Ex-Kolonien im Visier

Mary Serumaga. Nach dem Brexit richtet sich die einstige Kolonialmacht Grossbritannien neu aus: Statt über die EU mit den Ländern des globalen Südens zu handeln, soll das alte Commonwealth wiederbelebt werden, die Wirtschaftsbeziehungen mit den Ex-Kolonien sollen verstärkt werden.

Ende April fand in London das Commonwealth-Gipfeltreffen statt. Dieses Mal war es ein ganz besonderes Treffen. Zum ersten Mal trafen die StaatschefInnen von Grossbritanniens Ex-Kolonien zusammen, seit das Land für den Brexit gestimmt hat. Das Commonwealth wird gepriesen als ein Weg für das Land nach dem Ausstieg aus der Europäischen Union hin zu einem Empire 2.0.

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Gegenmacht herstellen!

Maximilien Dardel. Welche Bilanz zieht die Partei der Arbeit Belgiens (PTB) aus der Erfahrung von Syriza in Griechenland? Wie ist dem politisch-medialen Einfluss des Establishments zu begegnen? Wann wird die PTB regieren? Zweiter Teil des Interviews mit David Pestieau, Vizepräsident der PTB.

Die PTB erfreut sich im Moment an guten Umfragewerten, zumindest im französischsprachigen Teil. Ein wichtiger Vertreter der Partei, Raoul Hedebouw, erklärte aber: «Wir werden frühestens in 10 oder 15 Jahren an der Macht sein.» Ihre Partei scheint immer wieder die Frage einer Machtübernahme zu vermeiden. Welche Vision haben Sie gegenüber diesem Szenario?
David Pestieau: Ich denke, dass eine Regierung heute nicht die reale Macht in einer kapitalistischen Gesellschaft widerspiegelt. Die Macht des Staates ist ein Ensemble, wo es die Regierung gibt, aber auch die extrem grosse Zahl der LobbyistInnen der multinationalen Konzerne, welche quasi direkt oder indirekt am Kabinettstisch sitzen. Wir sagen, dass das derzeitige Spiel von Wahlen uns in Situationen bringt, in denen wir an der Regierung sein, aber keine wirkliche Macht ausüben könnten. Das ist sehr wichtig, denn es bestimmt unsere Strategie als linke Kraft. Wenn Sie die Gesellschaft von Grund auf verändern wollen, wenn Sie auch nur eine andere Verteilung des Reichtums wollen und kein Verständnis dieser Realität entwickeln, werden Sie die falsche Strategie verfolgen.
Die radikale Linke in Europa hat diese Erfahrung mit Griechenland erlebt. Es gab eine Regierung, die mit fast absoluter Mehrheit der Sitze gewählt wurde, Syriza, mit einem relativ radikalen Anti-Austeritätsprogramm, das sie aber nicht umsetzen konnte. Das praktische Resultat war, dass sie an der Regierung waren, aber nicht die Macht hatten. Man hat erlebt, dass von den ersten Tagen dieser Regierung an alle Entscheidungen der griechischen Regierung Angela Merkel und der EU-Kommission zur Kenntnis gegeben wurden, weil die hohen griechischen Beamten für das europäische Establishment arbeiteten. Es war zu sehen, dass das griechische und europäische Establishment auf die Regierung von Alexis Tsipras durch eine wirtschaftliche Strangulierung Druck ausübten, insbesondere gerade vor dem Anti-Austeritätsreferendum vom Juli 2015. Die in Griechenland praktizierte Strategie war, zu regieren, ohne wirklich über reale Macht zu verfügen. Sie mussten ein Programm verwirklichen, welches das Gegenteil des Programms war, mit dem sie gewählt worden sind.
Man kann nur feststellen: Wenn wir eine Strategie wollen, die die Probleme unserer Zeit wirklich anpackt, dann muss die Macht in ihrer Gesamtheit infrage gestellt werden. Wenn wir in der Lage sein wollen, diese Macht auch nur ein wenig zu erschüttern, muss es eine genügend starke Gegenmacht geben. Und diese Gegenmacht bedeutet nicht nur, ein gutes Wahlergebnis zu haben. Es muss auch eine Bewegung in der Gesellschaft geben und eine Organisation, eine Fähigkeit, eine gewisse ideologische Hegemonie herzustellen, um ausreichend starke Positionen zu haben, um auf die Strasse gehen zu können, wenn es wirtschaftliche Erpressung gibt. Man muss alternative Medien haben, um eine andere Tonart zu Gehör zu bringen. Man muss Leute haben, die den Kampf auch innerhalb der Institutionen führen können. Wenn wir nicht in der Lage sind, ein Minimum an Gegenmacht auf die Beine zu stellen und die Möglichkeit haben, die Bedingungen zu schaffen, um eine gewisse Anzahl unserer politischen Positionen durchzusetzen, laufen wir Gefahr, genau so wie Syriza zu enden.
Richten wir uns also nicht an den Umfragen aus. Selbst wenn wir den Wahlerfolg haben würden, den uns diese Umfragen prognostizieren, müssen wir in der Lage sein, eine gänzlich andere Politik zu verwirklichen.
Ausserdem haben wir in Belgien ein System von Regierungskoalitionen. Und hier sehen wir im Moment keine Veränderungen bei den anderen Kräften, die sich links nennen. Wir haben eine sozialdemokratische Partei, welche die politische Szene seit Jahrzehnten dominiert, und wir haben eine grüne Partei. Doch diese beiden Parteien verharren heute immer noch in demselben Joch, dem sie sich seit 30 Jahren unterworfen haben.
Der Historiker Enzo Traverso sagte, dass die Sozialdemokratie in gewisser Weise ein Nebenprodukt der Oktoberrevolution sei. Ich würde nicht so weit gehen, aber auf jeden Fall ist der Erfolg, den die Sozialdemokratie hatte, mit einem sehr spezifischen Moment des Kapitalismus verbunden, der keineswegs sein wahres und normales Gesicht zeigt. Wenn man genau hinsieht, hat der Kapitalismus seit dem 19. Jahrhundert mehr Krisen erlebt als Stabilität. Diese berühmten goldenen Jahre zwischen 1945 und 1980, die die glorreichen Tage der europäischen Sozialdemokratie waren, sind mit einem besonderen Zeitabschnitt des Wiederaufbaus einer starken ArbeiterInnenbewegung und der Existenz eines konkurrierenden Systems verbunden.
In den neunziger Jahren hat die Hinwendung zum Sozialliberalismus den sozialdemokratischen Parteien eine Zeit lang einen Wechsel ermöglicht, mit der sogenannten Politik des kleineren Übels: «Ohne uns wäre es schlimmer.» Heute ist seit einiger Zeit eine grosse politische Krise der traditionellen politischen Kräfte, insbesondere der Sozialdemokratie, zu sehen. Es war also logisch, dass dieses Phänomen auch Belgien treffen würde. Die Besonderheit im französischsprachigen Belgien ist, dass dieser Absturz der Sozialdemokratie nicht zugunsten der extremen Rechten erfolgte, sondern auch zugunsten der Kräfte der radikalen Linken.

Ihre Abgeordneten leisten den Eid in den drei offiziellen Sprachen Belgiens, um ihr Festhalten an der Einheit des Landes zu zeigen. Es ist wichtig zu betonen, dass Sie die einzige gesamtnationale Partei Belgiens sind. Doch wenn der Protest gegen die Sparmassnahmen und die EU in Wallonien sich positiv für die PTB auswirkt, scheint in Flandern die Neue Flämische Allianz (N-VA) Vorteil daraus zu ziehen. Wie erklären Sie das? Ist das das Zeichen eines unüberwindbaren Gegensatzes innerhalb der belgischen Nation?
In Belgien haben wir eine Besonderheit mit drei Sprachen: In Flandern wird Niederländisch gesprochen, in Wallonien hauptsächlich Französisch, in einem kleinen Teil wird Deutsch gesprochen, und in Brüssel spricht man Französisch und Niederländisch. Es gibt die gleiche Situation in einem anderen Land Europas, nämlich der Schweiz. Der Unterschied ist, dass dort alle Parteien nationale Parteien geblieben sind. In Belgien wurden zuerst die Parteien gespalten, bevor die Leute gespalten wurden. Aus Gründen des politischen Opportunismus wurde beschlossen, die Parteien in zwei Teile zu trennen. Wir sind eine nationale Partei geblieben. Es ist schwierig zu sehen, wie man eine internationalistische oder auch nur eine europäische Vision verteidigen könnte, wenn man nicht in der Lage ist, in Belgien eine einzige Partei zu sein und sich unter MarxistInnen zu verständigen, die einfach nur eine andere Sprache sprechen! Wir haben darauf gesetzt und tun es jeden Tag, eine nationale Partei zu sein. Die sprachliche Spaltung in Belgien dient den Interessen der besitzenden Klassen.
In Flandern entwickelte sich die Sozialdemokratie in einem Kontext, in dem die Rechte stärker war und es eine nationalistische Bewegung gab, die sich entwickelte und politisch in die Rechte und sogar extreme Rechte einmündete. Die Besonderheit Belgiens, die die Dinge noch komplizierter macht, ist, dass wir eine faschistische, rechtsextreme Partei haben, der «Vlaams Belang», und zusätzlich noch in der traditionellen flämischen Bewegung das Aufkommen einer «zivilisierten» extremen Rechten, wie man sagt, eine neue Rechte, die N-VA. Wir haben also eine der am besten organisierten faschistischen Parteien in Europa, die neben einer anderen Partei der neuen nationalistischen Rechten existiert, die auf sehr spezifische Art die Anti-Establishment-Stimmung vereinnahmt, obwohl sie selbst Teil davon ist.
Es ist eine schwierige Gleichung, die wir im Norden des Landes zu lösen haben. Diese Situation hat zur Folge, dass wir in Flandern nicht die gleichen Wahlergebnisse wie in Wallonien bekommen. Aber in einer Stadt wie Antwerpen, der grössten Industriestadt des Landes, bekommen wir immerhin neun Prozent, was angesichts dieses Kontextes ein sehr gutes Ergebnis ist, auch im Vergleich zu nicht wenigen anderen Parteien der radikalen Linken in Europa. Aber der Kampf ist schwieriger. Wir glauben nicht, dass die WallonInnen von Natur aus wesentlich linker sind als die FlamInnen, wie ich auch nicht meine, dass die Menschen des französischen Südens genuin mehr rechts sind als die in anderen Regionen Frankreichs. Wir meinen, dass es mit besonderen politischen Kontexten zusammenhängt und dass der Kampf überall geführt werden muss, mit dem Gedanken geführt werden muss, dass die Werktätigen vereint werden müssen. Das ist unsere Aufgabe.

In letzter Zeit scheint die grossen belgischen Medien eine echte Angst vor Rot ergriffen zu haben. Wie gehen Sie damit um, dass ein Teil der Presse Sie ständig mit dem Bild des Kommunisten mit einem Messer zwischen den Zähnen darstellt?
Wenn Sie einen Kampf führen, bei dem Sie eine Reihe von neoliberalen Dogmen in Frage stellen, werden Sie angegriffen werden. Und Sie können dabei irgendeine Farbe haben; wenn Ihre Botschaft auch nur ein wenig den Neoliberalismus in Frage stellt, werden Sie für alles Mögliche beschimpft. Ich habe einmal eine Rede von Berlusconi gelesen, in der Romano Prodi als Kommunist beschimpft wurde! Man hat schon alles erlebt. Das ist die Angst vor einem herbeiphantasierten Rot, die als politisches Argument benutzt wird, um kurzfristig Wahlen zu gewinnen. Aber das ist unvermeidlich! Wenn Sie nicht auf diese Weise angegriffen werden, bedeutet das vor allem, dass Sie nicht damit beschäftigt sind, das System infrage zu stellen. Alle AnführerInnen von Streiks und sozialen Bewegungen werden zu bestimmten Zeiten verunglimpft und karikiert.
Ich denke, dass sich in gewissen Kreisen eine echte Angst vor der PTB zu entwickeln beginnt, über die übliche Karikatur hinaus. Man sieht es, wenn man die Erklärungen der UnternehmerInnen liest. Die schreiben, dass es absolut notwendig sei, dass die PTB nicht regiert oder die politischen Entscheidungen beeinflusst. Seit einiger Zeit spürt man also, dass dieses Phänomen, das vor allem in politischen Auseinandersetzungen genutzt wird, zu einer echten Angst geworden ist. Denn die PTB steigt auf und könnte andere politische Parteien beeinflussen. Die UnternehmerInnen reagieren und fordern, die PTB als nicht salonfähige Partei einzustufen.
Wie kann man es vermeiden, ein Etikett verpasst zu bekommen? Man muss damit anfangen, seine eigenen Ideen zu verteidigen und zu erklären. Alle Kommunikationsmittel nutzen, um es zu tun und nicht allein von traditionellen Informationskanälen abhängig sein. Man darf der Karikatur auch keine Flanke öffnen. Ich denke, dass es in gewisser Weise eine tiefe politische Krise und eine antikommunistische Botschaft gibt, die vor 20 Jahren sehr viel leichter durchging als heute. Es gibt heute ein tiefes Misstrauen der einfachen Leute gegenüber der Botschaft der dominierenden Medien. Wenn wir also über den Aufbau einer Gegengesellschaft sprechen, schliesst das auch ein, ein Netzwerk von Informations- und Diskussionsmöglichkeiten zu haben. Und da bin ich optimistischer als in der Vergangenheit, wenn ich die Entwicklung der alternativen Medien und der neuen Technologien sehe.

Übersetzung: Georg Polikeit

Noch unterwegs: die MEGA

Georg Fülberth. Für das Studium der Lehren von Marx und Engels ist die MEGA unabdingbar. Die Marx-Engels-Gesamtausgabe war nach dem Untergang der DDR gefährdet, konnte gerettet werden und wird bis heute fortgesetzt.

Als Friedrich Engels 1895 starb, war der wissenschaftliche Nachlass von Karl Marx noch weitgehend unerschlossen. Gewiss: nach dessen Tod war 1885 der zweite und 1894 der dritte Band des «Kapital» erschienen. Aber das waren nur Teile aus der ungedruckten Textmasse. Engels wies Eduard Bernstein und Karl Kautsky in Marx‘ Handschrift ein, damit sie seine Herausgebertätigkeit fortsetzen konnten.

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