Kampf der AHV-Reform

Bei Redaktionsschluss war der Ausgang der «Rentenreform 2020» im Parlament noch offen. Das Verhalten der Gewerkschaftsführung war dabei höchst fragwürdig. Die PdA Schweiz hat hingegen den Beschluss bestätigt, falls nötig das Referendum gegen die Reform zu ergreifen.

Nein zum höheren Rentenalter und Nein zu Rentenkürzungen – weder jetzt und noch in Zukunft. So kann die Debatte im Zentralkomitee der Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) vom 25. Februar in Bern kurz, aber treffend zusammengefasst werden. In ihrer Stellungnahme hält die Partei fest, dass die Differenzen zwischen National- und Ständerat wie etwa die Rentenerhöhung von 70 Franken, im Grunde nicht von wesentlicher Bedeutung sind, denn: «In den essenziellen Punkten der Reform sind sich die beiden Räte einig.» Dabei handelt sich um die Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 Jahren sowie die Senkung des Umwandlungssatzes bei den Pensionskassen von 6,8 auf 6,0 Prozent, was einer Reduktion von 12 Prozent entspricht! So ist für die PdAS klar: «Der Kampf gegen die ‹Rentenreform 2020› bleibt eine Priorität der Partei.»

Unpopulär und unsozial

Die Strategie der bürgerlichen Parteien ist immer die gleiche und bestens bekannt: Die Diskussion wird auf Differenzen gelenkt, die zweitrangig sind, um die GegnerInnen der Reform zu spalten. Es scheint, dass diese Strategie bei der so wichtigen Fragen der AHV ihre Früchte trägt. Die SP hat bereits früh angekündigt, die Reform, so wie sie vom Ständerat vorgeschlagen wird, zu unterstützen. Ihr folgte dann offiziell auch der Zentralvorstand der Gewerkschaft Syndicom: «Die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre stellt unbestreitbar ein Rückschritt aus gewerkschaftlicher Sicht dar. Dennoch zeigt sich der Zentralvorstand von Syndicom bereit, diese Kröte zu schlucken, wenn das Parlament dem Ständeratsmodell entsprechend Ausgleichsmassnahmen und Verbesserungen vorsieht.» Peinlich! Auch die Gewerkschaft Unia tut alles daran, den Kongressbeschluss zu kippen, der die Unterstützung des Referendums vorsieht. Dass die Gewerkschaftsführung offensichtlich gegen den Willen eines aktiven Teils der Basis handelt, zeigt auch der offene Brief der Gewerkschaftsfrauen (siehe Seite 2).

Diese Tatsachen haben die PdAS dazu bewogen, zum internationalen Frauentag am 8. März den «Kolleginnen und Kollegen in führenden Positionen der Gewerkschaften» und den «Vertreterinnen und Vertreter der Linken im Parlament» einen offenen Brief zu schreiben. Darin hält die PdAS fest, dass «keiner der Kompromisse auf eine bessere Verteilung des Reichtums hoffen lässt». Sie fordert die AdressatInnen des Schreibens auf, sich auf die Seite der arbeitenden Frauen zu stellen: «Ihr wisst sehr gut, dass dieses AHV-Projekt im Grunde unpopulär und unsozial ist. Eine allfällige Umsetzung hat für jene Menschen, deren Interessen wir primär vertreten, mit Sicherheit mehr Nachteile als Vorteile.»

Bündnis in der Westschweiz

Auch in ihrer Schlussfolgerung lässt die PdAS keine Zweifel offen: «Der einzige Weg, Widerstand gegen den Abbau bei den Renten zu leisten, ist das Ergreifen des Referendums. Wir müssen diesen Kampf auf die Strassen und in die Betriebe tragen und zwar mit einem möglichst breiten Bündnis aller progressiven Kräfte.» So ein Bündnis ist in der Westschweiz startklar, falls es zum Referendum kommen wird. Es besteht aus Organisationen der feministischen Bewegungen, RentnerInnen, linken Parteien sowie lokale und regionale Gewerkschaftssektionen. Im Tessin hat der kantonale Gewerkschaftsbund die Unterstützung des Referendums angekündigt. In der Deutschschweiz hingegen herrscht das grosse Schweigen.

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Régulariser tous les sans-papiers?

Der Kanton Genf hat ein zweijähriges Pilotprojekt gestartet, um unter bestimmten Voraussetzungen Menschen ohne Papiere, Sans-Papiers, zu regularisieren. Tausenden Arbeitenden könnte damit geholfen werden. Es handelt sich aber «weder um eine Amnestie noch um eine kollektive Regularisierung».

Es befinden sich insgesamt 76 000 Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in der Schweiz, 13 000 leben in Genf. Es sind Sans-Papiers, Migrant-Innen, die keine Genehmigung haben, legal in der Schweiz zu leben. Sie arbeiten oftmals in Branchen mit tiefen Löhnen, dabei halten sie sich in einem schwarzen oder grauen Bereich der Legalität auf und haben keine vollständige Sozialversicherung. Im Jahr 2000 hat die Linke auf nationaler Ebene ihre kollektive Regularisierung gefordert, wie es bereits in verschiedenen europäischen Ländern geschehen ist – aber ohne Erfolg. Angesichts der schwierigen Situation im Kanton – etwa 1000 Sans-Papiers-Kinder gehen zur Schule, während ihre Eltern keinen anerkannten Aufenthaltsstatus haben –, hat Genf beschlossen, «aktiv zu werden». Der Codename des Projekts: Papyrus. Dieses zweijährige Pilotprojekt wurde vom Staatsrat und seinen Behörden lanciert gemeinsam mit dem Staatssekretariat für Migration (Sem) und Migrant-Innenorganisationen wie dem Centre de Contact Suisses-Immigrés und der Gewerkschaft SIT. Es soll unter bestimmten Voraussetzungen den Zugang zum Ausländerausweis B erleichtern.

Auch gegen Lohndumping

Wer kann einen Antrag stellen? Begünstigt sind Familien mit schulpflichtigen Kindern, die beweisen können, dass sie seit mindestens fünf Jahren in der Schweiz leben, sowie Paare ohne Kinder und Ledige, die seit 10 Jahren im Land sind. Zudem müssen diese Personen eine Arbeitsstelle haben oder finanziell unabhängig sein, keine Vorstrafen haben und auf gutem Niveau Französisch sprechen. «Die Hauptbetroffenen kommen mehrheitlich aus Lateinamerika, danach aus dem Balkan, den Philippinen und aus der Mongolei. Diese Menschen arbeiten in der Hauswirtschaft, auf dem Bau oder in Restaurants», erklärt Bernard Gut, Leiter des kantonalen Amts für Bevölkerung und Migration (OCPM). Diese demografische Gruppe wurde während einer Testphase eruiert, die 2016 im Geheimen stattfand und die im letzten Jahr bereits 590 Sans-Papiers eine Aufenthaltsgenehmigung ermöglicht hat. «Nur sechs Fälle sind aus Bern retourniert worden, weil ihre Dossiers nicht komplett waren», sagt Pierre Maudet, Sicherheitsdirektor von Genf. Es sei schwierig, heute schon zu wissen, wie vielen Menschen die Regularisierung zugute kommt. «1000, 3000, 6000 Personen, wir wissen es noch nicht», meint Maudet. Im gegenwärtigen Klima des Misstrauens gegenüber AusländerInnen und Spannungen auf dem Arbeitsmarkt hat der freisinnige Direktor alle Vorkehrungen getroffen, um die vollkommen Legalität des Prozesses abzusichern: Er geniesse die Unterstützung aller RegierungskollegInnen. Die Regularisierung würde auf keinen Fall abgewiesene AsylbewerberInnen oder «kriminelle» AusländerInnen betreffen. «Das Projekt Papyrus ist ein Handlungsrahmen im Dienste des Allgemeinwohls innerhalb einer kohärenten und gerechten kantonalen Migrationspolitik», versichert der Staatsrat Maudet. «Es handelt sich weder um eine Amnestie noch um eine kollektive Regularisierung. Wir nutzen den Handlungsspielraum, der das Ausländergesetz gestattet. Durch Arikel 30 sind Abweichungen von den üblichen Zulassungsvoraussetzungen möglich», erklärt Cornelia Lüthy, Vizedirektorin des Sem. Die Direktorin des Kantonalen Amts für Arbeitsinspektion und Arbeitsbeziehungen (OCIRT), Christina Stoll, sieht einen weiteren Vorteil dieses Projekts: «Damit kann in einem Sektor wie der Hauswirtschaft aufgeräumt werden, der besonders undurchsichtig ist, indem Lohndumping und Schwarzarbeit bekämpft wird», erklärt die ehemalige Gewerkschafterin. «Diese Situation verursacht eine schwierige, prekäre Lage für die ArbeiterInnen und unlauteren Wettbewerb unter den ArbeitgeberInnen.»

Informationskampagne

Personen, die ein Regularisierung erstreben, müssen dem OCIRT Informationen über ihre ArbeitgeberInnen überstellen, das in den Unternehmen dann Kontrollen durchführen wird – und bei Missständen Sanktionen aussprechen kann. Das Kantonale Amt für Migration sorgt in Zusammenarbeit mit dem Integrationszentrum seinerseits dafür, dass betroffene Personen Zugang zu Informationen haben. Ausserdem wird eine Arbeitsbörse für die Hauswirtschaft geschaffen, um private Arbeitgeber-Innen und KandidatInnen, aber auch Einheimische in Verbindung zu setzen. Die Regierung will diesen Frühling auch eine Informationskampagne lancieren, um ArbeitgeberInnen für ihre rechtlichen Pflichten zu sensibilisieren. Martine Brunschwig Graf, Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, und Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss von der SP sind erfreut über das Projekt. «Vor zehn Jahren haben wir mit diesem Vorhaben in Bern begonnen. Vonseiten des Justiz- und Polizeidepartements unter Blocher gab es keinerlei politischen Willen dazu», erzählt Brunschwig Graf, während Dreifuss meint: «Ich bin glücklich und bewegt von diesem Projekt. Damit geht eine lange Geschichte zu Ende, aber gleichzeitig startet es eine neue.»

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Faschos keine Bühne bieten!

Das Podium mit und die im Vorfeld geplante Zusatzveranstaltung über den AfDler Marc Jongen bot Stoff für eine Kontroverse – und wurde wegen des vielseitigen politischen Drucks vom Theaterhaus Gessnerallee Zürich abgesagt.

Am 10. März hätte im Theater eine öffentliche Diskussion darüber stattfinden sollen, ob das Podium mit Marc Jongen vom 17. März durchgeführt oder abgesagt werden soll. Der Titel des Podiums hätte «Die neue Avantgarde» gelautet, denn Jongen bezeichnet sich selbst als «avantgarde-konservativ». Der Parteiphilosoph der rechtsextremen deutschen Partei Alternative für Deutschland (AfD) spricht sich unter anderem gegen die Gleichstellung der Geschlechter aus, fordert eine Steigerung der Geburtenrate in Deutschland und wünscht sich die Rückkehr von «thymotischer Energie» – Zorn, Wut und Empörung – in die Politik – bis Asylheime brennen?! Seine Partei fordert auch eine «negative Migrationsbilanz», also mehr Aus- als Einwanderung, und die Ausbürgerung «krimineller Immigranten», auch wenn sie damit zu Staatenlosen werden. In ein «offenes, ausgewogenes Gespräch» bringen wollte man im Zürcher Theaterhaus Gessnerallee Marc Jongen mit VertreterInnen von SVP (Olivier «No Billag» Kessler) und von der wirtschaftsliberalen Operation Libero (Co-Präsidentin Laura Zimmermann und Kunstwissenschaftler Jörg Scheller). Scheller tritt gemäss Ankündigung gegen ein «Scheuklappendenken im konservativen wie im progressiven Lager» an.

«Progressive nobilitieren»

Das Theater zeigte sich bewusst, dass das Podium nicht ausgewogen besetzt sei, das Ganze sei auch ein Experiment, und das Publikum könne ja Fragen stellen und mitdiskutieren. Die Stimmen aus Antifa, postmigrantischen und feministischen Linken fehlten klar. «Der Ausgang des ‹Experiments› ist längst voraussehbar», zeigte sich die «Woz» dieser Dialog-Schwärmerei gegenüber skeptisch, «das nationalistische Spukgespenst tritt auf die Sprechbühne. Ein paar Progressive nobilitieren sich, indem sie ihm unerschrocken entgegentreten. Linke dürfen aus dem Saal die Grundsatzkritik jammern.» Ein von 500 Kulturschaffenden unterschriebener «Offener Brief» aus Berlin und die öffentliche Stellungnahme der Partei der Arbeit (PdA) der Schweiz beschäftigten sich intensiv mit dieser «thymotischen Energie» der AfD, hielten dazu fest: «Jede Störung einer Theaterveranstaltung, jeder Angriff auf eine linke Buchhandlung, auch jede brennende Geflüchtetenunterkunft sind angewandte und durch diesen Diskurs legitimierte ‹Zornpolitiken›» und listeten real passierte Angriffe von rechts auf.

«Strategisches Desinteresse»

Die BerlinerInnen riefen das Theaterhaus in Zürich und alle anderen Theater und TheatermacherInnen auf, der AfD keine Bühne zu bieten. Ein weiterer, viel unterschriebener «Offener Brief» aus der Schweiz rief dazu auf, auch das Gessnerallee-Team, der Doppel-Veranstaltung mit strategischem Desinteresse zu begegnen und zu boykottieren. Die PdA Schweiz forderte alle EinwohnerInnen der Stadt Zürich auf, diesen offenen Brief zu unterschreiben und das Theater mit Protestbriefen und E-Mails aufzufordern, die Veranstaltung abzusagen.

Die Absage der beiden Veranstaltungen kam prompt in einem Communiqué, das sich dem starken politischen Druck beugte, aber festhielt: «Die Gessnerallee Zürich ist weiterhin der Meinung, dass Veranstaltungen wie das Podium ‹Die neue Avantgarde› an einem Ort wie der Gessnerallee stattfinden können müssen» und «dass das weltweite Erstarken von Populismus und Autoritarismus sowie die Renaissance reaktionären Denkens Phänomene sind, die wir nicht ignorieren können, sondern mit denen wir uns konfrontieren müssen».

«Dialog statt Filter-Blase»

In der Diskussion innerhalb der PdA Zürich fragte sich István Fata, ob es klug gewesen war, sich der Forderung nach dem Auftrittsverbot von Marc Jongen anzuschliessen, und ob es nicht produktiver gewesen wäre, den AfD-Parteiphilosophen in einem Streitgespräch zu demaskieren. Und: «In der heutigen digitalen Daumen-Hoch-Daumen-Runter-Kommunikation ist das Theater (noch) ein Ort, wo eine analoge Kommunikation, eine persönliche Auseinandersetzung von Mensch zu Mensch – im Dialog – stattfinden kann. (…) Das Theater erfüllte in der griechischen Antike eine wichtige Funktion zur Entwicklung der Demokratie. Heute bevorzugen wir ‹Filter-Blasen› und dichten deren Wände hermetisch ab. Nimmt man den Marxismus ernst, der sich als Wissenschaft und Philosophie in einem versteht, also als revolutionäre Kritik, so wäre es gerade für die sonst marginalisierte PdAZ eine Chance gewesen, öffentlichkeitswirksam in radikal demokratischem Geist die akademisch-philosophisch parfümierte völkisch-reaktionäre Gesinnung des AfD-Ideologen Marc Jongen zu entlarven und die eigenen sozialistischen Positionen zur Geltung zu bringen.»

Zu viel Respektabilität

Anjuska Weil konterte, wo es unabdingbar sei, müssten wir Figuren wie Marc Jongen Paroli bieten und ihnen unsere Positionen entgegenstellen, aber: «Eine Bühne anzubieten, heisst per se Respektabilität zuzugestehen. (…) Rassistisches Gedankengut bis hin zum Faschismus gehört klar als ausserhalb des akzeptierten politischen Spektrum deklassiert und deklariert zu werden, so wie es die völkerrechtlichen Prinzipien festhalten. (…) Dies gilt selbstverständlich auch für Blocher und Co. Stellen wir uns vor, Blocher würde konsequent nicht zu Talk Shows eingeladen. Sein politischer Einfluss wäre enorm reduziert und dies nicht allein, weil er seine Positionen nicht breit vertreten könnte, sondern auch, weil er nicht als ‹respektable Person› wahrgenommen würde.»

Kurze Zeit nachdem die Podiumsdiskussion mit Jongen abgesagt worden war, gab auch der rechtsextreme SVP-Verein «Brennpunkt Schweiz» bekannt, am 18. März nicht auf dem Bundesplatz aufzumarschieren. Die SVPlerInnen wollten mit einer Kundgebung für die Durchsetzung der Masseneinwanderungsinitiative agitieren. Gegen den rechten Aufmarsch hat das antifaschistische Bündnis «Rechte Hetze Stoppen!» dezentrale Gegendemonstrationen angekündigt. Die Antifas freuen sich über ihren Erfolg, betonen aber, dass Widerstand gegen rechte Hetze und rassistische Ressentiments weitergeführt werden muss: «Antifa wird Handarbeit bleiben!»

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Der Kampf um die Zukunft ist auch ein Kampf um die Geschichte

Die Geschichte des 8. März ist politisch. Vor 100 Jahren lösten die Arbeiterinnen Petrograds die Februarrevolution aus und erkämpften sich kurz danach das Stimmrecht. Der 8. März wird in diesem Jahr 100 Jahre alt, wie die zwei Revolutionen in Russland. Die Februarrevolution – sie müsste nach unserem Kalender Märzrevolution heissen – wurde am 8. März durch die demonstrierenden Arbeiterinnen Petrograds, der damaligen Hauptstadt Russlands, ausgelöst. Die Zweite Internationale Konferenz kommunistischer Frauen in Moskau erhob deshalb 1921 diesen Tag zum internationalen Frauenkampftag, was bis heute so geblieben ist.

Das Vorhaben, ein gemeinsames Datum für einen internationalen Frauentag festzulegen, bestand seit 1910, als dies die beiden Sozialistinnen Clara Zetkin und Käte Duncker auf der Zweiten Internationalen Frauenkonferenz in Kopenhagen forderten, ohne dabei einem konkreten Datum den Vorzug zu geben. Zentral war Zetkin und Duncker die Stärkung der Frauenbewegung durch einen weltweiten und gleichzeitigen Kampftag. Die internationalen Verbindungen der Frauenorganisationen und der über die Grenzen hinausgehende gemeinsame Kampf könne so den Herrschenden am deutlichsten vor Augen geführt werden. Es zeigte sich in den folgenden Jahren, dass ein internationaler Kampftag ohne fixes Datum die Bewegung vor Probleme stellte. Dies nicht nur, weil es organisatorisch anspruchsvoller war, sondern auch, weil der historische Rückbezug auf vorausgegangene Kämpfe einem Bedürfnis entsprach. Die geschichtlichen Bezüge der Entscheidung, den internationalen Frauenkampftag auf den 8. März zu legen, sind nicht einheitlich. So führen viele das Datum auf die Streiks in den USA von 1908 zurück, als eingesperrte Textilarbeiterinnen in einer Fabrik verbrannten, andere auf Streiks im 19. Jahrhundert. In Frankreich ist auch der Bezug zur Pariser Commune beliebt und wieder andere beziehen sich auf den Gedenktag für die Gefallenen während der Deutschen Revolution von 1848. Die Aufzählung zeigt, wie wichtig die Begründung des Datums ist: Der Frauentag soll mit der politisch passenden Gründungsgeschichte behaftet werden. Der März eignet sich auch dafür, denn es fallen viele wichtige Frauenkämpfe auf diesen Monat. Damit wird versucht, politische Kontinuität herzustellen, insbesondere auch durch solche Kräfte, die von sich behaupten, keine «ritualisierten Kampftage» zu brauchen. Wir gehören nicht zu denen, die denken, dass es keine «ritualisierten Kampftage» braucht! Der 8. März ist für uns ein positiv besetzter Rückbezug auf die von Arbeiterinnen ausgelöste russische Revolution, die im Oktober zur ersten dauerhaften sozialistischen Machtübernahme führte.

8. März 1917 in Petrograd

Die Situation 1917 in Petrograd, mitten in den Wirren des ersten Weltkrieges, war katastrophal: Die jüngeren Männer waren gezwungen Dienst zu leisten – zurück blieben vor allem Frauen. Sie mussten nicht nur die eigene Existenz und jene ihrer Familien sichern, sondern ebenso die Produktion aufrechterhalten. Es ist nicht überraschend, dass sie es waren, die 1917 in den Streik traten und damit die Februarrevolution auslösten. Nur wird dieser Tatsache wenig Aufmerksamkeit und Wert beigemessen. Die Februarrevolution führte zwar zur Absetzung des Zaren, ansonsten änderte sich aber wenig, denn die frisch eingesetzte Provisorische Regierung hatte wenig Spielraum. Solange der Krieg tobte, war den erdrückenden wirtschaftlichen Missständen schwer beizukommen und der Zustand des riesigen Reichs war desolat. Was die Provisorische Regierung aber ohne Probleme hätte tun können, wäre die Einführung des Frauenstimmrechts gewesen – was sie aber unterliess. Im Vorschlag für die Prinzipien der zukünftigen Regierung wurde zwar die Beseitigung aller Ausschlüsse aufgrund von Klasse, Religion und Nationalität festgehalten, vergessen aber wurde die Beseitigung jeglicher Restriktionen in Bezug auf Frauen. Die russischen Frauen reagierten schnell darauf und legten nur eine Woche nach der Februarrevolution entschlossen der provisorischen Regierung eine Erklärung vor, in der eine sofortige Änderung des Programms gefordert wurde: «In den feierlichen Tagen der grossen Befreiung des Volkes (…) hat die russische Liga für die Gleichberechtigung der Frauen mit grossem Erstaunen im Programm der Provisorischen Regierung keine Erwähnung der Beseitigung des grossen Unrechts des alten Systems finden können, nämlich jenes der Unterdrückung einer ganzen Hälfte der russischen Bevölkerung – der russischen Frauen.» Diese Erklärung war von Anfang an auch ein Akt der Agitation und ging nicht nur an die Regierung, sondern wurde auf den Strassen, in Fabriken und übers Land verteilt. Die Aktivistinnen waren nicht bereit, zu Hause auf eine formelle Antwort zu warten, sondern organisierten sich.

Erkämpftes Stimmrecht

Nur zwei Wochen nach der Bitte um Richtigstellung des «Versehens» folgte die Demonstration am 19. März 1917, an der ca. 40 000 russische Frauen nicht mehr um das Stimmrecht baten, sondern dieses bedingungslos einforderten und auch erzwangen. Die Demonstration dauerte bis weit in die Nacht hinein. Als Rednerin und Repräsentantin war Vera Figner auserkoren worden. Sie war im bewaffneten Kampf des 19. Jahrhunderts berühmt geworden. Die Vorsitzende der Liga für die Gleichberechtigung der Frauen, Poliksena Shishkina-Iavein, verwies voller Stolz auf ihre Begleiterin: «Wir kamen hierher, um euch alle daran zu erinnern, dass Frauen loyale Genossinnen waren im gigantischen Kampf für die Freiheit des russischen Volkes, tapfer die Gefängnisse füllten, ins Exil gingen und die besten unter uns schauten furchtlos dem Tod in die Augen. Neben mir steht V.N. Figner, die ihr ganzes Leben lang für das gekämpft hat, was wir nun erreicht haben.» Figner und Shishkina-Iavein suchten sowohl den Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten als auch das Parlament auf, um eine sofortige Antwort zu verlangen. Schliesslich sicherten die Abgeordneten ihre Unterstützung zu. Allerdings sei es an der Provisorischen Regierung, dies zu verfügen, weshalb ein weiterer Gang zu Fürst Lwow, dem Ministerpräsidenten notwendig sei. Der erklärte dann lapidar «(…) dass die Provisorische Regierung den Begriff universell in dem Sinne verstehe, dass er die Ausdehnung des Stimmrechts auf Frauen beinhalte.» Damit hatten die russischen Frauen die grundsätzliche Forderung nach der Teilhabe am politischen Leben erkämpft. Diese Forderung löste die Selbstverständlichkeit männlicher Bestimmung über die Frau nicht auf, aber stellte diese in Frage. Und dies war ein erster notwendiger Teil der Befreiung der Frauen.

Die Zitate sind einem Erlebnisbericht von Olga Zakuta entnommen und in Aspasia, Vol. 6, 2012, S. 117-124 veröffentlicht.

 

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Resist Trump! – Im Land der Daten und Apps

San Francisco, die Stadt der Querdenkerinnen, LGBTQs (LesbianGayBiTransQueers) und Immigrantinnen aus aller Welt, hasst Trump aus vollem Herzen und auf der ganzen Linie. Doch es gibt auch lokale Akteure, die in der gegenwärtigen politischen Lage eine ambivalente Rolle spielen – und das in vieler Hinsicht.

Am «Women’s March» am Tag nach Trumps Amtsantritt beginnt die Demo bereits im Wohnquartier – so gross ist der Andrang bei den U-Bahn-Stationen und die Begeisterung über den vereinten Widerstand. Auch der Flughafen wird nach Inkrafttreten von Trumps Einreisesperre für Flüchtlinge und Menschen aus sieben überwiegend muslimischen Ländern mit grosser Ausdauer und von bunten Massen blockiert, und am «Day without an Immigrant» bleiben ganze Strassenzüge geschlossen, ein Geschäft ums andere vergittert, alle Restaurants zu. Die Botschaft ist klar: Ohne Immigrant*innen (und Frauen!) läuft hier gar nichts, und San Francisco ist entschlossen, dem Trumpschen Angriff an allen Fronten die Stirn zu bieten. Auch wenn die Stadt, die sich bereits in den 1980er Jahren zu einer «Sanctuary City» erklärte, also zu einem Zufluchtsort für Flüchtlinge und Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung, damit riskiert, dass ihr von der Regierung Trump der Geldhahn zugedreht wird – denn wer nicht kuscht, der wird gefeuert oder finanziell abgestraft (denn der Präsident hat immer zu 100 Prozent recht).

Neoliberales Laboratorium

Städte wie San Francisco, mit ihrer kosmopolitischen Atmosphäre, ihrem klaren Bekenntnis zu LGBTQ- und reproduktiven Rechten, ihren städtischen Identitätskarten, die auch papierlosen Immigrant*innen offenstehen, und ihren relativ gut ausgebauten Sozialleistungen, sind in Zeiten wie diesen wichtiger denn je. Dennoch erscheint es mir angebracht, die Rolle der San Francisco Bay Area auch kritisch zu beleuchten, den Rissen und Brüchen nachzuspüren, und einen Blick hinter die progressive Fassade zu werfen. Schliesslich befinden wir uns hier in einem regelrechten Laboratorium für neoliberale Rezepte aus der Küche von Uber, Airbnb, Twitter, Facebook und zahlreichen weiteren lokal ansässigen Technologieunternehmen, die den Alltag von Millionen von Nutzerinnen (und Nichtnutzern) auf der ganzen Welt prägen, mit oft verheerenden sozialen Auswirkungen, wie zahlreiche Kämpfe rund um prekäre Arbeitsbedingungen, Privatisierungen und Gentrifizierung belegen. Es sind nicht zuletzt gerade auch solche Kräfte – und die von ihnen und ihren politischen Verbündeten, notabene im Lager der Demokrat*innen, losgetretene Neoliberalisierungswelle – die Rechtspopulist*innen wie Trump in vielen Teilen des Landes Auftrieb verschafft haben. Die Proteste müssen sich daher nicht nur gegen den von aussen kommenden Angriff richten, sondern auch die Rolle von lokalen Akteur*innen in der Konstruktion dieser Kräfte genauestens unter die Lupe nehmen.

Neutrale Technologie?

Dass gerade Technologieunternehmen bei Diskursen rund um den Aufbau einer Muslim-Datenbank oder Rufen nach einem Ausbau des Polizeistaates eine wichtige Rolle zukommt, versteht sich eigentlich von selbst. So trugen zum Beispiel die von IBM angefertigten Lochkarten massgeblich zur reibungslosen Organisation des Holocaust bei. Mit dem Argument, sie habe doch nur «neutrale» Technologien bereitgestellt, deren Endzweck nicht in ihrer Verantwortung liege, lehnt die Firma eine Aufarbeitung der Geschichte bis heute ab. Stattdessen hat sie Trump in einem persönlichen Brief umgehend zur Wahl gratuliert und ihm die Dienste der Firma ans Herzen gelegt. Und IBM ist keine Ausnahme. Als der frischgewählte Präsident in seinen Trump Tower lud, musste er Spitzenmanager*innen von Facebook, Google, Apple & Co. nicht lange bitten. Denn trotz der linksliberalen Rhetorik und Rufen nach einem «Calexit», einer Abspaltung Kaliforniens vom Trumpschen Restland, verhalten sich die meisten Tech-Firmen wie ein Blatt im Wind. Schliesslich ist das Generieren und Auswerten von Daten nicht nur ihre Spezialität, sondern ihr eigentliches Business. Daher sind auch die halbherzigen Beteuerungen vieler Firmen, sich nun doch nicht an solchen Projekten beteiligen zu wollen, und ihre Kritik an Trumps Einreisesperre, die auch hochspezialisierte Mitarbeitende von Tech-Firmen betrifft, mit Vorsicht zu geniessen. Denn in vielen Fällen sind die nötigen Daten bereits vorhanden – unter anderem weil wir sie alle als User*innen generieren helfen. Die Frage ist daher mehr, wer in welcher Form und zu welchem Zweck Zugriff hat, oder sich Zugriff verschaffen kann.

Normalisierung rassistischer Praktiken

Das Sammeln von Daten über Muslim*innen ist in den USA zum Beispiel seit dem 11. September 2001 schon so weit normalisiert worden, dass der Schritt zu einem offiziellen Register gar nicht mehr so gross erscheint. Der Aufschrei ob solcher Pläne, so dringend nötig er auch ist, kommt damit in vieler Hinsicht vielleicht bereits zu spät, nämlich erst nachdem die ausgeklüngelten Systeme zur Überwachung und Ausschaffung breiter Bevölkerungsgruppen bereits fest verankert sind. «Man sagt so einfach ‹nie wieder› – und verkennt dabei gerne, was sich gerade anbahnt, oder wie weit die Normalisierung von rassistischen Praktiken fortgeschritten ist, gerade auch wenn sie bereits unter Obama etabliert wurden – und wir uns eben nicht früh genug dagegen zur Wehr setzen», meint Karyn, eine Aktivistin des Anti-Eviction Mapping Projects, deren beide Grossmütter von rassistisch motivierten Regierungsmassnahmen betroffen waren. Während ihre Grossmutter auf mütterlicher Seite als Immigrantin aus China während Monaten auf Angel Island interniert war – zusammen mit ihren amerikanischen Kindern –, wurde die Mutter ihres Vaters als Amerikanerin mit japanischen Wurzeln während des Zweiten Weltkriegs für mehrere Jahre in ein Internierungslager in Arkansas verfrachtet. Sie war gerade einmal dreizehn Jahre alt. «Natürlich wird es nie genau gleich aussehen, aber wir müssen solche Mechanismen erkennen lernen und uns kritisch damit auseinandersetzen – anstatt uns in eine Erinnerungspolitik zu flüchten, welche die Erfahrung anderer Gruppen und die Gefahr gegenwärtiger rassistischer Strömungen negiert», betont Karyn.

Es rumort in der Tech-Branche

Dass viele Tech-Firmen nun zu einer verhaltenen Kritik an der Politik des Weissen Hauses übergegangen sind, ist wohl vor allem opportunistischem Eigennutzen und Argumenten der «Wirtschaftlichkeit», wie wir sie auch aus der Schweiz gut kennen, geschuldet. Aber auch Proteste und Mobilisierungen haben dazu beigetragen, so zum Beispiel die Blockade des lokalen Uber-Headquarters am «Bleak Friday» oder die Kampagne «DeleteUber», die zum Rückzug von Uber-CEO Travis Kalanick aus Trumps Beratergremium führte. Und auch bei der eigenen Belegschaft rumort es. Ende Januar haben mehr als 2000 Google-Mitarbeitende ihre Arbeit für eine Protestkundgebung niedergelegt und auch anderorts bildet sich Widerstand gegen die Haltung der eigenen Firma. Inwieweit eine solche Kritik jedoch auch die Situation von weniger privilegierten Immigrant*innen und subtiler operierende Mechanismen berücksichtigt, bleibt dahingestellt. Eine kürzlich stattfindende Kundgebung von Tech-Angestellten liess aber zumindest aufhorchen. Die Protestveranstaltung in Downtown San Francisco vereinigte nämlich nicht nur Software-Ingenieur*innen und Programmierer*innen verschiedener Unternehmen, sondern auch die Gewerkschaften des Reinigungs- und Sicherheitspersonals sowie der Beschäftigten der firmeneigenen Cafeterien. In Anlehnung an die Praktiken von Universitäten und Gemeinden wurden «Sancturary Campuses» für Tech-Firmen gefordert, um papierlose Angestellte besser zu schützen, die entgegen der öffentlichen Wahrnehmung auch in der Tech-Branche eine tragende Rolle spielen. Es sind am Ende eben nicht die «Innovators», die Silicon Valley am Laufen halten, sondern Immigrant*innen aus Lateinamerika, die zu Hungerlöhnen und oft unter gesundheitsschädigenden Umständen arbeiten – und gerne unsichtbar gemacht werden.

Und wer putzt das Büro?

Ofelias Mutter, die seit mehr als 20 Jahren in Nachtarbeit die Grossraumbüros von Silicon Valley Firmen putzt und im Gegensatz zu ihrer in den USA geborenen Tochter nicht über eine Aufenthaltsbewilligung verfügt, ist eine von ihnen. Die Familie lebt in East Palo Alto, das von einer Autobahn von Palo Alto mit seiner prestigeträchtigen Stanford University und anderen reichen und mehrheitlich von Weissen bewohnten Gebieten des Silicon Valley abgeschnitten ist. Im Gegensatz zu San Francisco, das mehrere Millionen dringend benötigter Bundesgelder zu verlieren droht, weiss man in East Palo Alto, das man von der Bundesebene nichts zu erwarten hat. Aufgrund der hohen Mordrate galt der Ort lange Zeit als gefährlichste Stadt der USA. Ofelia und ihre Familie sehen das aber anders. In East Palo Alto, einer Immigrant*innen-Gemeinschaft sondergleichen, wo es nicht auffällt und niemanden kratzt, ob man nun über die richtigen Papiere verfügt oder nicht, fühlen sie sich sicher. Dass besserbezahlte Angestellte von Facebook & Co. neuerdings auch nach East Palo Alto ziehen und sich die durch den Tech-Boom ausgelöste Hypergentrifizierung nun auch noch die letzten bezahlbaren Regionen der Bay Area einverleiben, stellt für papierlose Immigrant*innen wie Ofelias Mutter auf mehreren Ebenen eine Bedrohung dar. Denn wer seine Wohnung verliert, muss zukünftig nicht nur unmenschlich lange Arbeitswege auf sich nehmen, sondern riskiert auch, lebenswichtige Netzwerke und den relativen Schutz von Sanctuary Cities wie San Francisco, Berkeley oder East Palo Alto zu verlieren. Wenn es Firmen wie Google und Apple um mehr als reine Lippenbekenntnisse ginge, müssten sie endlich auch für ihre Rolle in der katastrophalen Wohnungsnot und der Verdrängung und Marginalisierung ganzer Gemeinschaften Verantwortung übernehmen. Dies anstatt ständig weitere Steuerdeals auszuhandeln und mit ihren firmeneigenen Shuttle-Bussen und den von ihnen hergestellten Apps die Privatisierung des Service public ihrer Gaststädte und anderer gewerkschaftlich organisierten Sektoren wie dem Taxi- oder Hotelbereich voranzutreiben. Aber das ist schliesslich – genauso wie die Datengenerierung – ihr eigentliches Kerngeschäft.

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Ist der 8. März noch zeitgemäss? Das F*LK fragt – Frau* antwortet

Braucht es in Zeiten der Individualisierung, wo scheinbar auch für Frauen* alles/vieles möglich ist – zum Preis von gewissen Anpassungsleistungen – überhaupt noch die Frauen*demo am 8. März als Ausdruck des kollektiven Kampfes gegen das kapitalistische Patriarchat? Es ist uns bewusst, dass wir diese rhetorische Frage nur aus einer privilegierten Position stellen können. Es ist uns aber wichtig, dieser Frage nachzugehen, weil durch die Tendenz, Geschlecht nur noch als konstruierte soziale Kategorie zu sehen, reale Unterdrückungsverhältnisse verwischt werden. So haben wir eine Umfrage gestartet, um herauszufinden, wie Frauen* das in unserem näheren und weiteren Umfeld sehen. Ohne näher auf die Genderfrage einzugehen, fragten wir: «Braucht es den 8. März überhaupt noch und warum?»

Haben Frauen* alles erreicht?

«Bester Tag im Jahr. So viele Leute, die sich mobilisieren. Ich ziehe viel Energie daraus. Es ist unser Tag, es gibt eine emotionale Bindung. Und es ist eine radikale Demo.»
«Ich bin nicht so politisch und auch wenn ich nicht an die Demo gehe, treffe ich mich mit Frauen zum Austausch an diesem Tag. Es passiert an vielen Orten etwas – auch für diejenige, die kein Demo-Mensch ist, gibt es Möglichkeiten, den Tag zu begehen. Der Tag hat eine starke Ausstrahlung. Die Demo ist sehr wichtig und sie animiert auch zu anderen Aktivitäten.» «Natürlich braucht es den 8. März, da das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen* weiterhin existiert.» «Wo immer ich hinschaue, die Unterdrückung der Frau* ist immer noch real präsent: Kriege überall, sexualisierte Gewalt, häusliche Gewalt, Ausbeutung in der Familie, am Arbeitsplatz, Lohngefälle, Sexarbeit, Reproduktionsarbeit, Schönheitschirurgie. Die Liste könnte lange werden…» «Der 8. März ist für Frauen* auf der ganzen Welt ein wichtiges Datum. Und das soll auch weiterhin so bleiben. Es ist noch lange nicht erkämpft, was uns Frauen* zusteht.» «Ja, es braucht den Tag als Frauen – ohne * -kampftag. Als Zeichen gegen Aussen, dass eine Gleichberechtigung noch lange nicht erreicht ist und als Zeichen gegen Innen, zur Stärkung unserer eigenen Kräfte.»
«Da wir immer noch keine echte Gleichberechtigung, Lohngleichheit und Wahlmöglichkeiten haben, ist die jährliche Erinnerung daran und die kritische Auseinandersetzung damit schon noch aktuell. Ob diese Generation, oder auch jede andere, (ich selbst bin 38 Jahre alt) allerdings die bisherigen Wege, mit Demos und dergleichen, beschreiten sollte, das ist wirklich zu diskutieren. In welcher Form könnte diese Diskussion nachhaltig auch Veränderungen bringen? Was sind die Bedürfnisse über dies hinaus, was beschäftigt junge Frauen wirklich, wo sehen sie sich blockiert?»

Patriarchale Werte im Aufwind

«Ja, es braucht einen internationalen Frauentag, insbesondere in diesen Zeiten, wo das Patriarchat sich so zügellos gebärdet.» «Den 8. März braucht es mehr denn je, denn in Zeiten, in denen Feminismus im Hinblick auf eine angebliche Überlegenheit der eigenen Kultur thematisiert und als Vehikel benutzt wird, einem nationalistischen, rassistischen Chauvinismus Vorschub zu gewähren, muss daran erinnert werden, dass sich der feministische Kampf immer auch gegen die Werte des sogenannten «Abendlandes» richtet. Feminismus ist ein emanzipatorischer Kampf gegen den reaktionären Chauvinismus des «Abendlandes». Am 8. März tragen wir diesen auf die Strasse.»

Der 8. März hat Geschichte

«Es braucht den 8. März, damit wir an all die Frauen* erinnern, die vor uns gekämpft haben und uns den Weg vorbereitet haben.» «Ja, es braucht den 8. März noch! Er symbolisiert eine wichtige Tradition organisierten Frauenwiderstandes gegen patriarchale Herrschaft. Wichtig ist auch die Vielfalt der Manifestationen an kreativen, mutigen, kämpferischen, intelligenten, diskursiven etc. Formen, den 8. März zu begehen. Wir müssen aber aufpassen, dass unsere Slogans und Forderungen nicht bis zum Abwinken zu leeren Floskeln verkommen, sondern ihre Bedeutung behalten. Und vielleicht wären manchmal etwas positivere Slogans – für unsere Visionen statt gegen alles – motivierender.» «Die Tradition der 8. März Demo in Zürich braucht es unbedingt noch! Weil es eine der Gelegenheiten ist, bei denen Frauen* ohne Männer was Grosses auf die Beine stellen. Das macht mega Spass, gibt viel Energie und vor allem ist es ermächtigend. Und auch, weil mir jedes Mal an der Demo auffällt, wie viele Männer sich angegriffen fühlen und sehr aggressiv reagieren alleine durch die Tatsache, dass es Frauen* wagen, sich Raum zu nehmen und laut zu sein, ein Privileg, das sonst nur Männer geniessen. Also, leider noch nichts mit Gleichberechtigung der Geschlechter, darum weiterhin einen kämpferischen 8. März!» «Auch wenn der Diskurs über die Kategorie Geschlecht als wissenschaftspolitische Folge aus der Frauen*bewegung erwachsen ist, heisst das nicht, dass nun Geschlechter in dieser dualistischen Ordnung nur als relationale Kategorie und nicht auch als situative, politische Subjekte begriffen werden müssen. Auch wenn die duale Geschlechterordnung nicht reproduziert wird oder reproduziert sein soll, bleibt sie doch als ein zu kritisierendes und analysierendes Problem bestehen. Darum, auf die Strasse! Lassen wir uns nicht auseinanderdividieren und treffen uns an den restlichen 364 Tagen, um für eine heterogene, freie Welt zu kämpfen!» «Unser Feminismus muss internationalistisch und antikapitalistisch sein, das heisst auch, alle Unterdrückungsverhältnisse müssen benannt und bekämpft werden. Sonst entstehen immer wieder neue Formen der Macht.»

Das F*LK meint dazu: Solange gehen wir auf die Strasse!

Solange die Gewaltkultur gegen Frauen* und Mädchen* nicht gestoppt und aufgearbeitet wird; solange die patriarchale Justiz Frauen*, die sich gegen ihre Peiniger wehren, massiv härter bestraft, als Männer, die Frauen* angreifen; solange durch die Abwertung des «Anderen» und «Fremden» Ausgrenzung und Gewalt gegen Gruppen der Gesellschaft befördert und legitimiert werden, solange gehen wir auf die Strasse. Solange jedermann sich herausnimmt, Frauen* zu bewerten, solange Frauen* sich den auf sie gerichteten patriarchalen Blick zu eigen machen und sich körperlich und seelisch verformen, um dem perfekten Bild zu entsprechen; solange Mann seine Frau, seine Kinder, seine Mutter oder Schwester als sein Eigentum betrachtet, über das er verfügen kann, wie er will; solange Frau* die Mehrheit der gesellschaftlichen Arbeit erledigt und ihr gleichzeitig suggeriert wird, sie sei nichts wert; solange die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen* überall immer wieder ignoriert, geleugnet und unter den Tisch gewischt werden, solange gehen wir auf die Strasse. Nicht zuletzt gehen wir am 8. März auf die Strasse, um an all jene Frauen* zu erinnern, die seit Jahrtausenden einzeln und kollektiv für eine bessere Gesellschaft gekämpft haben und für ihre und unsere Befreiung ein- und weggesperrt, gefoltert, geschlagen, vergewaltigt und ermordet worden sind. Am 8. März wollen wir uns nicht nur auf eine lange Geschichte von Frauen*kämpfen beziehen, sondern unsere Solidarität zu den heute weltweit kämpfenden Frauen* ausdrücken und uns mit ihnen vernetzen. So kämpft die kurdische Frauen*bewegung mit einer eigenen Frauen*armee gegen den IS, gegen Ehrenmorde und gegen Gewalt an Frauen*. Sie baut auf die eigene Stärke sowohl im militärischen wie auch bei der Konstituierung einer neuen Gesellschaftsordnung. Für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen*, für das Recht auf Abtreibung und gegen Frauen*morde gehen weltweit immer mehr Frauen* auf die Strasse, zum Beispiel in Argentinien, Chile, Bolivien und Mexiko. Frauen* der Gulabi Gang in Nordindien setzen sich für Frauen*rechte und gegen soziale Ungerechtigkeiten ein. Sie tragen rosa Saris und rosa Schlagstöcke aus Bambus. «Wenn unsere Selbstachtung mit Füssen getreten wird, setzen wir sie ein». In der Gruppe sind mehrere Tausend Frauen* organisiert!

Feministisch agieren

Die Schwarze Feministin Audre Lorde schrieb 1984: «Unser zukünftiges Überleben gründet sich auf unsere Fähigkeit, gleichberechtigt miteinander umzugehen. Als Frauen müssen wir verinnerlichte Verhaltensmuster der Unterdrückung in uns selbst mit der Wurzel herausreissen, wenn wir über die oberflächlichsten Aspekte sozialer Veränderung hinausgehen wollen. Jetzt müssen wir Unterschiede zwischen Frauen als Unterschiede zwischen Gleichberechtigten sehen, weder als Zeichen der Überlegenheit noch der Unterlegenheit, und Wege ausfindig machen, um unsere jeweiligen Unterschiede dazu zu nutzen, unsere Visionen und gemeinsamen Kämpfe zu bereichern. […] Die alten Verhaltensmuster, egal wie geschickt sie umfrisiert werden, um nach Fortschritt auszusehen, verurteilen uns zu nur kosmetisch veränderten Wiederholungen derselben alten Wortwechsel, derselben alten Schuldgefühle, desselben Hasses, derselben Vorwürfe, Klagen, Verdächtigungen.» Zehn Jahren später kritisierte die «Rote Zora», eine militante feministische Gruppe in Deutschland: «Mit dem Rückzug auf uns und der vorrangigen Beschäftigung, unser Bewusstsein zu sensibilisieren, befinden wir uns voll im herrschenden gesellschaftlichen Trend zur weiteren Individualisierung und Auflösung gemeinsamer sozialer Erfahrungen.»
Trotz den weltweit brutalen Realitäten lassen wir uns nicht erdrücken, sondern wehren uns, indem wir für eine Welt kämpfen, die nicht nach Geld, Leistung und Profit strebt und die sich nicht über patriarchale Gewalt und entlang herrschaftssichernden Grenzen organisiert. Wir wollen eine Gesellschaft, die von allen Menschen – unabhängig ihrer Herkunft und ihres Geschlechts – mitbestimmt wird. Deshalb braucht es eine starke feministische Selbstorganisierung, in der Frauen* eigenständige Denk- und Handlungssysteme aufbauen und ihre eigenen Vorstellungen von Befreiung entwickeln. Und nochmals Audre Lorde zum Schluss: «Ich bin nicht frei solange noch eine einzige Frau unfrei ist, auch wenn sie ganz andere Ketten trägt als ich.»

Frauen*LesbenKasama, feministischer Treffpunkt für Heteras, Lesben und andere Weiblichkeiten, Militärstrasse 87a, 8004 Zürich – jeden 1. und 3. Dienstag ab 19 Uhr, frauenlesben@kasama.ch

 

Aus dem vorwärts vom 03. März 2017 Unterstütze uns mit einem Abo.