Die EisenbahnerInnen geben nicht auf

Georg Polikeit. Die seit Anfang April immer wieder zwei Tage streikenden französischen EisenbahnerInnen wollen ihren Kampf gegen die «Liberalisierung» und möglich werdende Privatisierung des staatlichen Eisenbahnunternehmens SNCF und gegen die damit verbundenen Verschlechterungen für die Beschäftigten nicht aufgeben, obwohl das französische Parlament am 13./14. Juni das von Staatschef Macron gewollte Gesetz zur «SNCF-Reform» endgültig verabschiedet hat.

Die vier als «repräsentativ» anerkennten Gewerkschaften in dem Unternehmen haben sich zunächst darauf geeinigt, an den geplanten Streiktagen bis Ende Juni festzuhalten. Allerdings mit einer Änderung: für die 17. Streiksequenz am 22./23. Juni hatten die «reformistischen» Gewerkschaftsbünde CFDT und UNSA die Aussetzung des Streiks befürwortet, weil in der Zeit vom 18. – 25. Juni in Frankreich die schriftlichen BAC-Prüfungen (gleich dem deutschen Abitur) stattfinden und die Prüflinge nicht durch Zugausfälle und lange Wartezeiten belästigt werden sollten. Dafür einigte man sich darauf, den letzten geplanten Streiktag am 28. Juni nochmals zu einem besonderen Höhepunkt der Mobilisierung zu machen.

Gegen Arbeitsplatzvernichtung
Für den gleichen Tag (28.6.) riefen auch mehrere Gewerkschaften sowie Studenten- und Schülerorganisationen zu einem erneuten gemeinsamen landesweiten Aktionstag auf. Dabei geht es generell um den Erhalt bedrohter Sozialleistungen, um den Protest gegen Macrons neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik generell, für Lohn- und Gehaltserhöhungen und dadurch erhöhte Kaufkraft, gegen Arbeitsplatzvernichtung, Rentenkürzungen, die Streichung von Wohnungsbeihilfen und andere soziale Untaten. Zu den Initiatoren gehören neben der CGT auch wieder die eigentlich eher zum reformistischen Lager zählende «Force Ouvrière» (FO), die autonomen Gewerkschaften Solidaires/SUD sowie die UNEF (Nationaler Studentenverband), UNL (Nationale Schülerunion) und FIDL (Unabhängige demokratische Schülervereinigung). Unter anderem sind die Beschäftigten der öffentlichen Dienste, der Gas- und Stromversorgung, der Strassenverkehrsunternehmen, der Metallindustrie, der Sozialversicherung, des sozialen Wohnungsbaus und anderer Sozialeinrichtungen von ihren Gewerkschaftsverbänden zu Arbeitsniederlegungen und zur Teilnahme an den Demonstrationen und Kundgebungen der Gewerkschaften aufgerufen. Die Schüler- und Studentenorganisationen beteiligen sich, um insbesondere ihren Protest den gegen «Parcoursup» zum Ausdruck zu bringen. Das ist die von der Regierung eingeführte neue Methode zur Verteilung von Studienplätzen, die die Auswahl derjenigen, die einen Studienplatz bekommen, und derjenigen, die nicht zu den gewünschten Fachrichtungen zugelassen werden oder angesichts des Mangels an Studienplätzen gar keinen Studienplatz bekommen, einer rein schematisch funktionierenden Internet-Software überträgt. Sie wird auch als eine Methode der «sozialen Selektion» bezeichnet, weil sich bei der ersten Anwendung im Juni 2018 bereits erwiesen hat, dass damit nachweisbar Jugendliche aus den ärmeren Wohngegenden und Bevölkerungsschichten deutlich benachteiligt werden.
Wie es nach dem 28. Juni mit dem Kampf der EisenbahnerInnen weitergehen wird, ist derzeit noch nicht genau abzusehen. Der Streik der SNCF-Beschäftigten ist mit 36 Streiktagen innerhalb von 12 Wochen (zusammengenommen also mehr als ein ganzer Monat Arbeitsniederlegungen) schon jetzt der längste Streikkampf in Frankreich mindestens in den letzten 30 Jahren. Er hat zwar nicht zum totalen Stillstand des Eisenbahnverkehrs, aber doch zu erheblichen Einschränkungen geführt. Oft fuhren, vor allem wegen der teilweise über 50 Prozent liegenden Beteiligung der Lokführer und des Fahrpersonals, nur einer von drei oder fünf fahrplanmässig vorgesehenen Zügen.
Diese lange Dauer ist um so bemerkenswerter, als die Streiktage nicht bezahlt werden und keine gewerkschaftlichen Streikgelder gezahlt werden. Die Beteiligten hatten deshalb erhebliche Lohneinbussen bis zu mehr als einem Monatsgehalt zu verkraften. Das ist einer der Gründe, warum die Fortsetzung des Streiks in der bisherigen während der Sommermonate wohl so nicht durchgehalten werden könnte. Abgesehen davon, dass in Frankreich am 7. Juni für einige Regionen die grossen Sommerferien beginnen, an denen natürlich auch die Eisenbahnbeschäftigten in den Urlaub verreisen, also nicht an Arbeitsniederlegungen teilnehmen können.

Neue Phase
Bei einer Beratung der vier «repräsentativen» Gewerkschaftsbünde am 19. Juni ergab sich, dass keine Übereinstimmung über die Fortsetzung des Kampfes und die zu verwendenden Kampfmethoden über den 28. Juni hinaus erreicht werden konnte. Die bisherige Einheit der vier Gewerkschaftsbünde konnte also nicht auch für die neue Phase nach dem 28. Juni erreicht werden. Zwar waren sich alle TeilnehmerInnen der Beratung weitgehend einig, dass die Dreierrunde eines «Runden Tisches» von Arbeitsministerin, Gewerkschaften und Unternehmerverband am 15. Juni, die nach langem Beharren der Gewerkschaften auf der Einberufung einer solchen Zusammenkunft durch die Regierung zustande kam, kaum positive Ansätze erkennen liess.
Die Regierung hatte sich im Einvernehmen mit der SNCF-Direktion trotz aller Einwände der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften als völlig unnachgiebig erwiesen, was die von ihr vorab festgelegten drei «Grundrichtungen» der gewollten «SNCF-Reform» anbetrifft: Umwandlung der bisher staatlichen Eisenbahngesellschaft in eine Aktiengesellschaft in öffentlichem Eigentum, Öffnung des Eisenbahnbetriebs für private Konkurrenzunternehmen gemäss den Vorschriften der EU und Abschaffung des besonderen Beamtenstatus der EisenbahnerInnen bei allen Neueinstellungen ab dem 1. Januar 2020. Aber auch für die nun anstehenden Verhandlungen über die Ausführungsbestimmungen zu dem beschlossenen Gesetz gab es keine positiven Signale.
Dabei geht es insbesondere um Verhandlungen über einen Branchentarifvertrag für die gesamte Eisenbahnbranche und alle dort Beschäftigten, unabhängig davon, ob sie in der öffentlichen SNCF-AG verbleiben oder auf von Privatunternehmern betriebene Strecken u und Einrichtungen versetzt werden, sowie um eine gesonderte Betriebsvereinbarung für diejenigen, die weiter bei der SNCF beschäftigt bleiben.

Präsidentenerlasse
Während Regierung, Unternehmer und von ihnen beeinflusste Medien vehement verkünden, dass mit der Annahme des Gesetzes im Parlament die Auseinandersetzung nun zu Ende sein müsse und weitere Streiks keiner Legitimität mehr hätten, wird von der CGT darauf verwiesen, dass der parlamentarische Prozess mit der Annahme des Gesetzes noch nicht abgeschlossen ist. Rund 80 Prozent des «Reformvorhabens» seien noch zu regeln. Denn manche Artikel des beschlossenen «Reformgesetzes» enthalten lediglich die Festlegung, dass zu bestimmten Fragen noch «Ordonnanzen» erlassen werden, also Präsidentenerlasse ohne erneute Parlamentsdebatte. Andere Artikel besagten, dass das Nähere durch Regierungsverordnungen geregelt werden soll. Da sind also noch eine Menge Einzelfragen offen.
Deshalb steht es für die CGT, die stärkste Gewerkschaft bei der SNCF, ausser Frage, dass der Konflikt auch über den 28. Juni hinaus mit weiteren Kampfaktionen fortgesetzt werden muss. Das Dreiertreffen mit Regierung und Unternehmerverband am 15. Juni habe keinerlei Signale in Richtung «realer Garantien» ergeben, weder hinsichtlich der bereits angekündigten weiteren Einschränkung des Frachtbereichs (Güterverkehr) noch hinsichtlich der Erhalts der Nahverkehrslinien, der Sicherung der notwendigen Beschäftigtenzahl zur Sicherung eines pünktlichen Zugverkehrs noch des den Beschäftigten zugemuteten Einzugsgebiets zu ihren Arbeitsplätzen.

Kritik der Gewerkschaften
Die in Solidaires/SUD zusammengeschlossenen «autonomen» Gewerkschaften vertreten die gleiche Haltung, kritisieren aber zugleich, dass die bisherige Streikform (zwei Tage Streik, drei Tage Pause) nicht genügend Durchsetzungskraft entwickelt habe und die Streikbeteiligung an manchen Tagen zu wünschen übrig gelassen habe, weil die Beschäftigten kein Vertrauen dazu gehabt hätten, dass Regierung und Unternehmensleitung damit zum Einlenken gezwungen werden könnten.
Die «reformistischen» Gewerkschaften UNSA und CFDT waren jedoch offenbar empfänglicher für den Druck, der mit der Argumentation ausgeübt wurde, dass der Konflikt mit der Annahme des Gesetzes beendet werden müsse und weitere Streiks keine Legitimation mehr hätten. Nach einer Telekonferenz mit den regionalen Verantwortlichen erklärte die UNSA, der zweitstärkste Gewerkschaftsbund bei der SNCF, dass sie ihre Anhänger nicht zu weiteren Streikaktionen im Juli aufrufen werde. Sie wolle sich mehr auf die anstehenden Verhandlungen über den Branchentarifvertrag und die Betriebsvereinbarung konzentrieren. Allerdings wurde dabei nicht völlig ausgeschlossen, dass unter Umständen auch weitere Aktionen veranlasst werden könnten, wenn sich Unternehmerverband und SNCF-Direktion in den Verhandlungen als völlig ablehnend gegenüber gewerkschaftlichen Vorschlägen erweisen. Eine Tagung des Nationalrats der CFDT am 19. Juni hat sich auf eine ähnliche Haltung festgelegt.
Die CGT hingegen erklärte nach einer Tagung ihres Exekutivkomitees mit Vertretern aus allen Regionen des Landes am 20. Juni in einer Pressemitteilung, dass sie «während der Monate Juli und August regelmässig zum Streik aufrufen» werde. Die genauen Daten würden schrittweise bekannt gegeben «in Abhängigkeit von Fortschritten oder nicht bei den Verhandlungen, die den Forderungen der EisenbahnerInnen entsprechen müssen». Die CGT werde alles Notwendige tun, damit diese Termine «so einheitlich wie möglich» durchgeführt werden können. Das erste Datum wird laut einer Äusserung von Laurent Brun, Generalsekretär der EisenbahnerInnengewerkschaft der CGT, «die erste Juli-Woche» sein. Die konkreten Tage sollen Ende Juni bekanntgegeben werden.

1 2