammenhang bereit, den bisherigen extremen Antikommunismus zugunsten eines ausgeprägteren Antiamerikanismus zurückzunehmen. All das soll dem Ziel der Schaffung einer «Volksfront von rechts» – oder wie es in dem Sachsenflugblatt formuliert wird – der Installierung einer «neuen Nationalen Front des demokratischen Deutschlands» dienen.

Genauere Analysen

Diese geschicktere pseudopatriotische und systemkritische Demagogie wesentlicher Teile des heutigen bundesrepublikanischen Neonazismus findet nicht nur unter Teilen der Jugend, sondern auch bei älteren BürgerInnen in den neuen Bundesländern Widerhall. So bekannte der Sprecher der Bündnisgrünen in Mecklenburg-Vorpommern, Klaus-Dieter Feige: «Ich bin immer wieder erschüttert, wenn ich mich mit Rechtsextremen unterhalte, in wie vielen Punkten wir in der Kritik am existierenden Kapitalismus übereinstimmen.» Zum Schluss sei hier noch darauf verwiesen, dass sich in Gestalt der Europäischen Synergien, einer Absonderung von den europäischen Neuen Rechten, eine neue internationale Struktur herausbildet, die sich verstärkt mit der Thematik des sogenannten Nationalkommunismus befasst und deren Verbindungen bis zu hohen russischen Militärs in Moskau reichen. Ohne jetzt hier noch weitere Thesen und Praktiken der Strasser-ErbInnen zu erörtern, verdeutlicht schon diese kurze Abhandlung, dass viele linke Analysen des heutigen Rechtsextremismus noch zu sehr in überholten Vorstellungen befangen sind und auch viele Argumente des heutigen Antifaschismus nicht die neuen Entwicklungen reflektieren und daher kaum Wirkung zeigen. Anliegen aller Linken sollte es sein, in ihren Analysen genauer die rechtsextremistische Gegenwart zu untersuchen, um daraus effektivere Argumente und politische Aktivitäten zur Zurückdrängung des zur Zeit immer noch wachsenden Einflusses des Rechtsextremismus in allen seinen Varianten zu entwickeln.

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¡NO PASARAN!

nopasaran-494x329Vor 70 Jahren endete der Horror des Zweiten Weltkriegs. Die diesjährige Beilag der 1.Mai-Ausgabe des vorwärts steht im Zeichen von diesem historischen Ereignis. Es ist ein Beitrag, so bescheiden er auch sein mag, um niemals zu vergessen! Gleichzeitig soll die Beilage aber auch anregen, sich darüber Gedanken zu machen, was es heisst, heute Antifaschist zu sein.

Mai 1945: Europa liegt in Schutt und Asche. Es beweint 60 bis 70 Millionen Tote. Die genaue Zahl wird die Menschheit nie erfahren. Weitere Millionen kehren als Krüppel von den Schlachtfeldern zurück oder sind es durch die flächendeckenden Bombardierungen geworden. Millionen von Menschen schwören sich: «Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!».

Mai 2015: Wir stellen fest, dass es in Europa sehr wohl wieder Kriege gab und noch gibt. Wir wissen, dass in der Ukraine faschistische Kräfte von der EU unterstützt werden. Wir sehen, wie rassistische, faschistoide Parteien auf dem ganzen Kontinent an Zuspruch gewinnen, grossen Einfluss haben oder gar – wie in Ungarn – an der Macht sitzen. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus! Was ist aus diesem Eid geworden? Was heisst es heute, Antifaschist zu sein? Eine Frage, die sich vor allem jene Linke stellen muss, die ihren Aktionsradius etwas grösser und breiter als einen Bierdeckel definiert und sich daher nicht nur auf den bürgerlichen Parlamentarismus, Initiativen und Referenden beschränkt.

Auf der Suche nach Antworten finden wir einen ganz grossen Schriftsteller, Politiker, marxistischen Philosophen und Antifaschisten aus Italien, der seine felsenfeste Überzeug mit dem Tod bezahlte: Antonio Gramsci. «Die Illusion ist die hartnäckigste Quecke des kollektiven Bewusstseins: Die Geschichte lehrt, hat aber keine Schüler», ist eine seiner Weisheiten, die er uns hinterliess. Die Quecke ist bekanntlich ein Gras, das sehr schnell wächst und alles andere «überdeckt». Und Gramsci fordert uns auf, SchülerInnen der Geschichte zu werden. Das heisst heute: Niemals die Quecke wuchern lassen, niemals vergessen! Niemals den Holocaust vergessen. Niemals den blutigen, heldenhaften Befreiungskampf der PartisanInnen vergessen. Niemals die tragende, zentrale Rolle der sozialistischen, kommunistischen Parteien und anarchistischen Organisationen im antifaschistischen Kampf vergessen. Niemals vergessen, dass Europa auch von der Roten Armee befreit wurde und nicht nur von den Amis alleine. Niemals vergessen, dass die Sowjetunion weitaus die grösste Anzahl Opfer zu beklagen hatte.

Geschwüre auch in der Schweiz

Aber das Nichtvergessen alleine reicht nicht. Auch dies sagt uns Genosse Gramsci, Mitbegründer der Italienischen Kommunistischen Partei (Partito Comunista Italiano) im Jahr 1921 und Gründer der geschichtsträchtigen Parteizeitung «L’Unità» im Jahr 1924: «Der Faschismus hat sich als Antipartei gegeben, hat allen Kandidaten die Türe geöffnet, hat einer ungeordneten Vielfalt die Möglichkeit geboten, nebulöse und vage politische Ideale mit einem Farbanstrich zu überstreichen. Es ist das wilde Überborden der Leidenschaft, des Hasses, der Wünsche.» Ins Heute umgemünzt, beschreibt hier Gramsci unter anderem die Organisation «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes» (Pegida) aus Deutschland, die Tausende von WutbürgerInnen auf die Strasse mobilisiert. Aber auch die Schweiz ist nicht frei von solchen Geschwüren. Am 29. März 2014 versuchte die Gruppe «Stopp Kuscheljustiz» eine Kundgebung unter dem Namen «Volksversammlung» zu organisieren. Ihr Facebook-Auftritt zeigt, dass die Gruppe ein Sammelbecken für rechtskonservative und rechtsextreme Ideologien darstellt. Die «Helvetia» wird zur Heimat der «Eidgenossen» hochstilisiert und populistische Hetzberichte gegen AusländerInnen, Asylsuchende und Kriminelle von Seiten rechtsextremer Parteien wie der Partei National Orientierter Schweizer (PNOS) folgen regelmässig. Auf-forderungen wie «Schweiz erwache» in Anlehnung an das SA-Kampflied «Deutschland erwache» und Aufrufe zu ethnischen Säuberungen oder die Forderung der Todesstrafe gegenüber Andersdenkenden oder MigrantInnen sind die Regel. In «Gefahr» ist alles angeblich Schweizerische, von der direkten Demokratie bis zur Cervelat. Obwohl sich die VeranstalterInnen von rechtsextremen Positionen distanzieren und sich nicht als FaschistInnen oder Neonazis wissen wollen, zieht eine solche «Volksversammlung» sehr wohl offen deklarierte RassistInnen, FaschistInnen und RechtspopulistInnen an. Die faschistoiden Züge der Rechten in der Schweiz haben sich ständig durch rassistische Komponenten und den Schutz der eigenen «Identität» und «Tradition» charakterisiert. Und sie sind vor allem auch immer bis in die «Mitte der Gesellschaft» vorzufinden.

Die Speerspitze der herrschenden Klasse

Bei Gramsci bildeten Ideologie, Philosophie und politische Praxis eine feste Einheit. Er konzentrierte sich stark auf das Verständnis der realen Situation und der gesellschaftlichen Verhältnissen Italiens jener Zeit und der Möglichkeit, diese im sozialistischem Sinne zu transformieren. Den Faschismus definierte er als «Speerspitze der Krise der bürgerlichen Gesellschaft», da der herrschenden Klasse, die «soziale, intellektuelle und moralische Hegemonie verloren hatte» und zur Gewalt greifen musste. Ein Blick auf die herrschende Klasse von heute zeigt, dass sie mit den sogenannten Freihandelsverträgen wie TiSA und TTIP (um nur zwei zu nennen) dabei ist, einen epochalen neoliberalen Angriff durchzuführen. Was wird ihre Speerspitze sein? Und: Welche Alternative bieten wir zur aktuelle Barbarei? Die Antworten auf die Frage, was es heisst, heute AntifaschistIn zu sein, finden wir in der Vergangenheit, im Heute und in dem, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen. Um diese im sozialistischen Sinne aufzubauen, heisst die gemeinsame Kampfparole: NO PASARAN!

 

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Besetzung des Migrationsamts in Luzern

MigrationsamtAktion Würde statt Hürde. Ein Mann stach sich mit einem Messer in den Bauch, um sich das Leben zu nehmen. Er hielt die Situation als abgewiesener Asylsuchender nicht mehr aus. Darauf empörten sich einige LuzernerInnen einmal mehr über das menschenunwürdige Asylsystem der Schweiz. Es war höchste Zeit, ein Zeichen zu setzen. So entstanden wir, die «Aktion Würde statt Hürde», die aus Menschen mit und ohne Schweizer Pass besteht. In langen Diskussionen und Vorbereitungen füllte sich unsere Aktion mit Inhalt. Wir führten Interviews mit Asylsuchenden, denn wir wollten ihre Geschichten und Anliegen hören. Als wir sie dann hörten, aufschrieben und auf Tonband aufnahmen, wurde aus Empörung Betroffenheit und aus Wut der Wunsch, Solidarität zu zeigen. Deshalb besetzten wir das Amt für Migration in Luzern. Wir trugen die Stimmen derer hinein, die sich selber nicht wehren können, ohne damit rechnen zu müssen, dass sie ihren Traum von einem menschenwürdigeren Leben begraben müssen. «Leben in der Nothilfe ist schwierig und mühsam. Wir haben eine begrenzte Umgebung. Wir sind nicht frei, wir haben ganz wenige Möglichkeiten, uns zu bewegen. Wir müssen nur überleben. Das macht mit der Zeit müde, es ist schwierig und mühsam. Das macht Leute mit der Zeit depressiv. Wir haben keine Perspektive und keinen Plan für die Zukunft. Das ist meine Meinung.», sagt eine bgewiesene asylsuchende Person im Interview.

Im Amt für Migration lasen wir die Transkripte der Interviews immer wieder vor. Die Angestellten des Amigras sollten ein Gefühl dafür bekommen, dass es Menschen sind, die sie schikanieren, die sie beschimpfen, für die sie Durchsetzungshaft anordnen. Per Lautsprecher übertrugen wir die Stimmen nach draussen, um eine Verbindung herzustellen zwischen den PassantInnen, den Demonstrierenden und den beobachtenden PolizistInnen. Die Unmenschlichkeit des Asylsystems war für einmal nicht abgeschottet in Amtsgemäuern, sondern gut hörbar in Luzerns Strassen. Es gelang uns, die mediale Berichterstattung mit unseren Inhalten zu füllen.

Wir wollen, dass die Menschen verstehen, dass abgewiesene Asylsuchende, ohne etwas Kriminelles getan zu haben, verfolgt und illegalisiert werden. Schlicht wegen fehlenden Papieren sind Gefängnisstrafen und Bussen Alltag. Die Lebensumstände sind prekär: Abgeschottete, zu kleine Notunterkünfte und die täglichen 10-Franken-Gutscheine von Coop, die bei Weitem nicht zum Leben reichen, zumal zusätzlich ein Arbeitsverbot besteht. Auch zu Bildung besteht kein Zugang. Dies alles verunmöglicht ein menschenwürdiges Dasein und eine Integration in der Schweiz. «Wir sind hier seit mehr als zehn Jahren. Meine Hoffnung ist, arbeiten zu gehen oder etwas zu machen. Das ist das Minimum, das sie uns geben sollten. Meine Hoffnung ist, dass sie uns anschauen und nicht nur unsere Dossiers, und das sie diese stattdessen eines Tages schliessen. Wir sind auch. Wir brauchen auch ein Leben als Menschen.»

Ein paar Tage nach der Besetzung zogen wir lautstark demonstrierend mit 300 Personen durch Luzern. Zur Demonstration aufgerufen hatte Bleiberecht Luzern. Wir hatten einen Gastauftritt: Die Stimmen der betroffenen Menschen erschallten wieder in den Strassen und stimmten die PassantInnen nachdenklich. Hört man die persönlichen Geschichten der sonst in der anonymen Masse der «AusländerInnen» untergehenden Individuen, kann sich niemand taub stellen. Die vergangenen Wochen (auch mit der Kirchenbesetzung in Lausanne) haben gezeigt, dass es mit hartnäckigem Aktivismus eben doch möglich ist, Menschen wachzurütteln. Gemeinsam können wir so laut sein, dass die tägliche Unterteilung in wertvolle, also erwünschte, und wertlose, unerwünschte Menschen nicht mehr totgeschwiegen werden kann. Wir kommen wieder. Das war erst der Anfang!

Mehr Infos: https://aktion2303.wordpress.com

 

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Die Mär von der «Lohngleichheit»

05_FrauendemoZum diesjährigen Internationalen Frauenkampftag demonstrierten tausende Menschen gegen die Lohndiskriminierung von Frauen. Trotz gesetzlicher Regelung wird der Grundsatz «gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit» von Unternehmen systematisch missachtet. Mit obligatorischen Kontrollen und Sanktionierungsmöglichkeiten wollen die Gewerkschaften dagegen angehen.

Seit mehr als 33 Jahren gilt in der Schweiz das Gleichstellungsgesetz. Seit mehr als 33 Jahren wird es von den Unternehmen ignoriert. Nun regt sich Protest. Rund 12000 Personen waren am 7. März dem Appell eines Demonstrationsbündnisses, bestehend aus 48 Frauenorganisationen von links bis rechts, gefolgt und trugen die Forderung nach «Gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit» auf die Strasse. Rund 24 Jahre nach dem historischen Frauenstreiktag von 1991, zu dem fast eine halbe Million ArbeiterInnen ihre Tätigkeit niedergelegt hatten, sei es an der Zeit, einem «der grössten Skandale der Schweiz» ein Ende zu bereiten, erklärte die Gewerkschaft Unia.

Die «Lohngleichheit» ist seit 1981 in der Bundesverfassung und seit 1996 – im Nachgang zum Frauenstreiktag – im Gesetzbuch verbindlich verankert. Dennoch verdienen Frauen gemäss den neusten Erhebungen des Bundesamts für Statistik (BFS) aus dem Jahr 2012 in der Schweiz immer noch rund 19 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Eine Differenz von durchschnittlich 677 Franken pro Monat. Der Unterschied zu Staaten, die kein gesetzliches Verbot von Lohndiskriminierung kennen, ist marginal. In Deutschland etwa liegt die Differenz bei rund 22 Prozent. Begründen könne man den Gehaltsunterschied zwischen den Geschlechtern teilweise durch Faktoren wie Ausbildung, Qualifikation und beruflicher Stellung. Dennoch bleibt gemäss BFS eine «unerklärbare» Differenz von 8,7 Prozent. In Branchen mit hohem Frauenanteil – wie etwa in der Pflege und im Detailhandel – sind die Zustände für die ArbeiterInnen noch gravierender: Die Löhne sind auf unterdurchschnittlichem Niveau und das Lohngefälle zwischen Mann und Frau noch höher als in anderen Wirtschaftszweigen. Der Gesamtwert der «Einsparungen», welche Unternehmen durch die Zurücksetzung der Frauen in der Arbeitswelt erzielen, beläuft sich in der Schweiz auf insgesamt 7,7 Milliarden Franken pro Jahr. Geld, das den Frauen nicht nur während ihrer Erwerbszeit, sondern auch später im Rentenalter fehlt.

Selbst verantwortlich

Der Grund, warum das vorhandene Gesetz gegen «Lohndiskriminierung» nicht greift, ist simpel: Privaten Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen ist es freigestellt zu prüfen, ob sie eine diskriminierende Lohnpolitik führen und beheben wollen. Der Staat leistet den Unternehmen dabei finanzielle und personelle Unterstützung, der Blick in die Lohnbuchhaltungen bleibt aber verwehrt. Stichkontrollen vornehmen dürfen die Behörden nur bei der Vergabe von Bundesaufträgen. Gemäss dem Eidgenössischen Büro für Gleichstellung (EBG) wurden in diesem Bereich bisher jedoch lediglich 43 von rund 300000 Unternehmen und Organisationen, mit denen der Bund Geschäftsbeziehungen unterhält, geprüft. Kurzum: Für die Durchsetzung des Verfassungsrechts ist jede Frau selber verantwortlich. Und nicht selten führt dieser Weg vor Gericht.

Mehr als 262 Fälle von Lohnungleichheit sind in der Schweiz in den vergangenen 19 Jahren eingeklagt worden. Die Dunkelziffer dürfte allerdings um einiges höher sein, da viele Betroffene entweder gar nicht erst um die Diskriminierung wissen oder den kräftezehrenden Rechtsweg nicht auf sich nehmen können. Dass das Einklagen von Lohn ein aufreibender und langwieriger Weg ist, zeigt das Beispiel einer Schneiderin aus Lausanne. Seit mehr als zwei Jahren führt die Frau einen Rechtsstreit gegen das Unternehmen, in dem sie sechs Jahre lang tätig war. Nachdem sie festgestellt hatte, dass sie als Fachperson mit Berufserfahrung monatlich rund 1200 Franken weniger verdient als ein Arbeitskollege ohne eigentliche Qualifikation, verlangte sie bei ihrem Chef eine Lohnerhöhung. Kurze Zeit später kam die Kündigung. Die Schneiderin zog den Fall vor Gericht, doch die Anordnung eines wissenschaftlichen Attests, mit dem die Lohnungleichheit bewiesen werden muss, wurde von der Justiz – zugunsten des Unternehmens – verzögert. Bis heute lässt der Urteilsspruch auf sich warten.

Freiwillige Prüfung?

Die Gewerkschaft Unia spricht von «Verschleppungstaktik» und einem «hürdenreichen Weg». Nichtsdestotrotz sieht die Unia-Gleichstellungssekretärin Corinne Schärer in den Lohnklagen «das wichtigste Mittel», um Druck aufzubauen. Gewerkschaftliche Organisation und Arbeitskämpfe gegen diskriminierende Entlohnung sind bisher kein Thema zur Durchsetzung der «Lohngleichheit». Man konzentriert sich weiterhin auf den Rechtsweg und die Forderungen, die man bereits im Jahr 2007 gestellt hat. Damals, als das Parlament eine Sondersitzung zur Diskussion des Gleichstellungsgesetzes abhielt, verlangten die Gewerkschaften «griffige Massnahmen» wie Kontrollen und Sanktionen. Ohne Erfolg. Der Bundesrat entschied stattdessen, in eine zusätzliche freiwillige «Förderungsmassnahme» zu investieren und einen »Lohngleichheitsdialog» zwischen den «Sozialpartnern» zu veranlassen. Dabei konnten sich alle Unternehmen in der Schweiz einer externen Kontrolle unterziehen, um zu prüfen, ob sie eine diskriminierende Lohnpolitik führen. Doch während der fünfjährigen Pilotphase machten lediglich 50 Unternehmen von diesem «Angebot» Gebrauch. Davon waren 70 Prozent staatlich oder «staatsnah».

Ein ernüchterndes Ergebnis. Selbst der Bundesrat musste daraufhin im vergangenen Oktober eingestehen, dass «freiwillige Lösungen alleine nicht zum Ziel führen». Justizministerin Simonetta Sommaruga kündigte eine «Verschärfung» des Gleichstellungsgesetzes an, die vorsieht, dass Unternehmen künftig alle drei Jahre eine «Lohnanalyse» durchführen, das Resultat von einem «Dritten» ihrer Wahl bestätigen lassen und im Geschäftsbericht erwähnen, dass die gesetzliche Pflicht eingehalten worden sei. Darüber, wie gross die tatsächlich festgestellte Lohndifferenz ist und welche Massnahmen ergriffen wurden, sollen die Unternehmen keine Rechenschaft ablegen müssen. Man wolle «keine Lohnpolizei» und dass «die zusätzliche administrative Belastung für die Unternehmen gering bleibt», so die SP-Bundesrätin.

Dass Bewegung in die Lohngleicheitsdiskussion kommt, begrüssten die Gewerkschaften zwar als einen «Schritt in die richtige Richtung», die bundesrätliche Vorstellung der «Gesetzesverschärfung» teilen sie aber nicht. Die vorgesehenen Massnahmen seien «zahnlos», es brauche verbindliche Kontrollen, eine Meldebehörde und die Möglichkeit, Unternehmen zu sanktionieren, wenn sie Diskriminierung nicht beheben, heisst es seitens der Unia. Dem Gewerkschaftsbund schwebt eine Kontrollstelle in Form einer «Tripartiten Kommission» vor. Ein Organ zur «Beobachtung des Arbeitsmarkts», wie es aktuell in Zusammenhang mit den «flankierenden Massnahmen» eingesetzt wird und das befugt ist, die Einhaltung von Arbeitsverträgen zu kontrollieren, Verstösse wie Lohndumping an die kantonalen Vollzugsbehörden zu melden und «Massnahmen» zu beantragen. Einsitz haben VertreterInnen der «Sozialpartner» – Gewerkschaften und Unternehmen – sowie der Behörden. Diesem Kräfteverhältnis entsprechend ist die Durchschlagskraft der Kommission: Immer wieder werden Forderungen nach Einhaltung und Verschärfung der «flankierenden Massnahmen» laut. Im Basler Parlament hiess es im September 2012 sogar: «Die Tripartite Kommission muss endlich ihre Kontrollfunktion gemäss Auftrag ausführen.» Der Tages-Anzeiger titelte im April 2014: «Flankierende Massnahmen sind fast folgenlos» und die Unia führt eine lange Liste mit Forderungen zur «Verstärkung der flankierenden Massnahmen», die seit jeher unverändert blieb.

Torpedierte Lohngleichheit

Eine Erfolgsgeschichte sieht anders aus. Nichtsdestotrotz schwebt den Gewerkschaften auch für die Durchsetzung der «Lohngleichheit» eine Tripartite Kommission als Kontrollgremium und somit die «Zusammenarbeit» mit den Unternehmen vor. Alternative Ideen sind Mangelware, wie sich an der Frauendemonstration am 7. März zeigte, als die SP-Frauen-Präsidentin Yvonne Feri «vielleicht ein bisschen provokativ» anregte, man solle «die Männerlöhne bei Ungleichheiten gegen unten korrigieren». So könne die Wirtschaft sparen und dieses Geld in gleichstellungspolitische Massnahmen investieren.

Die Unternehmen dürften applaudiert haben, denn Sparen steht bei ihnen derzeit ausserordentlich hoch im Kurs. Aufgrund des «starken Frankens» sehen sich Firmen, vor allem im Exportbereich, «unter Druck». Mögliche Einbussen sollen kompensiert werden. Mehr Arbeit zu weniger Lohn sowie Stellenstreichungen wurden mancherorts bereits durchgesetzt. Und damit die Wirtschaft noch freier walten kann, rief die SVP Ende Februar dem Appell von UBS-Chef Sergio Ermotti folgend zu einen «Deregulierungspakt» zwischen Wirtschaft und Politik auf. Lohnangleichung gegen oben und Kontrolle von Unternehmen kommen für die SVP nicht in Frage. So soll auch die Frauendiskriminierung fortgesetzt werden, wie SVP-Parteipräsident Toni Brunner im Interview mit der NZZ am Sonntag darlegte. Die vom Bundesrat geplante «Lohnpolizei» müsse man «abbrechen oder wenigstens sistieren«, so Brunner. Gestützt werden die Rechtspopulisten von der CVP und der FDP. Die «Frankenstärke» dient als dankbarer Vorwand, um das Ansinnen für «Lohngleichheit» weiter zu torpedieren.

«Das werden wir verhindern», konterte indes der Gewerkschaftsbund. Man wolle nun den konkreten Gesetzesentwurf abwarten, den die Regierung im Sommer vorlegen wird. Sollten die Anliegen der Frauen weiter auf die lange Bank geschoben werden, würde man wieder auf die Strasse gehen. Dennoch ist absehbar, dass die Diskriminierung von Frauen ohne eine entschiedenere Haltung weiter Realität sein wird.

 

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Keine Rentenerhöhung

0029_147Die zuständige Kommission des Ständerats lehnt die «AHVplus» Initiative des Gewerkschaftsbundes ab. Wie immer, wenn es um die AHV geht, wird der klare Verfassungsauftrag missachtet. Ein Verfassungsauftrag, der nur mit einem radikalen Wechsel erfüllt werden kann. «Die sozialpolitische Kommission des Ständerats nimmt die Sorgen vieler Rentnerinnen und Rentner nicht ernst und lehnt eine dringend nötige Rentenerhöhung, so wie sie die Initiative «AHVplus» vorschlägt, sang- und klanglos ab», schreibt der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) in seiner Medienmitteilung von 26. März 2015. Selbst 116 Franken im Monat mehr für RentnerInnen mit einer Minimalrente von monatlich 1160 Franken sind der Kommission zu viel. Bei einer Maximalrente von derzeit 2320 Franken wären es 232 Franken und bei einer vollen Ehepaarrente würde der Zuschlag 348 Franken betragen. Die «AHVplus»-Initiative des SGB verlangt eine Erhöhung von zehn Prozent der aktuellen AHV-Renten und wurde am 17. Dezember 2013 mit über 112000 Unterschriften eingereicht.

Weit, weit weg!

Es ist bemerkenswert, wie die Kommission des Ständerats auf die Verfassung spuckt. Denn diese schreibt vor, dass die Renten der AHV und der Pensionskasse zusammen die «Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise» gewährleisten müssen. Für viele Leute ist dieses Verfassungsrecht ein schlechter Witz, ein Hohn. 185 800 RentnerInnen beziehen Ergänzungsleistungen, ihre AHV-Rente und die eventuellen Bezüge aus der Pensionskasse reichen nicht aus, um die minimalsten Lebensunterhaltskosten zu decken. Gemäss Hochrechnungen von Pro Senectute steigt diese Zahl jedes Jahr um 5000 zusätzliche PensionärInnen an. Ohne die AHV-Zusatzleistungen, die bei der Einführung als vorübergehend bezeichnet wurden, könnten rund 300 000 Personen kaum mehr anständig leben. Nicht zu vergessen sind jene Menschen, die keine Zusatzleistungen beziehen, da sie den Anspruch darauf nicht erheben und dies oft, weil sie ihr Recht dazu gar nicht kennen oder sich schämen. Das alles betrifft nicht nur Menschen, die nach der Pensionierung einzig auf ihre AHV-Rente zählen können, sondern auch viele mit Renten aus der ersten und zweiten Säule. Ein Elektriker etwa, der zuletzt rund 5500 Franken verdiente, muss sich nach seiner Pensionierung mit weniger als 3500 Franken aus erster und zweiter Säule begnügen. Eine Verkäuferin mit einem Monatsgehalt von gerade mal 4000 Franken bekommt eine Rente von 3000 Franken. Weit, weit weg von dem, was die Verfassung garantiert und diese so – zumindest in diesem Punkt – zu einem wertlosen Papierfetzen macht!

PdAS arbeitet an Initiative

Laut SGB würde die vorgeschlagene Rentenerhöhung dem Bund vier Milliarden Franken kosten. Davon wäre gut die Hälfte mit einer nationalen Erbschaftsteuer gedeckt. Weitere 2,2 Milliarden durch die Tabaksteuer, wenn diese direkt in die AHV statt in die Bundeskasse fliessen würde. «Auch Lohnprozente, die seit 1975 nie erhöht worden sind, dürfen kein Tabu sein. 0,6 Lohnprozente würden reichen, um den Mehrbedarf zu decken», rechnet der SGB weiter vor. Die Initiative ist finanzierbar. Ob man sie finanzieren will, ist wie immer eine politische Frage. Als kurzfristige Massnahme macht die SGB-Initiative durchaus Sinn. Doch längerfristig kann auch sie den Verfassungsauftrag nicht erfüllen. Das ist nur mit einem radikalen Wechsel möglich: Die 1. Säule, sprich die AHV, muss gestärkt werden und zwar durch die Überführung der Pensionskasse (2. Säule) in die 1. Säule. Ein Projekt, an dem die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) arbeitet und eine entsprechende Volksinitiative angekündigt hat.

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Töten wir das Monster!

01_TISAAm 18. April findet der globale Aktionstag gegen Freihandel statt. Es ist der konkrete Widerstand gegen die Freihandelsabkommen, die der schrankenlosen Privatisierung und Liberalisierung den Weg ebnen soll. Was dabei die -Folgen sind, zeigt die Privatisierung des Spitals «La Providence» in Neuenburg. Die Abkommen betreffen direkt auch die Schweiz. Am Aktionstag findet auf dem Zürcher Paradeplatz eine Kundgebung statt.

TiSA? TTIP? Tafta? Das sind Abkürzungen für so genannte Freihandelsabkommen. Freihandelsabkommen? Das ist der «diplomatische Fachbegriff» für die komplette, vollständige Liberalisierung und Privatisierung! «Privatisierungen der öffentlichen Dienste und Liberalisierung sind die politischen Waffen der Unternehmen und Besitzenden, um ihre Profitinteressen durchzusetzen. Für die ArbeitnehmerInnen bedeuten sie schlicht eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen und somit auch der Lebensbedingungen», hält die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) in ihrem Wahlprogramm 2015 fest. So geschehen beim Spital «La Providence» in Neuenburg: Nachdem das Spital durch die private Gruppe «Genolier» übernommen wurde, kam es zur Kündigung des Gesamtarbeitsvertrags (GAV), der Auslagerung nicht- medizinischer und nicht-pflegerischer Leistungen. Die Folgen waren ein allgemeiner Lohn- und Stellenabbau. Dies geschah mit dem Einverständnis der Neuenburger Regierung: Sie erlaubte der Gruppe «Genolier», den GAV zu kündigen, obwohl eine Verordnung des Regierungsrates selbst festlegte, dass der GAV respektiert werden muss, um einen öffentlichen Auftrag im Gesundheitswesen zu erhalten. Eine «Ausnahme»? Nein! «Ein Musterbeispiel von Privatisierung und Liberalisierung im Sinne des kapitalistischen Diktats, das heute Globalisierung genannt wird», schreibt die PdAS dazu und trifft damit den Nagel auf dem Kopf.

Weltweite, undemokratische Verhandlungen

Seit 2012 verhandelt das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) im Auftrag des Bundesrats mit der EU, die ihrerseits 28 Länder umfasst, sowie weiteren 20 Ländern unter der Führung der USA über das Freihandelsabkommen «Trade in Services Agreement» (TiSA). Auf der Website des Komitee Stop-Tisa ist darüber zu lesen: «Es geht um fast alles, was wir zum Leben brauchen: vom Trinkwasser bis zur Abfallentsorgung, vom Kindergarten bis zum Altersheim, von Post und Bank über Eisenbahn und Elektrizitätswerke bis zum Theater. Der ganze Service public, wie wir ihn in der Schweiz nennen, ist vom Dienstleistungsabkommen TiSA bedroht.» Die Verhandlungen werden im Geheimen und undemokratisch geführt. Das Schweizer Parlament, wie auch die Öffentlichkeit, wurde erst auf öffentlichen Druck spät und unzulänglich über den Stand der Verhandlungen informiert. Die Länder in Lateinamerika, Afrika und Asien kennen seit Jahrzehnten die Auswirkungen dieser Freihandelsabkommen, die ihre Wirtschaft zerstört und das Volk in Armut geführt haben. So gibt es heute gemäss WTO weltweit gegen 400 Freihandelsverträge, vor vierzig Jahren waren es weniger als zehn.

Konzerne klagen gegen Staaten

Gemäss den Freihandelsverträgen müssen alle Dienstleistungsbereiche, in denen neben den öffentlichen auch private Anbieter vorhanden sind, den Regeln des «freien und unverfälschten Wettbewerbs» unterstellt werden. Ist dies nicht der Fall, können einzelne Konzerne eine Regierung auf «entgangene Gewinne» verklagen, um diese aus Steuergeldern ausgleichen zu lassen. Die Unternehmen haben denselben Rechtsstatus wie Nationalstaaten. Geklagt wird nicht bei einem öffentlichen Gericht, sondern bei einem Schiedsgericht, das der Weltbank untersteht! Diese Regelungen sind bereits aus bestehenden Freihandelsverträgen bekannt. Zwei konkrete Beispiele, bei denen von Parlamenten demokratisch gefällte Entscheide gekippt werden sollen: Die schwedische Energiefirma «Vattenfall» hat Deutschland wegen seiner Atomausstiegspläne auf 3,7 Milliarden Euro verklagt. Philip Morris will zwei Milliarden US-Dollar von Uruguay, weil das Land seine Gesetze zum Rauchen verschärft hat.

Dem Willen der Konzerne nach sollen die Freihandelsverträge die Zukunft bilden. So verhandeln die EU mit den USA seit Juli 2013 über das sogenannte «Transatlantic Trade and Investment Partnership», abgekürzt TTIP. Dabei geht es um die Schaffung der grössten Freihandelszone der Welt und, die einen gemeinsamen Wirtschaftsraum für mehr als 800 Millionen KonsumentInnen bilden würde. Unter dem Deckmantel, die Gesetze «transatlantisch aufeinander abzustimmen», ist die Profitmaximierung das eigentliche und reell angestrebte Ziel. Das betrifft die Nahrung und Industrieprodukte sowie Bereiche wie Arbeitsrecht, Gesundheit sowie Umwelt- und Klimaschutz.

Wirtschafts-Nato als Ziel

Die US-Amerikanerin Lori Wallach, Direktorin von «Public Citizen», der grössten Verbraucherschutzorganisation der Welt, Rechtsanwältin mit Spezialgebiet Handelsrecht und führender Kopf bei den Protesten 1999 in Seattle gegen die WTO-Ministerkonferenz, nennt das TTIP einen «Staatsstreich in Zeitlupe». Und sie schreibt in einem sehr empfehlenswerten Artikel in «Le Mode diplomatique» vom 8. November 2013: «Die erklärte Absicht ist, in zwei Jahren ein Abkommen zu unterzeichnen, das eine transatlantische Freihandelszone ‹Transatlantic Free Trade Area› (Tafta) zu gründen. Das gesamte TTIP-Tafta-Projekt gleicht dem Monster aus einem Horrorfilm, das durch nichts totzukriegen ist. Denn die Vorteile, die eine solche ‹Wirtschafts-Nato› den Unternehmen bieten würde, wären bindend, dauerhaft und praktisch irreversibel, weil jede einzelne Bestimmung nur mit Zustimmung sämtlicher Unterzeichnerstaaten geändert werden kann.»

Die Schlussfolgerung aus all dem ist verdammt einfach: Töten wir das Monster!

Gegen TiSA Abkommen!
Privatisierung stoppen!
Kundgebung: 18. April, 14.00 Uhr

Paradeplatz Zürich

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Die Rückkehr der Grossgrundbesitzer

ChileDen Kleinbauern und -bäuerinnen um das chilenische Llay Llay vertrocknen die Felder. Die Hügel neben ihren Parzellen aber sind saftig grün. Hier wachsen Tausende von Avocadobäumen, zu deren Bewässerung die GrossgrundbesitzerInnen das Grundwasser abpumpen. Jeden Sommer hat sich die Situation verschärft – dieses Mal ist es zu viel: Die Bauern und Bäuerinnen rufen nun zum Widerstand gegen die GrossgrundbesitzerInnen, die Privatisierung des Wassers und die ungerechten Gesetze auf.

Als im Jahr 1961 die konservative Regierung unter Jorge Alessandri das Gesetz zur Agrarreform verabschiedete, welche in den darauffolgenden Jahren unter Eduardo Frei und Salvador Allende vertieft wurde, konnten viele LandarbeiterInnen zum ersten Mal BesitzerInnen ihrer eigenen Felder werden. So geschah es auch in Llay Llay im Tal des Aconcagua, des grössten Flusses in der Region von Valparaiso. Die Dörfer um Llay Llay leben hauptsächlich von der Landwirtschaft. Als Folge der Agrarreform wurden die Latifundien enteignet und anfänglich an einzelne BäuerInnen und später, unter der Regierung von Salvador Allende, an Kooperativen übergeben. Die neuen LandbesitzerInnen bekamen anfänglich staatliche Hilfe um die Ländereien zu bestellen. Unter der Diktatur Augusto Pinochets wurden jedoch alle staatlichen Hilfen eingestellt.

Die Bauern und Bäuerinnen bauten im fruchtbaren Tal Gemüse an und liessen auf den trockenen, mit dornigen Büschen bewachsenen Hügeln und Bergen ihr Vieh weiden. Das Wasser zur Bewässerung kam aus Kanälen, die das Wasser vom Aconcagua-Fluss auf die Felder brachten. Reich wurden die Leute dadurch nicht und die fehlende Hilfe bei der Produktion und der Vermarktung ihrer Produkte zwangen viele Bauern und Bäuerinnen während der Militärdiktatur ihre Ländereien wieder zu verkaufen.

Das Latifundiensystem kehrt zurück

Nach dem Ende der Militärdiktatur, im Jahre 1989, fingen reiche Familien an, die angeblich wertlosen Hügel und zum Teil auch Ländereien im Tal aufzukaufen. Anfänglich verkauften die vormaligen BesitzerInnen freiwillig, später durch gesetzlich bewilligten Zwang. Grundlage für diese Zwangsverkäufe ist ein Gesetz, welches es dem Hauptbesitzer eines Hügels ermöglicht, die anderen BesitzerInnen dazu zu zwingen, ihnen das restliche Land zu verkaufen. Die Hügel, bewohnt und bewachsen von seltenen Tieren und geschützten Pflanzen, standen einige Jahre unbenutzt da, bis ein Gesetz verabschiedet wurde, welches PrivatunternehmerInnen bis zu 80 Prozent ihrer Infrastruktur finanziert, wenn die bis dahin «ungenutzte» Hügel bewirtschaftet würden. So verschwanden über Nacht die geschützten Büsche in Löchern und es entstanden riesige Avocadoplantagen. Die Latifundien waren in neuer Form wieder aufgetaucht. Heute beschäftigt Jorge Schmidt, der grösste Grossgrundbesitzer im Tal, ironischerweise Sohn eines geflüchteten italienischen Kommunisten, in Llay Llay während der Hauptsaison über zweitausend Menschen, um seine Felder zu bestellen. Angebaut werden nebst den Avocados Weintrauben und Zitrusfrüchte – fast allesamt Exportprodukte, die in alle Welt verschifft werden. Flugzeuge fliegen über die Felder, um Pestizide zu sprühen, Busse fahren umher, um die ArbeiterInnen an neue Orte zu bringen und Container voller Avocados, Weintrauben und Orangen verlassen das Tal, um ihre Reise nach Europa, Asien und vielleicht auch in deinen Supermarkt anzutreten. Die ArbeiterInnen berichten derweil, dass kaum mehr Füchse auftauchen und wenn doch, dann nur tot – vermutlich eine Folge des ausgestreuten Rattengift. Regelmässig geschehen schwere Arbeitsunfälle, da an den steilen Hängen mit viel Gewicht gearbeitet wird und eine Arbeiterin sowie ein Stadtrat erzählen, dass noch nie eine Arbeitskontrolle oder die Umweltschutzbehörde zu Besuch kamen. Die Löhne sind an den von Pinochet eingeführten Mindestlohn von derzeit etwa 350 Franken gebunden, jedoch mit «Boni je nach Produktivität», wie sich der Grossgrundbesitzer Schmidt letztes Jahr in einem Gefälligkeitsartikel in der rechten Zeitung «El Mercurio» zitieren liess. Der Artikel porträtierte Schmidt als bodenständigen Aufsteiger und guten Arbeitgeber. Kritische Fragen wurden nicht gestellt.

Der hausgemachte Wassermangel

«Als Kind musste ich nur ein kleines Loch in die Erde graben und schon stiess ich auf Wasser», erzählt Aldo Alvarado, der schon sein ganzes Leben in Llay Llay wohnt. Die Region ist eigentlich bekannt für ihren Wasserreichtum, den es unter der Erde beherbergt, da sich das Wasser im regenreichen Winter im Kessel von Llay Llay sammelt und dort versickert. Doch seit Jahren ist dies nicht mehr so, es regnet nicht mehr so viel und der Aconcagua bringt im Sommer kaum mehr die Wassermengen von früher mit sich. Der Klimawandel macht sich im Tal des Aconcagua in aller Härte bemerkbar. Die Wasserknappheit lässt sich aber, wie in anderen Teilen Chiles, durch die industrielle Nutzung des Wassers erklären. Überall im Land verstreut gibt es Regionen, die an Trockenheit leiden. So sind es im Süden die Mapuche, die klagen, dass bei ihnen der Grundwasserspiegel aufgrund der extensiven Forstwirtschaft sinkt. Von der Mitte des Landes bis in den Norden sind es Minen in den Anden, die das Wasser zum Herauswaschen der Kupfers gebrauchen und mit Schwermetallen verseuchen. In der Mitte des Landes kommt noch die verstärkte Nutzung der Quellen durch GrossgrundbesitzerInnen hinzu, die dank mehr Kapital tiefere Brunnen als die ansässige Bevölkerung bohren können. «Im Tal des Aconcaguas kommt noch die schlechte Verteilung des Wassers, welches der Fluss mit sich bringt, dazu», so Marcelo Diaz, Vorsitzender einer frisch gegründeten Gruppierung zum Schutz des Wassers. Überdies pumpt der private Wasserkonzern Esval im Dörfchen Las Vegas bei Llay Llay Wasser für die Grossstadt Valparaiso ab. Die Pumpen von Las Vegas können derweil kein Trinkwasser mehr für die lokale Bevölkerung finden. Das Wasser im Tal wird knapp, wie in vielen Regionen Chiles, in der neue GrossgrundbesitzerInnen mit einer enorm extensiven Landwirtschaft alle Wasserressourcen ausbeuten, die sie finden.

«Das Hauptproblem ist die kapitalistische Produktionsweise»

Dagegen gibt es in Llay Llay nun Widerstand, die neu entstandene Bewegung beschwert sich wegen der schlechten Verteilung des Wassers. Denn während den kleinen Bauern und Bäuerinnen die Kanäle vertrocknen, bauen die Grossgrundbesitzer-Innen immer tiefere Brunnen – mit Rechten, die sie billig anderen abkaufen. Allein im Dorf Las Palmas wurden Rechte erworben, um mehr als 200 Liter pro Sekunde aus der Erde zu pumpen, während sich die Bevölkerung im Dorf mit 6 Liter pro Sekunde für ihr Trinkwasser zufrieden geben muss. «Das Problem», so meint Marcelo Diaz, «ist, das diese Typen alle rechtlichen Taschentricks kennen, um sich Rechte für Wasser und alles weitere zu ergattern.» In Chile ist Wasser ein privates Gut. Jemand, der das Recht zur Förderung von Wasser hat, kann mit diesem tun und lassen was er oder sie will. Die Gemeinden vergeben Wasserrechte; ist bereits die Höchstzahl an Rechten vergeben, können diese dann privat gehandelt werden. Das entsprechende Gesetz, eines von so viele Reliquien aus der Zeit der Pinochet-Diktatur, wollen Organisationen in ganz Chile nun ändern. Wenn möglich mit der Unterstützung der Regierung, wenn nötig durch Besetzungen von Autobahnen und Mobilisierungen der lokalen Bevölkerung. Das Ziel: eine Verstaatlichung des Wassers, damit dieses als ein Grundrecht für alle zugänglich gemacht werden kann. Doch dies sei nicht die Lösung aller Probleme, erklärt Marcelo Diaz. Die Übernutzung des Wassers könne durch dessen Verstaatlichung allein nicht aufgehoben werden: «Das Hauptproblem ist die kapitalistische Produktionsweise, die den Klimawandel verursacht hat. Die Landwirtschaft hat hier früher so gut funktioniert, weil nach der Ansicht von Ökonomen nicht wirtschaftlich produziert wurde.» Die Hügel wurden nur zur Weide genutzt und es wurde hauptsächlich das Wasser vom Aconcagua zur Bewirtschaftung genommen. Die neuen Produktionsweisen bewirkten, dass sich der Grundwasserspiegel in Llay Llay in den vergangenen Jahrzehnten enorm gesenkt hat. Marcelo Diaz erinnert auch an ein Staudammprojekt von Salvador Allende, welches das Wasser des Winters ähnlich wie ein Gletscher speichern sollte, damit es dann im Sommer für die Landwirtschaft genutzt werden könnte – eines von so vielen nachhaltigen und sinnvollen Projekten, die mit dem Putsch von 1973 beerdigt wurden.

Aus der Printausgabe vom 27. März 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

«Rojava ist der Anfang»

ivana-hoffmanEine junge Kommunistin aus Deutschland ist im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ums Leben gekommen.

Ohne jeglichen familiären Bezug zur Region oder Kultur hat sie sich dem Befreiungskampf der syrischen KurdInnen angeschlossen.

Nach Rojava ist sie gegangen, um die Revolution zu verteidigen. Weil man hier für die Menschlichkeit kämpfen würde. Weil man hier den Internationalismus vertreten könne. «Ich will ein Teil der Revolution in Rojava sein, ich will den Kampf, der alle unterdrückten Völker verbindet, kennenlernen und vor allen Dingen die Revolution in Rojava, wenn es sein muss, mit meinem Leben verteidigen», schrieb die 19-jährige Ivana Hoffmann in einem Brief. Am 7. März wurde sie im Kampf gegen den IS im Nordosten Syriens getötet.

In Syrien und im Irak herrscht Krieg. Der radikal islamistische IS versucht hier, mit Gewalt an die Macht zu gelangen. Offensichtlich hat das Vorhaben eine starke Anziehungskraft für junge Muslimas und Muslime in Europa. Nur schon aus Deutschland sollen Hunderte für den IS in ihren reaktionären Krieg gezogen sein.

Im Norden Syriens, in Rojava, haben die KurdInnen den syrischen Bürgerkrieg ausgenutzt und sich in ihren Gebieten Selbstbestimmung und Autonomie erkämpft. Hier ist ein einmalig progressives Projekt entstanden: Religiöse und ethnische Minderheiten werden geschützt und in die Selbstverwaltung einbezogen. Es wurden basisdemokratische Strukturen aufgebaut. Und die Frauen haben das ihnen gebührende Mitspracherecht durchgesetzt.

Rojava ist damit umgekehrt zum IS zu einem Sehnsuchtsort für Linke geworden. Allerdings hält sich der Zufluss von internationalen KämpferInnen in Grenzen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz spricht von einer zweistelligen Zahl von Personen aus Deutschland, die in den Reihen der syrisch-kurdischen YPG-YPJ, der türkisch-kurdischen PKK oder ihrer Verbündeten kämpfen. Die meisten davon dürften auch einen familiären Bezug zu dieser Region haben. Nicht so Ivana Hoffmann.

«Ein sozialer Mensch»

Ivana Hoffmann wuchs in Duisburg in Deutschland auf. Sie war noch in der Schule, stand vor dem Abitur. Ihr Vater stammt aus Togo, die Mutter ist Deutsche. Sie sagte über Ivana: «Überall, egal ob in der Schule, beim Fussball, überall war sie beliebt. Ein fröhlicher Mensch war sie, sie hat jeden zum Lachen gebracht.» Wie kam es nun dazu, dass diese junge Frau ihr Leben hergab für diesen Kampf, der nicht der ihre zu sein scheint? «Ivana war ein sozialer Mensch», erzählt einer ihrer Duisburger Freunde. «Sie wuchs mit vielen türkischen und kurdischen Freunden auf, sie konnte Türkisch und Kurdisch und sie hat sich für Frauenrechte eingesetzt. Sie wollte die Revolution von Rojava verteidigen, die ja auch eine Revolution der Frauen ist.»

Ivana war seit ihrem 13. Lebensjahr in der migrantisch geprägten kommunistischen Jugendorganisation «Young Struggle» in Duisburg aktiv, die der türkischen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) nahesteht; später war sie auch direkt bei der MLKP. In Syrien gibt es MLKP-Mitglieder, die unter dem Oberkommando der YPG kämpfen. Einer davon war Suphi Nejat Arnasl, der im Oktober im Alter von 30 Jahren bei den Kämpfen um Kobanê getötet wurde. Er stammte ebenfalls aus Duisburg, war aber bereits vor einigen Jahren zum Studieren nach Istanbul gegangen. Die zweite Person aus Deutschland, die im Bürgerkrieg fiel, ist nun Ivana Hoffmann.

Die MLKP schreibt: «Unsere Genossin ist (…) ein Beispiel für die Loslösung von allen Fesseln geworden. Statt eines anderen geordneten Lebens, hat sie sich für die Revolution entschieden.»

Für Ivana selbst scheint es nicht der Fall gewesen zu sein, als ob sie ein «geordnetes Leben» verlassen hätte. Noch vor ihrem Aufbruch in den Krieg stellte sie sich die Sache folgendermassen vor: «Ich werde erfahren, wie es sich anfühlt, eine Waffe in der Hand zu haben. Ich werde das Leben anders spüren, intensiver und geordneter.»

Eine Freiheitskämpferin

Vor einem Dreivierteljahr hat Ivana die Schule abgebrochen, um sich unter dem Codenamen Avasin Tekosin Günes einer internationalen Brigade der MLKP anzuschliessen, die im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet Rojava gemeinsam mit den kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ gegen den IS kämpft. Der Mutter erklärte sie: «Ich möchte meinen Weg gehen und Freiheitskämpferin werden.»

Ivana Hoffmann war am schweren russischen Maschinengewehr BKC ausgebildet worden und hat im Kanton Cizîrê gekämpft. Ivana sei bis «zur letzten Kugel» gegen die «ISIS-Banden kämpfend bei der Verteidigung des assyrischen Dorfes Til Hemis gestorben». In jener Nacht sei sie mit «weiteren Kämpfern der YPG gefallen», der Angriff auf das christliche Dorf sei aber abgewehrt worden.

Ivana Hoffmann kämpfte in Rojava, weil ihr bewusst war, was auf dem Spiel steht: «Wir sind hier, um für die Freiheit zu kämpfen. Denn Rojava ist der Anfang, Rojava ist unsere Hoffnung.»

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Barrikaden statt Bankett

FFMDer Blockupy-Aktionstag in Frankfurt war nicht nur Ausdruck eines gut organisierten internationalen und antikapitalistischen Massenprotests. Die Stimmung auf der Strasse war ebenso eine der sozialen Unruhe.

Ursprünglich war eine prunkvolle Feier geplant, doch am Ende gab es nicht mal Sekt, bloss Mineralwasser, kein Bankett, nur ein paar Oliven und anstatt überschwänglicher Lobeshymnen, hielt EZB-Präsident Mario Draghi eine fast selbstkritische Rede. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ihr neues Hochhaus eröffnet. Noch gerade rechtzeitig sahen auch die EZB-FunktionärInnen ein, dass eine Feier für eine von vielen EuropäerInnen verhassten Troika-Institution nicht sehr angebracht ist. Dort Verarmungsprogramme, hier ein Freudenfest der Herrschenden. Schlechte Presse war zu befürchten. Erst recht, wenn draussen der Ausnahmezustand herrscht. Und tatsächlich war in Frankfurt am 18. März – am Tag der Pariser Kommune sowie am internationalen Tag der politischen Gefangenen – ein kleiner Aufstand im Gange. Gegen 25 000 Leute aus ganz Europa protestierten gegen die bestehenden Verhältnisse. Mehrere Tausend beteiligten sich an Blockaden und anderen direkten Aktionen. Mobilisiert hatte das nun vierjährige internationale Bündnis «Blockupy», das sich in Deutschland – von Attac bis zum linksradikalen Bündnis «…umsGanze» – aus verschiedenen Gruppen, Parteien und Initiativen zusammensetzt.

Dilettantische Polizei

Noch im kühlen Dunkel des frühen Morgens versammelten sich an vier Punkten in der Frankfurter Innenstadt immer mehr vorwiegend junge Menschen. Punkt sieben Uhr setzten sich die Gruppen in Bewegung, um die Zufahrtsstrassen zum EZB-Neubau zu blockieren. Der Blockupy-Aktionskonsens lautete «Wir sagen, was wir tun, wir tun, was wir sagen» und «von uns geht keine Eskalation aus». Natürlich ist es unmöglich, eine Grossveranstaltung mit solchen Weisungen vollständig zu kontrollieren. Darüber hinaus wird diese Strategie bei weitem nicht von allen TeilnehmerInnen akzeptiert. Die Eskalation, zu der es dann auch gekommen ist, ist aber zu einem guten Teil auf das Verhalten der Polizei zurückzuführen. Schon Tage vor der Eröffnung sperrte diese die neuralgischen Punkte mit über 100 Kilometer Nato-Draht ab und am Tag selbst waren rund 8000 PolizistInnen, vier Hubschrauber, ein Flugzeug, Polizeiboote, 28 Wasserwerfer, Panzerräumfahrzeuge und sogar die Sondereinheit GSG9 im Einsatz. Dabei vergass die Polizei aber völlig, ihre Wachen zu schützen, was schier einer Einladung gleichkam. Und anstatt hinter ihren Absperrungen zu stehen, hielten sich auf der Route vereinzelte Kastenwagen und kleinere Einheiten auf. Beim Anrücken der Masse versuchten diese wenigen PolizistInnen, ihr den Weg zu versperren. Eine völlig sinnlose Aktion, war doch etwas weiter hinten bereits die unbezwingbare Hauptabsperrung befestigt. Diese dilettantische Polizeiaktion scheiterte kläglich, die Beamten wurden von der Masse weggedrängt, die Kastenwagen angezündet. Angerückte Verstärkung prügelte sich den Weg frei und verschoss – in Deutschland ungewöhnlich – mit Gewehren Tränengaskartuschen. Auch hier ist die Frage, ob diese Eskalation von der Polizei gewollt provoziert oder aus koordinativer Inkompetenz entstanden ist, reine Spekulationssache. Die Polizeigewalt hinterliess jedenfalls 200 Verletzte, 50 davon wegen Schlagstockeinsätzen.

Ob gewaltfrei oder militant …

Natürlich gab es auch Angriffe auf Polizeieinheiten und Infrastruktur. Sieben Polizeiwannen wurden abgefackelt, eine Wache attackiert, die gesamte Strassenbahn zeitweise sabotiert, Strom- und Telekommunikationsleitungen angezündet, Banken entglast, Rüstungsproduzenten, Arbeitsagenturen und Stadtvermarktungsbüros eingefärbt, brennende Barrikaden errichtet. Doch weder das Bekennen zu gewaltfreien Aktionen noch die Anwendung von Militanz führte zu einer wahrnehmbaren Spaltung der Protestierenden. So protestierten an der abendlichen Grossdemonstration alle Spektren der Bewegung gemeinsam und mehr oder weniger ohne geschlossene Blöcke. Die Teilnahme war zudem doppelt so hoch, wie von den OrganisatorInnen erwartet – und dies trotz der morgendlichen Ausschreitungen. Eine solch besonnene Entschlossenheit ist nicht gewöhnlich. Zu oft spalten sich Bewegungen wegen unterschiedlicher Ansichten über die Taktiken. Dass es in Frankfurt nicht zu einer wesentlichen Zerklüftung kam, liegt sicherlich auch an der sich unübersehbar zuspitzenden Misere in Europa. Noch wesentlicher dürfte aber ein Lerneffekt sein, der sich immer mehr durchzusetzen scheint. Anders als bei vorangegangenen Gipfeltreffen und Gegendemonstrationen spielten sich die militanten Aktionen meistens in einiger Ferne zu den Blockadepunkten ab. Die Respektierung der gewaltfreien Ansammlungen funktionierte weitgehend. Nur selten handelten Militante aus gewaltfreien Massen heraus, sodass diese durch Polizeigewalt gefährdet gewesen wären. Es schien so, als hätte sich unter den Blockierenden ein allgemeines Bekenntnis zur Vielfalt der Aktionen etabliert. Die zahlreichen gelegten Brände, welche von der Masse nicht gelöscht, sondern verteidigt wurden, der verbreitete Wille, das EZB-Sperrgelände zu stürmen oder die Bereitschaft, die Blockadepunkte zu verteidigen, waren ein klarer Ausdruck der sozialen Unruhe.

… wichtig ist der Widerstand!

Dass mit dem rein symbolischen Protest gegen die EZB-Eröffnungsfeier der Kapitalismus nicht gestürzt wird, war auch den meisten Teilnehmenden klar. Bemerkenswert ist hierzu, dass sich rund um die seit 2012 andauernden Vernetzung des Blockupy-Bündnisses vielerlei Zusammenschlüsse gebildet haben, welche die Beschränktheit eines Gipfelprotests durchbrechen wollen. Das Ziel von Blockupy ist «eine europäische Bewegung schaffen, einig in ihrer Vielfalt, die die Macht des Krisenregimes und der Austeritätspolitik überwindet und damit beginnt, Demokratie und Solidarität von unten aufzubauen». Widerstand ist dann am wirksamsten, wenn er sich dezentral im Betrieb, in den Schulen, in den Quartieren und Strassen verschiedenster Orte äussert. Und Initiativen für die grenzüberschreitende Organisierung eines solchen Widerstandes gibt es immer mehr. So hält etwa das internationale antiautoritäre Bündnis «Beyond Europe» fest: «Die letzten Jahre haben uns die gegenwärtigen Grenzen unserer Organisierung gezeigt. Diese Grenzen wollen wir überschreiten. Nur durch koordinierte internationale Aktivität kann eine Gesellschaft jenseits von Staat, Nation und Kapital erreicht werden.» Auch fand im Februar in Rom ein von Blockupy organisiertes Treffen statt, welches einen europaweiten «Sozialen Streik» zum Ziel hat. Die Zeit für solche Vorhaben ist bestimmt nicht die schlechteste!

Aus der Printausgabe vom 27. März 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Und jetzt kommt der Schmerz

Finanzminister beraten über Euro-KriseAndere Länder sorgten in den letzten Jahren für internationale Schlagzeilen, weil sie von sozialen Bewegungen erschüttert wurden oder sich die Krisenfolgen in politische Verwerfungen ummünzten. Die Eidgenossenschaft schafft es – wie soll es auch anders sein – wegen eines waghalsigen Manövers der Schweizer Nationalbank (SNB) in die internationale Presse. Am 14. Januar morgens um halb elf gab der SNB-Präsident, Thomas Jordan, bekannt, dass man ab sofort den seit dreieinhalb Jahren gültigen Euro-Mindestkurs von 1.20 Franken aufgeben würde. Börse und Devisenmärkte reagierten auf die finanzpolitische Bombe: Der Swiss Market Index (SMI) gab innerhalb von zwei Tagen um gut 14 Prozent nach, der Euro sank zwischenzeitlich auf ein Allzeittief von 86 Rappen und pendelte sich dann etwa auf paritätischem Kurs ein.

Was war in die Schweizer Nationalbank gefahren? Die SNB ist nach dem «Bundesgesetz über die Schweizerische Nationalbank» verpflichtet, «die Geld- und Währungspolitik im Gesamtinteresse des Landes» zu führen. Offensichtlich hat das Direktorium entschieden, dass die Untergrenze des Euros für die Schweizer Nationalökonomie – von der die Proletarisierten natürlich immer nur abhängige Variabel sind – nicht mehr von hochrangiger Bedeutung ist oder dass zumindest der Preis für diesen Wechselkurs längerfristig einfach zu hoch ist.

Ausgerechnet jetzt??

Die Mitteilung der SNB kam für alle völlig überraschend. Doch wollte die Nationalbank den Mindestkurs halten, war das nur folgerichtig. Hätte sie im Vorfeld auch nur Andeutungen gemacht, wäre der Kurs angesichts der InvestorInnen am Devisenmarkt in kürzester Zeit ruiniert gewesen.

Als die Nationalbank den Mindestkurs im September 2011 eingeführt hatte, reagierte sie damit auf ein drohendes Auseinanderbrechen des Euros. Man hatte in der SNB-Direktion wohl darauf gehofft, dass die Euro-Krise in absehbarer Frist ausgestanden sei. Heute sind die liberalen MarktanbeterInnen in ihrer Einschätzung näher dran als die etatistisch orientierten Linken, wenn sie erklären, dass diese Massnahme nicht für die Ewigkeit sein konnte. Doch warum wurde der Kurs gerade jetzt aufgekündigt? Die Euro-Krise ist längst nicht ausgestanden und die Wachstumsdaten der Schweizer Wirtschaft sind auch nicht gerade berauschend. Verschiedene Erklärungen machen die Runde: Zum einen hatte sich die Weltwährung Dollar gegenüber dem Schweizer Franken – der sich faktisch an den schwächelnden Euro gebunden hatte – in den vergangenen Jahren stark aufgewertet. Zudem hält die SNB, auch wegen ihrer massiven Stabilisierungskäufe, mittlerweile Devisen im Wert von etwa 500 Milliarden Franken. Zwar kann die Bank theoretisch unendlich viel Devisenreserven halten, bloss birgt dies das Risiko, dass sich diese abwerten und die Bank eine Verlustgeschäft einfährt. Mit weiteren Stützungskäufen hätte sich dieses Risiko zugespitzt. Die SNB ist diesbezüglich politisch unter Druck, weil sowohl Bund als auch Kantone von Gewinnausschüttungen profitieren. Ausschlaggebend dürfte aber gewesen sein, dass bereits im Vorfeld der Entscheidung der Europäischen Zentralbank (EZB) vom letzten Donnerstag gemunkelt wurde, dass diese mit enormen Aufkäufen von Staatsanleihen ein sogenanntes «Quantitative Easing» anvisiert und den Markt mit Euros überschwemmen würde. Dagegen hätte die Schweizer Nationalbank ihren Mindestkurs nur schwer verteidigen können.

Wirtschaftliche Folgen

Als die SNB die Untergrenze aufhob, brach der Markt kurzfristig zusammen. Es gab während rund 20 bis 30 Minuten keine Kurse. Danach war Augenreiben angesagt: Schweizer Pensionskassen hatten auf einen Schlag rund 30 Milliarden Franken verloren. Mehrere Investorenfirmen mussten die Pforten schliessen. Die Banken sitzen als Kreditgeberinnen von DeviseninstorInnen auf offenen Forderungen, deren Begleichung höchst fraglich ist.

Doch was den ratlosen ExpertInnen wirklich Kopfzerbrechen bereitet, sind die noch ausstehenden Folgen des SNB-Entscheids. Wie üblich sind sich die WahrsagerInnen der Volksökonomie nicht einig, sondern zerfallen in die widerstreitenden Schulen. Einig ist man sich indes, dass für die Schweizer Exportindustrie und den Tourismus schwere Zeiten anstehen. Die Kosten in der Schweiz sind im Verhältnis zu den ausländischen Kundenvermögen auf einen Schlag um rund 20 Prozent gestiegen, was man nur teilweise und zeitverzögert abbauen kann, indem man es auf die Proletarisierten abwälzt. Es kursieren verschiedene Kurshöhen auf welchen sich der Euro angeblich einpendeln werde, und es sind unterschiedliche Ansichten zu hören, was die Schweizer Wirtschaft ertragen könne. Angesichts der kaum ausgestandenen Krise in der EU – aktuell stehen die Reaktionen auf die Wahl in Griechenland an – und dem «Quantitative Easing» der EZB muss man wohl kein Wahrsager sein, um einen schwachen Euro zu prognostizieren. Fest steht: Wenn der Euro-Kurs sich auf tiefem Niveau einpendelt, ist für die Schweiz ein schleppendes Wachstum und eine steigende Arbeitslosigkeit zu erwarten. Dreieinhalb Jahre konnte man die Insel der Glückseligen aufrechterhalten, jetzt folgt erstmal der Einbruch der globalen ökonomischen Realität.

Politische Reaktionen

Wieder Mal folgt wohl auf eine ökonomische Misere ein politisches Desaster. Und zwar nicht weil der Staat ohnmächtig ist, sondern weil er schlicht und einfach das Interesse der Nationalökonomie organisieren muss. Das heisst konkret, immer annehmbare Akkumulationsbedingungen für das Kapital zu garantieren. Die rasche Unterzeichnung von Freihandelsverträgen, wie sie einige FDP-ExponentInnen bereits öffentlich bewarben, dürfte für die Lohnabhänigen noch das kleinere Problem darstellen. Wer die «Arena» am Wochende nach dem SNB-Entscheid geschaut hat, weiss, worauf sich die Proletarisierten einstellen müssen. Zum einen wurde von Unternehmerseite vehement darauf hingewiesen, dass man Rationalisierungen und Lohnkürzungen vornehmen müsse, um die Exportunternehmen wieder in Schuss zu bringen. Mehr Stress und weniger Lohn lautet das Rezept. Von mehreren PolitikerInnen wurde im Fernsehen die Unternehmenssteuerreform III ins Spiel gebracht. Im Windschatten des Diskurses über die sich verschlechternden Standortbedingungen will die Rechte diese Reform so schnell wie möglich durchbringen. In Kombination mit dem Abflauen der Konjunktur bedeutet dies Mindereinnahmen für den Staat und dürfte folgerichtig die weitere Ausdehung von Sparpaketen und Sozialabbau bedeuten.

Angesichts der bedauerlichen Schwäche der proletarischen Gegenwehr in diesem Land lässt sich die nähere ökonomische und politische Zukunft wohl mit einem einfachen Satz zusammenfassen: Und jetzt kommt der Schmerz.

Aus der Printausgabe vom 30. Januar 2015. Unterstütze uns mit deinem Abo

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