Der «Frankenschock» und die Unia

Die Reaktionen der Unternehmen auf den «Frankenschock» treffen die ArbeiterInnen in der Schweiz hart. Was machen die Gewerkschaften dagegen? Und was kann man von ihnen erwarten?

Nach all den Weissagungen in den vergangenen Monaten kann man momentan in Echtzeit beobachten, wie sich die Schweizer Nationalökonomie nach dem «Frankenschock» entwickelt. Die Aufträge für die Schweizer Industrie sind um fünf Prozent eingebrochen. Insgesamt ist die Wirtschaftsleistung im ersten Quartal 2015 um 0,2 Prozent geschrumpft. Klingt eigentlich nicht weiter dramatisch. Aber das Kapital ist auf Wachstum angewiesen, nur so kann es existieren. Machen Firmen längerfristig keinen Profit, den sie wieder reinvestieren, müssen sie ihre Tore schliessen. Zwar ist die aktuelle Konjunkturdelle nicht der Untergang der helvetischen Nationalökonomie, aber falls es zu einer längeren Phase der Stagnation kommen sollte, bedeutet das zwangsläufig Firmenkonkurse, Entlassungen und Steuerausfälle. Da mag es erleichtern, dass die Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) vor einigen Tagen verkündete, dass die Schweizer Wirtschaft 2015 um 0,7 wachsen soll. Bloss sollte man mit solchen Prognosen vorsichtig sein. Sie sollen meist nicht als selbsterfüllende Prophezeiungen den Teufel an die Wand malen und zudem bleibt der reelle Akkumulationsprozess des Kapitals für die WirtschaftswahrsagerInnen letztlich ein Buch mit sieben Siegeln.

Reaktionen von Kapital und Politik

Die Reaktion von Unternehmen und bürgerlichen Parteien auf die Aufkündigung der Euro-Untergrenze durch die Schweizer Nationalbank (SNB) und die folgenden Prognosen ist heftig. Vor dem Hintergrund des aktuellen Bedrohungsszenarios haben viele Unternehmen Massnahmen in die Wege geleitet, die sie wohl oftmals ohnehin im Hinterkopf hatten. Verlängerung der Arbeitszeit, Kürzung der Löhne, Entlassungen und Kurzarbeit sind in einer zunehmenden Anzahl von Schweizer Betrieben Realität. Der bürgerliche Block veröffentlichte kurz nach dem SNB-Entscheid einen Massnahmenkatalog, der Margaret Thatcher vor Neid hätte erblassen lassen: Weitere Freihandelsabkommen, Einsparungen im öffentlichen Bereich, weniger Kontrolle der UnternehmerInnen und die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sind nur einige der Vorschläge die CVP, FDP und SVP gemeinsam umsetzen wollen. All die Massnahmen zielen darauf ab, die Folgen der Krise, die durch den Euro-Unterkurs der SNB aufgeschoben wurden, auf die Proletarisierten abzuwälzen.

Die Gewerkschaften hätten in diesem Moment zumindest die Aufgabe, die fundamentalsten immanenten Interessen der ArbeiterInnen zu verteidigen. Und was macht die Unia? Sie berät den nationalen Standort unter keynesianischen Prämissen: Eine Kürzung der Löhne würde die Nachfrage untergraben und damit der Schweizer Wirtschaft schaden. Das ist ökonomischer Dogmatismus in seiner Reinform. Die Nachfrageproblematik ist eine reale Seite des aktuellen weltweiten Krisenproblems, aber nach dem SNB-Entscheid geht es in der Schweiz gerade um etwas anderes. Die Profitraten der Unternehmen drohen zu sinken. Und das ist nun mal das Kerngeschäft der neoliberalen GegenspielerInnen der GewerkschaftsökonomInnen. Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen sollen dieses Problem auf die ArbeiterInnen abwälzen. Das ist, was momentan gemacht wird und was die Vorstösse des bürgerlichen Blocks politisch flankieren sollen.

Die SNB im Klassenkampf?

Neben der Wirtschaftsberatung protestierte die Unia auch öffentlichkeitswirksam vor der SNB und forderte eine Rückkehr zum Euro-Mindestkurs. Man hat einen Schuldigen gefunden und fragt sich in der work-Zeitung: «Wer stoppt Jordan?» Der SNB-Chef mache Wirtschaftspolitik mit harter Hand, kann man dort lesen. Nun gut, faktisch hat die Finanzpolitik der SNB die Krisenauswirkungen gerade einigermassen von der Schweiz ferngehalten. Vor einigen Monaten ist die Nationalbank zum Schluss gekommen, dass dies angesichts der Massnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) zu kostspielig wird. Zur Erinnerung: Die EZB vermehrt gerade die Geldmenge innerhalb von eineinhalb Jahren um 1140 Milliarden Euro. Was wir jetzt beobachten können, ist der Einbruch der ökonomischen Realität der Eurozone ins vermeintlich sichere Heidiland. Bloss, um das entgegen linker Legendenbildung mal festzuhalten: Der SNB-Entscheid ist kein Klassenkampf von oben. Einerseits sind die Exportanteile, welche die Schweizer Ökonomie verliert, der Gewinn anderer Standorte. Was die Proletarisierten hier an Arbeitsplätzen verlieren, das wird anderswo geschaffen werden müssen. Die internationale ArbeiterInnenklasse verliert durch den SNB-Entscheid gar nichts, die Schweizer ArbeiterInnen werden aber natürlich von den Reaktionen von Unternehmen und Politik getroffen. Diese Reaktionen von Kapital und Politik sind der Klassenkampf von oben und nicht der Entscheid der SNB mit einer bestimmten Finanzpolitik aufzuhören.

Im betrieblichen Vollzug der Reaktionen von oben spielt die Unia keine besonders glorreiche Rolle. Mit der Stadler Rail von SVP-Politiker Peter Spuhler schloss die Gewerkschaft kurz nach dem SNB-Entscheid einen «Krisendeal». Die Abmachung sieht vor, dass Spuhler die Arbeitszeit auf 45 Stunden erhöhen darf, dafür aber niemanden auf die Strasse stellt. Wo gestreikt wurde wie im Tessin, da zog die Unia mit, drängte aber naturgemäss auf Sistierung der Massnahmen mittels Verhandlungen. Dies sieht man etwa bei der Firma Meyrin, bei welcher auf die Ankündigung von hohen Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen gestreikt wurde. Die Unia erhandelte eine Verlängerung der Arbeitszeit um zwei Stunden pro Woche. Im Gegenzug darf das Unternehmen niemanden aus wirtschaftlichen Gründen entlassen. Ein halbgarer Deal vor dem Hintergrund eines Streiks möchte man meinen.

Die gewerkschaftliche Logik

Wie genau sich die Gewerkschaften verhalten, ist natürlich nicht nur dem politischen Kurs der Führung geschuldet und auch nicht ausschliesslich auf ihre sozialpartnerschaftliche Rolle zurückzuführen, wenn auch diese Rolle die Logik selbst bestimmt. Ob etwa gekämpft wird, hängt auch damit zusammen, ob die ArbeiterInnen Gegenwehr zeigen und die Unia so auch kämpferische «Ressourcen» vorfindet, um bessere Bedingungen für die Verschlechterungen, die in der Logik des nationalen Standorts liegen, auszuhandeln. Der Unia einfach die Schuld an der Abwieglerei zuzuschieben wäre angesichts der realen Schwäche der ArbeiterInnen in der Schweiz zu kurz gegriffen. Eine Kritik an den Gewerkschaften muss daher auch die Verhandlungsmasse – kämpferische ArbeiterInnen – in die Überlegungen einbeziehen. Und da sieht es in der Schweiz angesichts von Konformität, nationaler Identifikation, staatlicher Integration sowie Abstiegsängsten momentan recht düster aus. Dennoch kann man die Gewerkschaften selbstverständlich nicht aus der Kritik entlassen: Ihr Agieren als keynesianische Beraterinnen des nationalen Standorts, ihre falsche Fokussierung auf die Geldpolitik der SNB und die Selbstdarstellung als vernünftige und zahme Verhandlungspartnerinnen – was auch bedeutet, nach den Verhandlungen für disziplinierte ArbeiterInnen zu sorgen – sind nicht geeignet, um diesen Zustand auch nur aufzuweichen. Allerdings wäre es auch illusorisch, von der Unia etwas anderes zu erwarten.

 

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Gegen Frauen und die AHV

05_FrauendemoIn der Westschweiz regt sich bereits heftiger Widerstand gegen das Reformprojekt von SP-Bundesrat Alain Berset. Geplant sind unsoziale Massnahmen, die vor allem auf Kosten der Frauen und der AHV gehen werden.

Am 30. Mai sind mehrere Hundert Personen durch die Strassen von Lausanne gezogen, um gegen die geplante Reform der «Altersvorsorge 2020», die nach dem SP-Bundesrat und ihrem Urheber auch «Bersets Reformpaket» genannt wird, zu protestieren. Auf den Transparenten der Demonstrierenden konnten Sprüche gelesen werden wie «Ein Jahr länger arbeiten? Nein danke!», «Stoppt die Sparübung auf dem Rücken der Frauen» oder «Zu meinem Fünfzigsten: Rente und Sozialismus!». Worum geht es bei dieser Reform, die den Widerstand der Gewerkschaften und ArbeiterInnen hervorgerufen hat?

Bald Rente mit 67?

Laut Bundesrat ist Bersets Reformpaket das einzige Mittel, um «die gegenwärtigen Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen». Ein hübsches Beispiel für die leeren Floskeln, die typisch sind für unsere Regierung und das tatsächliche Wesen der Reform verschleiern: Beabsichtigt wird eine Reihe unsozialer Massnahmen, welche vor allem auf dem Rücken der Frauen und generell der ArbeiterInnenklasse ausgetragen werden dürften.

Ein erster Punkt des Projekts ist die Erhöhung des Rentenalters für Frauen auf 65 Jahre und die Abschaffung der Witwenrente. Eine Sparmassnahme im Umfang von 1,5 Milliarden Franken, die der sozialdemokratische Vorsteher des Innendepartements Alain Berset mit der Forderung nach «Gleichheit» rechtfertigt. Dieses Argument ist blanker Hohn, wenn man bedenkt, dass der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern noch immer erheblich und es Ersteren überlassen ist, den Grossteil der Hausarbeit zu verrichten. Ausserdem kann man sich sicher sein, dass das Vorhaben bloss eine erste Etappe ist auf dem Weg zu einer allgemeinen Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre, was die ArbeitgeberInnen bereits seit Beginn der Konsultation über das neue Gesetz gefordert haben.

Balance in Gefahr

Der zweite Teil der Reform sollte einem bekannt vorkommen: Es geht um eine Verringerung der beruflichen Vorsorge (BVG) durch die Senkung des Mindestumwandlungssatzes. Obwohl dieser Umwandlungssatz gegenwärtig noch im Gesetz festgeschrieben ist, möchte der Bundesrat, dass er innerhalb von vier Jahren von 6,8 Prozent auf 6 Prozent reduziert wird. Die reinste Provokation, weil bereits 2010 eine ähnliche Vorlage – die mit einer Senkung auf 6,4 Prozent aber weit weniger drastisch war – mit 73 Prozent der Stimmen vom Volk abgelehnt worden ist! Wenn es darum geht, die Interessen der Versicherungen zu befriedigen, scheint es, als ob unsere Regierung keinerlei Skrupel hat, sich über den Willen der Bevölkerung hinwegzusetzen.

Falls noch irgendwelche letzte Zweifel bestehen über den tendenziösen Inhalt von Bersets Reformpaket, sollte ein Blick auf den dritten Teil der Reform genügen, um auch diese aus dem Weg zu räumen: Geplant ist eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, bekannterweise eine besonders unsoziale Steuer, die gleichermassen hohe wie tiefe Einkommen trifft. Zweck dabei ist, die Löcher in der Finanzierung der AHV zu stopfen. Parallel dazu wird als letztes Vorhaben im Paket der Beitrag des Bundes an der AHV stark gekürzt, von 19,5 Prozent auf 10 Prozent. Momentan verhält es sich so, dass die Einnahmen aus den Beitragszahlungen der Versicherten des jeweiligen Jahres die Renten im nächsten Jahr finanzieren, während der Bund die restlichen 19,5 Prozent der Kosten übernimmt. Die geplante Kürzung wird unweigerlich die Balance dieses Systems gefährden. Ein System, das sich seit Jahrzehnten bewährt hat.

Alternative Finanzierung

Die Reform der Altersvorsorge geht somit auf Kosten der Frauen und der AHV selber. Diese vorbildliche Sozialversicherung muss das Fundament bleiben, welches durch ein System der Umverteilung und der kollektiven Risikoverteilung eine Solidarität zwischen den Arbeiterinnen und Arbeitern und zwischen den Generationen herstellt. Es stimmt zwar, dass die AHV-Beiträge derzeit erhöht werden müssen, das sollte aber auf eine andere Art durchgeführt werden, indem beispielsweise Einkommensquellen besteuert werden, die bisher nicht zur Unterstützung der AHV beitragen mussten: Kapitalerträge, Aktien, Finanzoptionen und andere. Eine Alternative wäre eine Erhöhung der paritätischen Beiträge, die es der AHV im Grunde genommen erlauben müssten, die grundlegendsten Bedürfnisse der RentnerInnen zu decken. So wäre es in der Verfassung vorgeschrieben, ist aber in der Realität mit den aktuellen Renten nicht der Fall. Statt ein Projekt vorzuschlagen, dass endlich die Einhaltung unserer Verfassung durchsetzt, zieht es der Bundesrat vor, vor den ChefInnen und den Privatversicherungen in die Knie zu gehen. Eine Entscheidung, bei der durchaus das Risiko besteht, aus der AHV ein Anhängsel der zweiten Säule zu machen.

AHV stärken!

Es widerspricht klar den Interessen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, die AHV zugunsten der zweiten Säule zu schwächen, auch weil Letztere stark von den Finanzmärkten abhängig ist. Diese Logik macht den Kern der Reform der Altersvorsorge 2020 aus und das Vorhaben muss deshalb in seiner Gesamtheit abgelehnt werden, auch wenn es einige positive Aspekte enthält, zum Beispiel die bessere Aufsicht und höhere Transparenz in der BVG. Andererseits muss jeder Vorschlag, der in die Richtung einer Stärkung der AHV geht, wie die AHVplus-Initiative der Gewerkschaften, unterstützt werden. Indessen muss, im vollständigen Gegensatz zum Projekt von Berset, versucht werden, für die Abschaffung der zweiten Säule zu sorgen. Genau das schlägt die Partei der Arbeit vor mit einer schrittweisen Eingliederung der zweiten Säule in die erste, unter Beibehaltung aller sozialen Erungenschaften. Das ist das einzige Mittel, um der Bevölkerung eine Rente zu ermöglichen, die ihren Bedürfnissen gerecht wird.

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Brennende Stimmzettel und Militärstiefel

mexiko-iguala-protestAm 7. Juni fanden in Mexiko die Wahlen statt. Die militante Lehrergewerkschaft rief zum Boykott auf und führte Aktionen durch. Der Staat mobilisierte 40000 Sicherheitskräfte. Es kam zu Auseinandersetzungen, 125 AktivistInnen wurden verhaftet und nach einer Polizeiaktion wurde ein Aktivist getötet. Die repräsentative Demokratie steckt in einer abgrundtiefen Krise. Aber auch die Proteste müssen hinterfragt werden.

«Wirklich, ich musste mich diesmal ausserordentlich überwinden, um wählen zu gehen», stöhnte der Karikaturist Rius nach dem Wahlgang vom 7. Juni. Der 80-jährige Linke mit bürgerlichem Namen Eduardo del Rio, seit einem halben Jahrhundert für seine bissige Kritik mit dem Zeichenstift bekannt und gefürchtet, erklärte seine Qual der Wahl so: «Ich habe eine Peso-Münze in die Luft geworfen, wenn sie auf den Adler fallen sollte, wähle ich Morena, fällt sie auf die Seite mit der Sonne, dann wähl ich niemanden. Das zeigt dir, wie meine politische Haltung ist und was viele Leute wie ich in Sachen Parteipolitik denken.»

Die Wahlen zur Erneuerung des mexikanischen Parlaments sowie einiger Gouverneure und Lokalparlamente waren geprägt von einer Frustration, welche sich vielseitig Luft machte. Kritische Stimmen riefen im Vorfeld zum Protestwählen per ungültiger Stimmabgabe auf. Knapp fünf Prozent folgten diesem Aufruf, markierten Wahlzettel mit Sprüchen wie «Alles Ratten», «Wir wollen die 43 Studenten lebend zurück» oder «Ich wähle und dann lässt ihr mich verschwinden». Der neuen linken Partei Morena (Bewegung der nationalen Erneuerung) unter dem zweimaligen Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador kam jeder Protest gegen die Wahlen ungelegen, denn sie wollen beweisen, dass mit dieser vierten linken Partei endlich eine reale Alternative am Start war.

Besetzte Büros und brennende Unterlagen

Bis hierhin eine typische Krise der repräsentativen Demokratie, wie wir sie weltweit an vielen Orten erleben. Doch im Süden des Aztekenlandes nahmen die oppositionellen Lehrersektionen den Aufruf der Angehörigen der verschwundenen Studenten der pädagogischen Hochschule von Ayotzinapa auf: Die Wahlen müssen aktiv boykottiert werden, damit das Regime keine politische Normalität simulieren kann, die nach den Strukturanpassungsmassnahmen und den Staatsverbrechen wie in Guerrero ein Hohn ist. Ab dem 1. Juni traten die LehrerInnen in Michoacán, Guerrero, Oaxaca und Chiapas in einen unbefristeten Streik gegen die neoliberale Bildungsreform, welche die Regierung von Enrique Peña Nieto 2013 mit Unterstützung der sozialdemokratischen PRD durchs Parlament brachte. Die Reform hat zum Ziel, Arbeitsrechte und gewerkschaftliche Organisierung einzuschränken.

Am selben Tag begannen massive Proteste gegen die Wahlen. Die Institute der Wahlbehörde INE und Büros aller Parteien wurden besetzt, Unterlagen verbrannt. Zwei Tage vor den Wahlen sandte Peña Nieto insgesamt 40 000 Einsatzkräfte in die Unruheregionen, um in einer Feuerwehraktion doch noch Wahlen garantieren zu können. In Kleinstädten in Guerrero und insbesondere Oaxaca kam es zu gefährlichen Auseinandersetzungen zwischen AktivistInnen und Bundespolizei, Gendarmerie, Militär und Marine. Am Wahltag wurden allein in Oaxaca 440 Wahlurnen entweder verbrannt oder die Wahllokale gar nicht eingerichtet, was neun Prozent der Lokale im Bundesstaat entsprach. In Guerrero verletzten regierungstreue Gangs oppositionelle LehrerInnen und SchülerInnen von Ayotzinapa. In einer Polizeiaktion in der Nacht nach den Wahlen töteten Polizisten in Tixtla einen jungen Lehrer.

Landesweit wurden am Wahltag über 120 AktivistInnen festgenommen, 25 aus Oaxaca sind noch in Haft und wurden wegen Besitz von Molotow-Coctails in Hochsicherheitsgefängnisse in die Bundesstaaten Nayarit und Veracruz verlegt, wo sie nun zusammen mit gefährlichen Mafia-Mitgliedern einsitzen. Die NGOs von Oaxaca, normalerweise auf kritischer Distanz zur militanten Lehrergewerkschaft, haben sich vor und während der Wahlen zusammengerauft und forderten eine Demilitarisierung des Wahlprozesses, denn in ihrer Sicht beweist «der militärische Umgang mit einer sozialen Problematik eine gravierenden Rückschritt in Richtung autoritäres Regime», wie über 50 Organisationen aus Oaxaca in ihrem internationalen Aufruf warnen.

Boykott kritisch hinterfragen

In den Tagen nach der Wahl und deren teilweisen Boykott ist der Katzenjammer allerorten gross. Die Resultate vieler Wahlbezirke werden von den Verliererparteien angefochten, da unter den erschwerten Bedingungen die auch sonst schon notorischen Wahlbetrügereien zunahmen. Das Wahlgericht hat in über tausend Fällen Untersuchungen aufgenommen, doch selten ist die Beweislage genügend stichhaltig oder der politische Wille vorhanden, um Wahlen in einzelnen Orten zu wiederholen. Im Parlament bestätigte sich die Regierungspartei PRI als stärkste Kraft, auch wenn sie, wie die rechte PAN und die sozialdemokratische PRD, Stimmen an die kleinen Parteien verlor. Wahlgewinnerin ist die neue linke Morena, aber mit deren acht Prozent Wählergunst, abgeworben bei der PRD, ändert sich am Kräfteverhältnis im Parlament kaum etwas. Von denjenigen, die wählen gingen, legte nur jeder Vierte seine Stimme für linke KandidatInnen ein.

Auch die Proteste müssen bezüglich ihrer Wirkung kritisch hinterfragt werden. Die Bewegung um Ayotzinapa und die Lehrergewerkschaft hat mit dem Wahlboykott in ihren konkreten Forderungen nichts bewegen können. Die Parteien aus dem linken Spektrum machen den Wahlboykott für das gute Abschneiden der Regierungskräfte verantwortlich. Und die dröhnenden Armeehelikopter im Tiefflug sowie das martialische Aufmarschieren der Sicherheitskräfte kehrten die offizielle Absicht, das Recht auf freie Wahlen zu schützen, in ihr Gegenteil; sie schürten Angst und Unsicherheit unter der Bevölkerung, die frühere Manöver dieser Art und die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen allzu gut in Erinnerung hat. Kommt hinzu, dass die schwerbewaffneten Verbände auch Tage nach den Wahlen immer noch in den Städten Oaxacas patrouillieren. Der Wahlboykott war ein idealer Vorwand, um die Militärpräsenz in den widerständigen Regionen des Südens zu konsolidieren.

Eine historische Wahl?

Dennoch, die meisten KommentatorInnen sind sich einig, dass die Wahlen ein Warnsignal waren. Der beliebte Analyst Julio Hernández López, dessen spitze Feder in der linken Tageszeitung Jornada täglich die mexikanische Politik seziert, bringt dies auf den Punkt: «Die andauernden und intensiven Proteste korrelieren exakt mit der Verweigerungshaltung der Politiker und Behörden, die existierenden sozialen Probleme anzugehen.» Regierungsapparat und die Formen der politischen Repräsentation «funktionieren nur noch für die eigenen Machtzirkel», so Hernández López in seinem Artikel mit dem Titel «Andauernde soziale Verstörung».

Doch nicht alle Stimmen äusserten sich über die soziale Unruhe besorgt. Für Präsident Peña Nieto waren die Wahlen ein «historisches Ereignis», die Probleme am Wahltag «vereinzelte Vorfälle». Er sieht die Demokratie in Mexiko gestärkt. Tags darauf reiste Peña nach Brüssel, unter anderem um über neue Freihandelsverträge zu verhandeln. Auch Bundesrat Burkhalter will Neuverhandlungen mit Mexiko, dem Land, das die meisten Freihandelsverträge weltweit hat und gleichzeitig unter gravierender sozialer Ungleichheit leidet. Der Beobachter Luis Hernández Navarro konterte die präsidiale Schönwetter-Rede: «Es stimmt, es war eine historische Wahl», aber genau im Gegenteil, die repräsentative Demokratie Mexikos stecke «in einer abgrundtiefen Krise». Die Münze des Karikaturisten Rius fiel übrigens auf die Adler-Seite. Damit kriegte die neue linke Partei Morena eine erste und vielleicht letzte Chance.

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Flüchtlinge als billige Arbeitskräfte

landwirtschaftFür die schweizerische Gemüseproduktion sollen künftig Flüchtlinge herangezogen werden. Der Staat verspricht sich davon einen Beitrag zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative sowie eine Entlastung des Sozialsystems. Die Agrarwirtschaft wiederum zementiert ihre Tiefstlohnpolitik.

Diese Ankündigung traf zeitlich perfekt ein. Während die Nachrichtenflut von sinkenden Flüchtlingsbooten einfach nicht enden wollte und sogar ein Jean Ziegler den Krieg «gegen Schlepperboote» forderte, zeigte sich die Schweiz plötzlich von der menschlichen Seite. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) und der Schweizerische Bauernverband (SBV) wollen künftig vorläufig Aufgenommene und anerkannte Flüchtlinge stärker in die Agrarwirtschaft einbeziehen. Hierfür wird ein Pilotversuch gestartet, bei dem in zehn Betrieben Geflüchtete eingestellt werden. Hört, hört! Arbeit für die vom Elend geplagten Flüchtlinge! «Wie herzlich», freute sich der linke Bürger. «Wie sinnvoll», staunte auch die migrationsbesorgte Patriotin. Unisono stimmte man ins «Gut, gibt‘s die Schweizer Bauern» ein. In einer perfekt inszenierten Pressekonferenz im Vorzeigebetrieb der Familie Eschbach aus Füllinsdorf (BL) wurde die neue Partnerschaft aus Staat und Agrarkapital in fast philanthropischer Weise die erwarteten Vorteile der gewünschten Stossrichtung betont.

«Win-win-Situation» dank der SVP

Weil die Masseneinwanderungsinitiative der SVP umgesetzt werden soll, will das SEM das «Potenzial an inländischen Arbeitskräften» stärker ausnutzen. Und zu diesem «Potenzial» gehören auch die in die Schweiz Geflüchteten. Bereits heute arbeiten in der Landwirtschaft bis zu 35?000 ausländische ArbeiterInnen. Sie kommen meist aus Polen und Portugal, aber auch aus Rumänien oder Ungarn. Auf Äckern und in Gewächshäusern schuften sie von frühmorgens bis spätabends zu einem Lohn, für den keinE SchweizerIn auch nur einen Finger krümmen würde. Doch neu gelten diese ArbeiterInnen als unerwünschte «Masseneinwanderer», die draussen zu bleiben haben. Die Perspektive des Staates ist klar: Künftig sollen die BilligarbeiterInnen aus den EU-Ländern durch Geflüchtete ersetzt werden, welche arbeitslos bloss die Sozialwerke belasten würden. Doch «im Idealfall», sagen SEM und SBV, soll es eine «Win-win-Situation» geben. Schliesslich ist man um die anerkannten Flüchtlinge besorgt. Und tatsächlich finden diese trotz Arbeitserlaubnis oft erst nach Jahren eine Anstellung. Im Gemüsebetrieb hingegen seien nicht nur eine sinnvolle Beschäftigung und ein eigener Verdienst gewährleistet, auch könnten die ArbeiterInnen dort die Landessprache lernen und sich besser in die Gesellschaft integrieren. Deutsch lernen also. Fragt sich nur, mit wem. Deutschsprachige ArbeiterInnen gibt es in der Branche praktisch keine. Und in welche Gesellschaft sich die Geflüchteten integrieren sollen, wenn diese von Tag zu Tag nur Äcker zu sehen bekommen und Freizeit quasi nicht existiert, bleibt ebenso ein Rätsel.

Abhängigkeit und Ausbeutung zum Schleuderpreis

Sicher ist hingegen, dass die materiellen Rahmenbedingungen für die Flüchtlinge noch miserabler sind, als jene der Saisonniers aus der EU: Der Anfangslohn beträgt gerade mal 2300 Franken, erst nach einem Monat gibt es den üblichen Minimallohn von 3200 Franken, also knapp 14 Franken pro Stunde. Die Wochenarbeitszeit ist in 26 kantonal unterschiedlichen Normalarbeitsverträgen (NAV) festgehalten und variiert von 45 (in Genf) bis 66 Stunden (in Glarus). Dass an sechs Tagen gearbeitet werden kann, ist in den NAVs überall vorgesehen. Arbeitsschichten von 14 Stunden sind weit verbreitet. Möglich macht diese extreme Ausdehnung des Arbeitstages eine Raffinesse der BäuerInnenlobby. Das «Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel» beschränkt die wöchentliche Höchstarbeitszeit zwar auf fünfzig Stunden, doch die Landwirtschaft ist diesem Arbeitsgesetz schlicht nicht unterstellt.

Die Ausbeutung mit extremen Arbeitszeiten und Tiefstlöhnen genügt den UnternehmerInnen aber noch nicht. Die NAVs gestatten ihnen auch, einen Viertel bis die Hälfte des ersten Lohnes zurückzubehalten. Erst bei «ordentlicher Beendigung» des Arbeitsverhältnisses soll dieser Teil ausbezahlt werden. Die Abhängigkeit der ArbeiterInnen von den Patrons zeigt sich auch bei Kost und Logis. Hierfür darf bis zu 990 Franken vom Lohn abgezogen werden. Und keinesfalls soll es einer Arbeiterin in den Sinn kommen, den Bettel einfach so hinzuschmeissen. «Ungerechtfertigtes Nichtantreten oder Verlassen der Arbeitsstelle» kann mit einem Viertel des Monatslohnes und weiteren Wiedergutmachungen bestraft werden. Nicht zuletzt werden LandarbeiterInnen auch deshalb gnadenlos ausgenutzt, weil sie Verträge in deutscher Sprache nicht verstehen, ihre Rechte nicht kennen oder weil sie schwarz arbeiten.

Schwarze ArbeiterInnen, weisse KapitalistInnen

Bei solchen Ausbeutungszuständen steht normalerweise bald eine Gewerkschaft auf der Matte. Nicht so in der Landwirtschaft! Die grossen Gewerkschaften glänzen durch totale Abwesenheit. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) wünscht sich sogar, dass die Flüchtlinge zu den Schweizer Arbeitsbedingungen entlöhnt und angestellt werden, sprich, dass die Ausbeutung wie bisher weitergeht. Lediglich einige Westschweizer Basisgewerkschaften organisieren sich allmählich mit den Saisonniers. Auch erstaunt, dass niemand das historisch stark belastete Bild von schwarzen LandarbeiterInnen und weissen GutsbesitzerInnen aufgreift. Die offensichtlich multiple Ungleichheit zwischen ChefIn und ArbeiterIn sowie die Ausbeutung von diskriminierten, schwarzen Flüchtlingen versuchen die Verantwortlichen mit einer antirassistischen Rhetorik zu verschleiern. Doch auf der Homepage des «Schweizer Bauers» zeigt sich in rassistischen Kommentaren, was die Geflüchteten von ihren baldigen ArbeitgeberInnen erwarten können. Und auch die SVP machte unlängst in Bezug auf Asylunterkünfte klar, dass Asylsuchende «keine Ansprüche» zu stellen hätten. Anspruchslos sollen sie nun auch unser Schweizer Biogemüse ernten. Allerdings liegt in dieser extremen und ethnisierten Ausbeutungsform der Konflikt schon zur Eskalation bereit. Das zeigen etwa die kämpfenden afrikanischen LandarbeiterInnen in Andalusien oder der Aufstand im italienischen Rosarno von 2010. Aber auch die Attacken von Chefs und Faschisten auf migrantische ErdbeerpflückerInnen in Griechenland gehören zu diesem Konfliktpotenzial.

 

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Israelisch-schweizerischer Drohnendeal

droAktivistInnen blockierten am 26. Mai den Haupteingang des Thuner Waffenplatzes und verwehrten der Sicherheitspolitischen Kommission (SiK) den Zugang, um gegen den Kauf sechs bewaffnungsfähiger Militärdrohnen aus Israel zu protestieren. Als Kompensationsgeschäft sichert die Schweiz Aufträge im Wert von 213 Millionen Franken. Als die Mitglieder der SiKs beider Räte am Dienstagmorgen zur geplanten «Vorführung des Materials des Rüstungsprogramms 15» erschienen, bot sich ihnen ein ungewohntes Bild: Der Eingang war mit blutverschmierten «Leichen» übersät. AktivistInnen forderten auf Transparenten die BundesparlamentarierInnen auf, den Drohnendeal abzulehnen und keine Beihilfe zu Kriegsverbrechen zu leisten.

Es gibt starke Anzeichen dafür, dass mit dieser Militärdrohne namens «Hermes 900» in der Vergangenheit Kriegsverbrechen begangen wurden. Laut dem Kinderhilfswerk «Children Defense International» (CDI) fielen bei der israelischen Militäroffensive «Protective Edge» letzten Sommer in Gaza-Stadt 164 Kinder Drohnenangriffen zum Opfer. CDI und andere Menschenrechtsorganisationen werfen den israelischen Streitkräften vor, mit den dokumentierten Angriffen auf Zivilpersonen gegen humanitäres Völkerrecht verstossen zu haben. Die israelische Regierung hätte die Möglichkeit, diese Anschuldigungen aus dem Weg zu räumen, indem sie die Videoaufzeichnungen der Kampfdrohnen für Untersuchungen zugänglich macht. Dies verweigert sie konsequent.

Militärisch-industrielle Kooperation

Spätestens seit der Ernennung der neuen ultrarechten Regierung Israels muss auch die Schweiz erkennen, dass zukünftige Kriegsverbrechen nicht ausgeschlossen werden können. So rief beispielsweise die frisch ernannte israelische Justizministerin, Ayalet Shaked, letztes Jahr öffentlich dazu auf, unbewaffnete Zivilpersonen zu töten und zivile Infrastruktur der PalästinenserInnen zu zerstören, um so den propagierten Krieg gegen das palästinensische Volk ein für alle Mal zu gewinnen. Das stellt klar einen Aufruf zu Kriegsverbrechen dar. Einer Regierung mit einem solchen Rechtsverständnis muss jegliches Vertrauen entzogen werden.

Die Schweiz plant aber eine militärisch-industrielle Kooperation mit einem Staat, welcher im dringenden Verdacht steht, Kriegsverbrechen mit einem Waffensystem begangen zu haben, welches nun von Schweizer Unternehmen technologisch verfeinert werden soll. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Technologie bei zukünftigen Kriegsverbrechen zum Einsatz kommt. Dies ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern erfüllt unter den gegebenen Umständen den Tatbestand der eventualvorsätzlichen Beihilfe zu Kriegsverbrechen.

Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates (SiK-N) entschloss sich im Anschluss an die Blockade mit 16 zu 7 Stimmen für den Drohnendeal. Der Präsident der SiK-N, Thomas Hurter (SVP), kommentierte dies lapidar: Menschenrechtsverletzungen seien «störend», aber ein Boykott würde nichts bewirken. Zudem sei es kein politischer Entscheid gewesen. Wahrscheinlich hat er damit Recht. Der Entscheid der SiK, welche als verlängerter Arm der Rüstungslobby fungiert, war ökonomischer Natur. Denn mit dem Kauf sichert sich die Schweizer Industrie Aufträge in Millionenhöhe. Angesichts solcher Profitaussichten kann man bei Nebensächlichkeiten wie der Beihilfe zu Kriegsverbrechen schon mal ein Auge zudrücken.

 

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Klassenkämpferische BaumeisterInnen

baustelleDer Baumeisterverband hat es abermals abgelehnt, die Verhandlungen über den Landesmantelvertrag (LMV) im Baugewerbe wieder aufzunehmen. Er macht aus der Gewerkschaft Unia den Sündenbock, betreibt in Wirklichkeit aber einen gnadenlosen Klassenkampf von oben gegen die BauarbeiterInnen.

Die Arbeit auf dem Bau ist hart. Verletzungen sind häufig, Todesfälle nicht unbekannt: 2013 starben 21 Bauarbeiter auf Baustellen in der Schweiz. Und unter solchen miserablen Bedingungen haben die ArbeiterInnen noch für mickrige Dumpinglöhne zu schuften. Die BaumeisterInnen greifen tief in die Trickkiste, um ihre Untergebenen auszubeuten: Ein Beispiel ist die Baufirma Feldmann in Zürch-Schwamendingen. Das Unternehmen unterhält eine kleine Stammbelegschaft, bei der es die Regeln des LMV einhält. Gleichzeitig lagert es alle möglichen Arbeiten an Subunternehmen aus. Bei diesen findet dann das Lohndumping statt. Fällt der «Bschiss» auf, wird das Subunternehmen einfach ausgewechselt und die Firma kann sich in Unschuld baden.

Die Bauunternehmen streichen derweil märchenhafte Gewinne ein. Die Konjunktur der letzten Jahre war glänzend. «Die Gewinnmargen haben in den letzten Jahren enorm zugenommen – im Hochbau verdoppelt, im Tiefbau gar verdreifacht», berichtet Nico Lutz, Leiter im Sektor Bau der Unia. Die ArbeiterInnen haben davon nichts gesehen. Lohnforderungen von 150 Franken stiessen bei den Bauherren und -damen auf taube Ohren.

«Mehr als nur grosszügig»

Nun fürchtet der Baumeisterverband, dass die Wachstumsphase der Bauwirtschaft ihren Höhepunkt überschritten hat. Für 2015 erwartet er «einen leichten Rückgang der Bautätigkeit». Grund genug, um im Klassenkampf von oben verstärkt zum Angriff zu blasen. Auf der Delegiertenversammlung im Mai hat sich der Baumeisterverband erneut einer Wiederaufnahme der Verhandlungen über den LMV verweigert. Die Schuld für die Blockade wird der Unia zugeschoben: Mit ihrer «Fachstelle Risikoanalyse», mit der die Gewerkschaft Subunternehmen auf deren Arbeitsbedingungen überprüft, würde sie die «Sozialpartnerschaft unterlaufen». «Selbstlos» erklärten sich die BaumeisterInnen aber bereit, den laufenden LMV über 2015 hinaus zu verlängern – jedoch nur in unveränderter Form. Laut Gian-Luca Lardi, Zentralpräsident des Baumeisterverbands, sei es «ja wirklich mehr als nur grosszügig, einen so arbeitnehmerfreundlichen Gesamtarbeitsvertrag wie den LMV unverändert zu verlängern». Der Status quo wäre grosszügig genug für die BauarbeiterInnen, meint also der Baumeisterverband. Verbesserungen wie ein Schlechtwetterschutz sollen weg vom Verhandlungstisch. Im Gespräch mit der Unia-Zeitung work macht Nico Lutz klar: «Die Fachstelle Risikoanalyse der Zürcher Unia nehmen die Patrons nur als Vorwand, um Verhandlungen zu blockieren. Wir haben den Arbeitgebern nämlich mehrmals angeboten, zusammen ein Branchenregister aufzubauen, das Auskunft gibt, ob sich eine Firma bisher an den Vertrag gehalten hat. Sie haben bisher alles abgelehnt.» Die BauarbeiterInnen seien laut Lutz bereit, für ihre Forderungen zu kämpfen. Aller Voraussicht nach werden sie kämpfen müssen.

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