Neonazis gegen Kapitalismus?

May Day In Germany: RostockDie heutigen Nazis lassen häufig antikapitalistische und antiimperialistische Töne von sich hören. In Deutschland hat sich der sogenannte Strasserismus in den 90er Jahren durchsetzen können, sodass auch die NPD für eine «antikapitalistische Wirtschaftsordnung» kämpft.

«Sie haben völlig recht», entgegnete vor einigen Jahren ein schulbekannter Neonazi in einer Schule im Berlin-Prenzlauer Berg seiner Lehrerin. «Hitler war ein grosser Verbrecher. Er hat den Nationalsozialismus an das Kapital verraten. Unsere Leit- und Vorbilder sind nicht Hitler, Himmler, Goebbels und andere Grössen des ‹Dritten Reiches›, sondern Gregor und Otto Strasser.» Die Lehrerin war zunächst in zweierlei Hinsicht sprachlos. Zum einen hatte sie während ihrer Ausbildung in der DDR nie etwas über die Faschisten Gregor Strasser (1892–1934) und Otto Strasser (1897–1974) gehört und zum anderen verblüffte sie die völlig unerwartete Ideologie heutiger neonazistischer Gruppierungen in der BRD. Diese Berliner Lehrerin stellt keine Ausnahme dar. Bis in die Gegenwart hinein ist den meisten Menschen in den alten und neuen Bundesländern die geistige und programmatische Metamorphose beachtlicher Teile des bundesdeutschen Neonazismus kaum bekannt. Nach dem Scheitern aller Pläne von Otto Strasser, Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre sein in der Weimarer Republik und danach entwickeltes faschistisches Politikkonzept nahtlos auf die BRD zu übertragen, war der Strasserismus bis auf die heute noch in Nordrhein-Westfalen agierende Unabhängige Arbeiterpartei (UAP) weitgehend in der politischen Versenkung verschwunden. Ein zaghafter Wandel machte sich erst wieder in den 70er Jahren bemerkbar, als die Neue Rechte in der Bundesrepublik analog ihrer französischen Gesinnungsfreunde nach neuen Ideen suchten, um die politische wie geistige Isolierung der Rechtsextremen zu überwinden. Während man in der französischen Nouvelle Droite insbesondere Vorstellungen von Antonio Gramcsi von der Eroberung der kulturellen Hegemonie vor einer politischen Machtübernahme aufgriff, suchte der sogenannte nationalrevolutionäre Flügel der westdeutschen Neuen Rechten Anknüpfungspunkte beim angeblich linken Flügel der NSDAP, der besonders von den Gebrüdern Strasser repräsentiert wurde. Diese rechtsextremen sogenannten Nationalrevolutionäre, die sich vom Hitlerismus und dem NS-System, aber nicht von der Idee eines «nationalen Sozialismus» distanzierten, gruppierten sich in den 80er Jahren vor allem um die Zeitschriften «wir selbst» (Koblenz), «Europa Vorn» (Köln) und um die «Deutsch-Europäische Studiengesellschaft» (Hamburg).

«Ethnopluralismus» statt Rassismus

Von den IdeologInnen dieser Kräfte, die sich als «progressive NationalistInnen» verstanden, wurden eine Reihe neuer Begriffe entwickelt, um den Rechtsextremismus besser in der Öffentlichkeit anbringen zu können. So sprach man anstatt von Rassismus jetzt vom Ethnopluralismus, statt Biologismus nur noch von einem Biohumanismus. Nach wie vor blieb aber auch bei ihnen die Überwindung der demokratischen Republik und die Errichtung eines neuen Deutschen Reiches das Ziel, in dem die Grundwerte der Aufklärung, vor allem das Prinzip der Gleichheit aller Menschen, überwunden und durch eine ethnisch homogene und hierarchische Volksgemeinschaft ersetzt werden sollte. Die Rezeption der Strasser-Vorstellungen in der BRD vollzog sich über verschiedene Phasen, die nicht widerspruchslos abliefen. Bis in die 80er Jahre hinein waren die neuen Strasser-AnhängerInnen in intellektuellen Zirkeln relativ isoliert und politisch wirkungslos. Das änderte sich in dem Masse, wie Michael Kühnen, von den 70er bis Anfang der 90er Jahre wichtigster Repräsentant des bundesrepublikanischen Neonazismus, sich über Positionen der faschistischen Sturmabteilung (SA) dem Strasser-Konzept näherte. Bis zu Beginn der 90er Jahre dominierten dann Strasser-Ideen in fast allen nennenswerten neonazistischen Gruppen der BRD. Zu nennen sind hier insbesondere die inzwischen verbotenen Gruppierungen Nationalistische Front (NF) einschliesslich ihrer diversen Nachfolgegruppen, die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) und die Deutsche Alternative (DA). Dass die Strasser-Ideen gerade in Ostdeutschland einen beachtlichen Widerhall fanden und finden, hängt mit einer diffusen Nachwirkung des «Sozialismus« in der DDR, der Ambivalenz zu den angeblich antikapitalistischen Vorstellungen der Gebrüder Strasser und der neonazistischen Parole zusammen, dass der Sozialismus an sich eine gute Idee wäre, nur müsse dieser nicht internationalistisch, sondern nationalistisch ausgerichtet sein.

Durchsetzung des Strasserismus

Die Durchsetzung des Strasserismus in den meisten neonazistischen Vereinigungen vollzog sich nicht konfliktfrei. So setzte 1992 der damalige DA-Bundesvorsitzende Frank Hübner den verantwortlichen Redakteur der DA-Zeitung «Brandenburger Beobachter», Frank Mencke, ohne viel Federlesens ab, weil dieser in einem Artikel Hitler als Wahrer der Menschenrechte und den SS-Obergruppenführer und Organisator des Holocaust, Reinhard Heidrich, als Vorbild für die jungen Neonazis hingestellt hatte. In der Begründung seines Handelns erklärte Hübner, dass solche Auffassungen nicht den Positionen der DA entsprächen. Ein anderes typisches Beispiel waren die Auseinandersetzungen über diese Problematik in der neonazistischen NPD und ihrer Jugendorganisation, den Jungen Nationaldemokraten (JN), die im Sommer 1996 zur Absetzung fast der gesamten Redaktion der JN-Zeitschrift «Der Aktivist – Nationalistisches Infoblatt» führte. Erst in dem Umfang, wie sich der 1995 neugewählte NPD-Vorsitzende Udo Voigt gegen den Flügel des abgesetzten vorherigen Vorsitzenden Günter Deckert durchsetzte, veränderte sich auch der politische und ideologische Kurs der NPD in Richtung auf die Strasser-Linie. Der von Deckert favorisierte geschichtliche Revisionismus (vor allem die «Auschwitz-Lüge») wurde zugunsten der sozialen Gegenwartsprobleme in den Hintergrund gerückt. Wie im Strasserismus wird jetzt auch in der NPD eine hemmungslose nationalistische und rassistische Revolutions- und Sozialismus-Phraseologie betrieben, die durch den Übertritt von Funktionären der Ende 1997 aufgelösten Gruppierung Die Nationalen (NAT) noch verstärkt wurde. Bereits im Mai 1996 fand der 26. ordentliche Bundeskongress der JN in Leipzig unter der heute bundesweit vorgetragenen Losung «Gegen System und Kapital – unser Kampf ist national!» statt. In Distanzierung von bisherigen Praktiken beteiligte sich auch die NPD im August 1997 nicht mehr offiziell an den Gedenkveranstaltungen für den Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess. Dazu argumentierte die Spitze der NPD, so etwas sei nicht mehr zeitgemäss und würde von der Masse der Bevölkerung nicht verstanden.

Testfeld Osten

Hauptexperimentierfeld für die Durchsetzung des neuen NPD-Kurses ist der Freistaat Sachsen. Hier haben NDP und JN seit dem Ende der 90er Jahre ihre politische Isolierung durchbrochen und zählen jetzt ca. 1000 hauptsächlich junge Mitglieder. 2004 und 2009 konnten Abgeordnete der NPD in den Sächsischen Landtag einziehen, 2014 scheiterte sie knapp an der 5-Prozent-Hürde. Ähnlich wie in Sachsen agieren NPD und JN auch in Mecklenburg-Vorpommern. Bei den neonazistischen Mitgliedern und AnhängerInnen der NPD steht nach wie vor die rassistische Hetze gegen AusländerInnen und eine massive soziale Demagogie im Zusammenhang mit der Massenarbeitslosigkeit und der Lehrstellenmisere im Vordergrund der Tagesagitation. Das verdeutlicht aber noch nicht genügend die veränderte, angeblich antiimperialistische Politik der NPD. Das wird deutlicher, sieht man sich die weitergehenden Positionen der NPD an. So heisst es im aktualisierten Parteiprogramm: «Die NPD lehnt die in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung systematisch betriebene Internationalisierung der Volkswirtschaften entschieden ab. (…) Auf der ganzen Welt erteilt der Aufbruch der Völker dem multikulturellen Einheitswahn eine Absage. Grundlage einer europäischen Neuordnung muss das Bekenntnis zum nationalstaatlichen Ordnungsprinzip und zum Prinzip der Volksabstammung sein. (…) Wir fordern die Revision der nach dem Krieg abgeschlossenen Grenzanerkennungsverträge.» Noch deutlicher wird die der NPD nahestehende Zeitung, in der «der Kampf für eine nationale, antikapitalistische Wirtschaftsordnung», eine «Basisdemokratie gegen Bonzenhierarchie» gefordert wird. Das alles wird in den neuen Bundesländern mit einer rechtsextremen Vereinnahmung der DDR und einer Anbiederung an einstige DDR-Funktionsträger verbunden. In einem in Sachsen verbreiteten NPD-Flugblatt wird dazu erklärt: «Wir Mitglieder der NPD stehen zur ganzen deutschen Geschichte und auch zur Geschichte der DDR. Die Mehrheit unserer Mitglieder ist (…) der Meinung, dass die DDR das bessere Deutschland war. Wir wollen deshalb die positiven Erfahrungen der DDR in unsere Politik einbringen.» Aber selbst das reicht der NPD noch nicht. Um an ehemalige Kader der SED heranzukommen, wird in dem zitierten Flugblatt entgegen der geschichtlichen Wahrheit weiter verkündet, dass die NPD «in der Tradition der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung» steht. Ideologisch ist man in diesem Zusammenhang bereit, den bisherigen extremen Antikommunismus zugunsten eines ausgeprägteren Antiamerikanismus zurückzunehmen. All das soll dem Ziel der Schaffung einer «Volksfront von rechts» – oder wie es in dem Sachsenflugblatt formuliert wird – der Installierung einer «neuen Nationalen Front des demokratischen Deutschlands» dienen.

Genauere Analysen

Diese geschicktere pseudopatriotische und systemkritische Demagogie wesentlicher Teile des heutigen bundesrepublikanischen Neonazismus findet nicht nur unter Teilen der Jugend, sondern auch bei älteren BürgerInnen in den neuen Bundesländern Widerhall. So bekannte der Sprecher der Bündnisgrünen in Mecklenburg-Vorpommern, Klaus-Dieter Feige: «Ich bin immer wieder erschüttert, wenn ich mich mit Rechtsextremen unterhalte, in wie vielen Punkten wir in der Kritik am existierenden Kapitalismus übereinstimmen.» Zum Schluss sei hier noch darauf verwiesen, dass sich in Gestalt der Europäischen Synergien, einer Absonderung von den europäischen Neuen Rechten, eine neue internationale Struktur herausbildet, die sich verstärkt mit der Thematik des sogenannten Nationalkommunismus befasst und deren Verbindungen bis zu hohen russischen Militärs in Moskau reichen. Ohne jetzt hier noch weitere Thesen und Praktiken der Strasser-ErbInnen zu erörtern, verdeutlicht schon diese kurze Abhandlung, dass viele linke Analysen des heutigen Rechtsextremismus noch zu sehr in überholten Vorstellungen befangen sind und auch viele Argumente des heutigen Antifaschismus nicht die neuen Entwicklungen reflektieren und daher kaum Wirkung zeigen. Anliegen aller Linken sollte es sein, in ihren Analysen genauer die rechtsextremistische Gegenwart zu untersuchen, um daraus effektivere Argumente und politische Aktivitäten zur Zurückdrängung des zur Zeit immer noch wachsenden Einflusses des Rechtsextremismus in allen seinen Varianten zu entwickeln.

Aus der Printausgabe vom 24. April 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

¡NO PASARAN!

nopasaran-494x329Vor 70 Jahren endete der Horror des Zweiten Weltkriegs. Die diesjährige Beilag der 1.Mai-Ausgabe des vorwärts steht im Zeichen von diesem historischen Ereignis. Es ist ein Beitrag, so bescheiden er auch sein mag, um niemals zu vergessen! Gleichzeitig soll die Beilage aber auch anregen, sich darüber Gedanken zu machen, was es heisst, heute Antifaschist zu sein.

Mai 1945: Europa liegt in Schutt und Asche. Es beweint 60 bis 70 Millionen Tote. Die genaue Zahl wird die Menschheit nie erfahren. Weitere Millionen kehren als Krüppel von den Schlachtfeldern zurück oder sind es durch die flächendeckenden Bombardierungen geworden. Millionen von Menschen schwören sich: «Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!».

Mai 2015: Wir stellen fest, dass es in Europa sehr wohl wieder Kriege gab und noch gibt. Wir wissen, dass in der Ukraine faschistische Kräfte von der EU unterstützt werden. Wir sehen, wie rassistische, faschistoide Parteien auf dem ganzen Kontinent an Zuspruch gewinnen, grossen Einfluss haben oder gar – wie in Ungarn – an der Macht sitzen. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus! Was ist aus diesem Eid geworden? Was heisst es heute, Antifaschist zu sein? Eine Frage, die sich vor allem jene Linke stellen muss, die ihren Aktionsradius etwas grösser und breiter als einen Bierdeckel definiert und sich daher nicht nur auf den bürgerlichen Parlamentarismus, Initiativen und Referenden beschränkt.

Auf der Suche nach Antworten finden wir einen ganz grossen Schriftsteller, Politiker, marxistischen Philosophen und Antifaschisten aus Italien, der seine felsenfeste Überzeug mit dem Tod bezahlte: Antonio Gramsci. «Die Illusion ist die hartnäckigste Quecke des kollektiven Bewusstseins: Die Geschichte lehrt, hat aber keine Schüler», ist eine seiner Weisheiten, die er uns hinterliess. Die Quecke ist bekanntlich ein Gras, das sehr schnell wächst und alles andere «überdeckt». Und Gramsci fordert uns auf, SchülerInnen der Geschichte zu werden. Das heisst heute: Niemals die Quecke wuchern lassen, niemals vergessen! Niemals den Holocaust vergessen. Niemals den blutigen, heldenhaften Befreiungskampf der PartisanInnen vergessen. Niemals die tragende, zentrale Rolle der sozialistischen, kommunistischen Parteien und anarchistischen Organisationen im antifaschistischen Kampf vergessen. Niemals vergessen, dass Europa auch von der Roten Armee befreit wurde und nicht nur von den Amis alleine. Niemals vergessen, dass die Sowjetunion weitaus die grösste Anzahl Opfer zu beklagen hatte.

Geschwüre auch in der Schweiz

Aber das Nichtvergessen alleine reicht nicht. Auch dies sagt uns Genosse Gramsci, Mitbegründer der Italienischen Kommunistischen Partei (Partito Comunista Italiano) im Jahr 1921 und Gründer der geschichtsträchtigen Parteizeitung «L’Unità» im Jahr 1924: «Der Faschismus hat sich als Antipartei gegeben, hat allen Kandidaten die Türe geöffnet, hat einer ungeordneten Vielfalt die Möglichkeit geboten, nebulöse und vage politische Ideale mit einem Farbanstrich zu überstreichen. Es ist das wilde Überborden der Leidenschaft, des Hasses, der Wünsche.» Ins Heute umgemünzt, beschreibt hier Gramsci unter anderem die Organisation «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes» (Pegida) aus Deutschland, die Tausende von WutbürgerInnen auf die Strasse mobilisiert. Aber auch die Schweiz ist nicht frei von solchen Geschwüren. Am 29. März 2014 versuchte die Gruppe «Stopp Kuscheljustiz» eine Kundgebung unter dem Namen «Volksversammlung» zu organisieren. Ihr Facebook-Auftritt zeigt, dass die Gruppe ein Sammelbecken für rechtskonservative und rechtsextreme Ideologien darstellt. Die «Helvetia» wird zur Heimat der «Eidgenossen» hochstilisiert und populistische Hetzberichte gegen AusländerInnen, Asylsuchende und Kriminelle von Seiten rechtsextremer Parteien wie der Partei National Orientierter Schweizer (PNOS) folgen regelmässig. Auf-forderungen wie «Schweiz erwache» in Anlehnung an das SA-Kampflied «Deutschland erwache» und Aufrufe zu ethnischen Säuberungen oder die Forderung der Todesstrafe gegenüber Andersdenkenden oder MigrantInnen sind die Regel. In «Gefahr» ist alles angeblich Schweizerische, von der direkten Demokratie bis zur Cervelat. Obwohl sich die VeranstalterInnen von rechtsextremen Positionen distanzieren und sich nicht als FaschistInnen oder Neonazis wissen wollen, zieht eine solche «Volksversammlung» sehr wohl offen deklarierte RassistInnen, FaschistInnen und RechtspopulistInnen an. Die faschistoiden Züge der Rechten in der Schweiz haben sich ständig durch rassistische Komponenten und den Schutz der eigenen «Identität» und «Tradition» charakterisiert. Und sie sind vor allem auch immer bis in die «Mitte der Gesellschaft» vorzufinden.

Die Speerspitze der herrschenden Klasse

Bei Gramsci bildeten Ideologie, Philosophie und politische Praxis eine feste Einheit. Er konzentrierte sich stark auf das Verständnis der realen Situation und der gesellschaftlichen Verhältnissen Italiens jener Zeit und der Möglichkeit, diese im sozialistischem Sinne zu transformieren. Den Faschismus definierte er als «Speerspitze der Krise der bürgerlichen Gesellschaft», da der herrschenden Klasse, die «soziale, intellektuelle und moralische Hegemonie verloren hatte» und zur Gewalt greifen musste. Ein Blick auf die herrschende Klasse von heute zeigt, dass sie mit den sogenannten Freihandelsverträgen wie TiSA und TTIP (um nur zwei zu nennen) dabei ist, einen epochalen neoliberalen Angriff durchzuführen. Was wird ihre Speerspitze sein? Und: Welche Alternative bieten wir zur aktuelle Barbarei? Die Antworten auf die Frage, was es heisst, heute AntifaschistIn zu sein, finden wir in der Vergangenheit, im Heute und in dem, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen. Um diese im sozialistischen Sinne aufzubauen, heisst die gemeinsame Kampfparole: NO PASARAN!

 

Aus der Printausgabe vom 24. April 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

TISA: Weitere Schritte in der Privatisierung

tisa-banner-dang-ngo-31Seit Anfang 2012 laufen in Genf hinter verschlossenen Türen die Gespräche und Verhandlungen über die Abkommen TiSA und TTIP. Das Ziel dieser sind weitere Privatisierungen und die Beseitigung von Handelshemmnissen im Dienstleistungssektor. Dass die Folgen der beiden Abkommen vor allem die Werktätigen trifft und nicht deren Bosse, wird schnell klar.

Das Ziel von TiSA («Trade in Service Agreement», zu Deutsch «Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen») ist die globale Liberalisierung von Dienstleistungen. Dabei handelt es sich beim Abkommen um einen völkerrechtlichen Vertrag, bei dem über 20 Staaten eingebunden sind, darunter auch die USA und die EU, wobei die EU als ein Staat gilt. Faktisch sind also über 50 Staaten in die Verhandlungen involviert. Schaut man sich die Informationen über TiSA an, die trotz Geheimhaltungsversuchen durchgesickert sind, so wird deutlich, was die primären Ziele der Verhandlungen sind: Einerseits werden die Privatisierungen staatlicher Betriebe vorangetrieben, andererseits soll gleichzeitig durch das Abkommen verhindert werden, dass die Privatisierungen rückgängig gemacht werden können. Kurzum bedeute dies, dass einmal privatisierte Staatsbetriebe wie Wasserwerke niemals mehr verstaatlicht werden können, egal in welche missliche Situationen die Privatisierung führt. Gleichzeitig führt das TiSA-Abkommen Punkte zur staatlichen Handhabung von Privatisierungen auf. Diese beinhalten, typisch für supranationale Klauseln, Bestimmungen darüber, in welchem Masse Privatisierungen staatlicher Betriebe vorzunehmen seien. Wäre das TiSA-Abkommen schon für die Schweiz verbindlich in Kraft getreten, als das Zürcher Stimmvolk gegen die Privatisierung des EWZ abgestimmt hat, wäre dieser Entscheid für ungültig erklärt worden. Charakteristika von supranationalen Bündnissen sind, dass sie die Souveränität der beteiligten Staatsnationen indirekt angreifen. Dies führt oftmals zu inneren Widersprüchen und Interessenskonflikten, was schon manche Verhandlungen scheitern liess.

Staat als Markthemmnis

Legitimiert wird der Kernpunkt des TiSA-Abkommens durch die Argumentation, dass durch die staatliche Unterstützung gewisser Betriebe wie Schulen oder Elektrizitätswerke anderen Marktteilnehmern der Eintritt in den Handel erschwert oder gar verwehrt bleibe. So wird auch bei staatlichen Auflagen im Bereich Gesundheit oder Umwelt von «Markthemmnissen» gesprochen, die es zu beseitigen gilt. Es scheint zentral zu sein, für das Kapital und seine Interessen die Wege so breit wie nur möglich zu ebnen. Das oberste Ziel ist dabei die Profitmaximierung. Wird diese durch Privatisierungen durchgerungen, bedeutet dies meist eine weitere Verschärfung der Arbeitsbedingungen für die Lohnabhängigen einerseits und eine Verschlechterung der Lebensbedingungen andererseits. Gerade wenn im Gesundheits- oder Bildungssektor privatisiert wird, bedeutet dies, dass nur noch die zahlungskräftige Minderheit der Bevölkerung es sich leisten kann, für die eigene Vorsorge und Ausbildung aufzukommen. Motiviert sind Privatisierungen oftmals durch Krisen des Kapitalismus. Gleichermassen wie die kapitalistische Urbanisierung ist die Privatisierung eine Alternative in Krisensituationen, falls das Spielfeld für neue Investitionen eng wird. Betriebe, welche früher einen öffentlichen Auftrag gegenüber der Bevölkerung innehatten, sollen zukünftig in private Taschen rentieren.

TiSA reiht sich historisch in die Verhandlungen über MAI («Multilaterales Abkommen für Investitionen»), welches von den OECD-Staaten entworfen, aber nie angenommen wurde. Dieses wiederum lässt sich als ein Versuch zur Verschärfung des GATS-Abkommen («Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen») beschreiben. Mit den GATS-Verhandlungen wurde im Besonderen die Privatisierungen von elementaren Diensten wie Wasser, Gesundheitswesen uns Bildung vorangetrieben. Versuche, Privatisierungen zu etablieren und dadurch mehr Profit zu generieren, ist nicht etwas, was erst durch TiSA unternommen wurde. TiSA und TTIP stellen vielmehr eine neue Etappe in der Geschichte der Privatisierungen und somit neue Angriffe von oben dar.

Enteignen statt privatisieren!

Global konzipierten Liberalisierungsversuchen wurde schon viel Widerstand entgegnet. So gingen in Seattle im Jahre 1999 Tausende auf die Strasse, um gegen die WTO zu protestieren. Seattle wurde zum Symbol für eine starke und lebendige Antiglobalisierungsbewegung, die durchaus Massencharakter bewies. Mit den Protesten solidarisierten sich international Lohnabhängige wie Arbeitslose, StädterInnen wie BauerInnen. Die öffentliche Aufmerksamkeit den Themen der Globalisierung gegenüber war extrem hoch. Und so gilt es auch in der Gegenwart, sich mit dem aktuellen Angriff auf die Lebensgrundlage von vielen Menschen zu beschäftigen und sich dagegen zur Wehr zu setzten. Der Kampf gegen Abkommen wie TiSA ist ein Kampf für gute Lebensbedingungen für alle. Dabei ist wichtig zu betonen, dass von Privatisierungen sehr viele, auch reichere Länder betroffen sind. So existiert beispielsweise im Kanton Zürich kein Spital mehr, deren Auslagerung oder Privatisierung nicht vorangetrieben wurde. Arbeitskämpfe im In- wie im Ausland haben gezeigt, das Widerstand nötig und möglich ist. Dabei baut man den grössten Druck auf, wenn man Kämpfe verbindet.

In verschiedensten Ländern regt sich der Widerstand gegen TiSA. Auch in der Schweiz haben sich Aktionen gegen TiSA bemerkbar gemacht. So wurde am 18. April zu einem internationalen Aktionstag gegen TiSA aufgerufen. Um 14 Uhr trafen am Paradeplatz etwa 150 Leute zu einer Kundgebung ein. Diese Mobilisierung des revolutionären Bündnisses gegen TiSA war die erste Aktion, die das Thema in die Öffentlichkeit trug. Das ist bei einem Abkommen wie TiSA besonders wichtig, da man nur so die Verhandlungen aus der Sphäre des Geheimen holen kann. Es ist klar, TiSA muss öffentlich Thema sein und werden! Die Kundgebung wurde begleitet von Einschüchterungsversuchen der Polizei, die mehrere Personen in Gewahrsam genommen, weggewiesen oder kontrolliert haben. Verhindern konnte aber auch die Stapo Züri die Kundgebung nicht, weil ihnen die politische Legitimation dafür offensichtlich gefehlt hat. Dies, weil die Kundgebung verschiedenste Kräfte zusammengebracht hat, darunter auch die Basisgruppe «Zürich bleibt öffentlich». Deren Teilnahme an der Kundgebung zeigt, dass sich auch in den gewerkschaftlichen Strukturen erste Stimmen gegen TiSA erheben, was durchaus notwendig ist.

Aus der Printausgabe vom 24. April 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Besetzung des Migrationsamts in Luzern

MigrationsamtAktion Würde statt Hürde. Ein Mann stach sich mit einem Messer in den Bauch, um sich das Leben zu nehmen. Er hielt die Situation als abgewiesener Asylsuchender nicht mehr aus. Darauf empörten sich einige LuzernerInnen einmal mehr über das menschenunwürdige Asylsystem der Schweiz. Es war höchste Zeit, ein Zeichen zu setzen. So entstanden wir, die «Aktion Würde statt Hürde», die aus Menschen mit und ohne Schweizer Pass besteht. In langen Diskussionen und Vorbereitungen füllte sich unsere Aktion mit Inhalt. Wir führten Interviews mit Asylsuchenden, denn wir wollten ihre Geschichten und Anliegen hören. Als wir sie dann hörten, aufschrieben und auf Tonband aufnahmen, wurde aus Empörung Betroffenheit und aus Wut der Wunsch, Solidarität zu zeigen. Deshalb besetzten wir das Amt für Migration in Luzern. Wir trugen die Stimmen derer hinein, die sich selber nicht wehren können, ohne damit rechnen zu müssen, dass sie ihren Traum von einem menschenwürdigeren Leben begraben müssen. «Leben in der Nothilfe ist schwierig und mühsam. Wir haben eine begrenzte Umgebung. Wir sind nicht frei, wir haben ganz wenige Möglichkeiten, uns zu bewegen. Wir müssen nur überleben. Das macht mit der Zeit müde, es ist schwierig und mühsam. Das macht Leute mit der Zeit depressiv. Wir haben keine Perspektive und keinen Plan für die Zukunft. Das ist meine Meinung.», sagt eine bgewiesene asylsuchende Person im Interview.

Im Amt für Migration lasen wir die Transkripte der Interviews immer wieder vor. Die Angestellten des Amigras sollten ein Gefühl dafür bekommen, dass es Menschen sind, die sie schikanieren, die sie beschimpfen, für die sie Durchsetzungshaft anordnen. Per Lautsprecher übertrugen wir die Stimmen nach draussen, um eine Verbindung herzustellen zwischen den PassantInnen, den Demonstrierenden und den beobachtenden PolizistInnen. Die Unmenschlichkeit des Asylsystems war für einmal nicht abgeschottet in Amtsgemäuern, sondern gut hörbar in Luzerns Strassen. Es gelang uns, die mediale Berichterstattung mit unseren Inhalten zu füllen.

Wir wollen, dass die Menschen verstehen, dass abgewiesene Asylsuchende, ohne etwas Kriminelles getan zu haben, verfolgt und illegalisiert werden. Schlicht wegen fehlenden Papieren sind Gefängnisstrafen und Bussen Alltag. Die Lebensumstände sind prekär: Abgeschottete, zu kleine Notunterkünfte und die täglichen 10-Franken-Gutscheine von Coop, die bei Weitem nicht zum Leben reichen, zumal zusätzlich ein Arbeitsverbot besteht. Auch zu Bildung besteht kein Zugang. Dies alles verunmöglicht ein menschenwürdiges Dasein und eine Integration in der Schweiz. «Wir sind hier seit mehr als zehn Jahren. Meine Hoffnung ist, arbeiten zu gehen oder etwas zu machen. Das ist das Minimum, das sie uns geben sollten. Meine Hoffnung ist, dass sie uns anschauen und nicht nur unsere Dossiers, und das sie diese stattdessen eines Tages schliessen. Wir sind auch. Wir brauchen auch ein Leben als Menschen.»

Ein paar Tage nach der Besetzung zogen wir lautstark demonstrierend mit 300 Personen durch Luzern. Zur Demonstration aufgerufen hatte Bleiberecht Luzern. Wir hatten einen Gastauftritt: Die Stimmen der betroffenen Menschen erschallten wieder in den Strassen und stimmten die PassantInnen nachdenklich. Hört man die persönlichen Geschichten der sonst in der anonymen Masse der «AusländerInnen» untergehenden Individuen, kann sich niemand taub stellen. Die vergangenen Wochen (auch mit der Kirchenbesetzung in Lausanne) haben gezeigt, dass es mit hartnäckigem Aktivismus eben doch möglich ist, Menschen wachzurütteln. Gemeinsam können wir so laut sein, dass die tägliche Unterteilung in wertvolle, also erwünschte, und wertlose, unerwünschte Menschen nicht mehr totgeschwiegen werden kann. Wir kommen wieder. Das war erst der Anfang!

Mehr Infos: https://aktion2303.wordpress.com

 

Aus der Printausgabe vom 10. April 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Die Mär von der «Lohngleichheit»

05_FrauendemoZum diesjährigen Internationalen Frauenkampftag demonstrierten tausende Menschen gegen die Lohndiskriminierung von Frauen. Trotz gesetzlicher Regelung wird der Grundsatz «gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit» von Unternehmen systematisch missachtet. Mit obligatorischen Kontrollen und Sanktionierungsmöglichkeiten wollen die Gewerkschaften dagegen angehen.

Seit mehr als 33 Jahren gilt in der Schweiz das Gleichstellungsgesetz. Seit mehr als 33 Jahren wird es von den Unternehmen ignoriert. Nun regt sich Protest. Rund 12000 Personen waren am 7. März dem Appell eines Demonstrationsbündnisses, bestehend aus 48 Frauenorganisationen von links bis rechts, gefolgt und trugen die Forderung nach «Gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit» auf die Strasse. Rund 24 Jahre nach dem historischen Frauenstreiktag von 1991, zu dem fast eine halbe Million ArbeiterInnen ihre Tätigkeit niedergelegt hatten, sei es an der Zeit, einem «der grössten Skandale der Schweiz» ein Ende zu bereiten, erklärte die Gewerkschaft Unia.

Die «Lohngleichheit» ist seit 1981 in der Bundesverfassung und seit 1996 – im Nachgang zum Frauenstreiktag – im Gesetzbuch verbindlich verankert. Dennoch verdienen Frauen gemäss den neusten Erhebungen des Bundesamts für Statistik (BFS) aus dem Jahr 2012 in der Schweiz immer noch rund 19 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Eine Differenz von durchschnittlich 677 Franken pro Monat. Der Unterschied zu Staaten, die kein gesetzliches Verbot von Lohndiskriminierung kennen, ist marginal. In Deutschland etwa liegt die Differenz bei rund 22 Prozent. Begründen könne man den Gehaltsunterschied zwischen den Geschlechtern teilweise durch Faktoren wie Ausbildung, Qualifikation und beruflicher Stellung. Dennoch bleibt gemäss BFS eine «unerklärbare» Differenz von 8,7 Prozent. In Branchen mit hohem Frauenanteil – wie etwa in der Pflege und im Detailhandel – sind die Zustände für die ArbeiterInnen noch gravierender: Die Löhne sind auf unterdurchschnittlichem Niveau und das Lohngefälle zwischen Mann und Frau noch höher als in anderen Wirtschaftszweigen. Der Gesamtwert der «Einsparungen», welche Unternehmen durch die Zurücksetzung der Frauen in der Arbeitswelt erzielen, beläuft sich in der Schweiz auf insgesamt 7,7 Milliarden Franken pro Jahr. Geld, das den Frauen nicht nur während ihrer Erwerbszeit, sondern auch später im Rentenalter fehlt.

Selbst verantwortlich

Der Grund, warum das vorhandene Gesetz gegen «Lohndiskriminierung» nicht greift, ist simpel: Privaten Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen ist es freigestellt zu prüfen, ob sie eine diskriminierende Lohnpolitik führen und beheben wollen. Der Staat leistet den Unternehmen dabei finanzielle und personelle Unterstützung, der Blick in die Lohnbuchhaltungen bleibt aber verwehrt. Stichkontrollen vornehmen dürfen die Behörden nur bei der Vergabe von Bundesaufträgen. Gemäss dem Eidgenössischen Büro für Gleichstellung (EBG) wurden in diesem Bereich bisher jedoch lediglich 43 von rund 300000 Unternehmen und Organisationen, mit denen der Bund Geschäftsbeziehungen unterhält, geprüft. Kurzum: Für die Durchsetzung des Verfassungsrechts ist jede Frau selber verantwortlich. Und nicht selten führt dieser Weg vor Gericht.

Mehr als 262 Fälle von Lohnungleichheit sind in der Schweiz in den vergangenen 19 Jahren eingeklagt worden. Die Dunkelziffer dürfte allerdings um einiges höher sein, da viele Betroffene entweder gar nicht erst um die Diskriminierung wissen oder den kräftezehrenden Rechtsweg nicht auf sich nehmen können. Dass das Einklagen von Lohn ein aufreibender und langwieriger Weg ist, zeigt das Beispiel einer Schneiderin aus Lausanne. Seit mehr als zwei Jahren führt die Frau einen Rechtsstreit gegen das Unternehmen, in dem sie sechs Jahre lang tätig war. Nachdem sie festgestellt hatte, dass sie als Fachperson mit Berufserfahrung monatlich rund 1200 Franken weniger verdient als ein Arbeitskollege ohne eigentliche Qualifikation, verlangte sie bei ihrem Chef eine Lohnerhöhung. Kurze Zeit später kam die Kündigung. Die Schneiderin zog den Fall vor Gericht, doch die Anordnung eines wissenschaftlichen Attests, mit dem die Lohnungleichheit bewiesen werden muss, wurde von der Justiz – zugunsten des Unternehmens – verzögert. Bis heute lässt der Urteilsspruch auf sich warten.

Freiwillige Prüfung?

Die Gewerkschaft Unia spricht von «Verschleppungstaktik» und einem «hürdenreichen Weg». Nichtsdestotrotz sieht die Unia-Gleichstellungssekretärin Corinne Schärer in den Lohnklagen «das wichtigste Mittel», um Druck aufzubauen. Gewerkschaftliche Organisation und Arbeitskämpfe gegen diskriminierende Entlohnung sind bisher kein Thema zur Durchsetzung der «Lohngleichheit». Man konzentriert sich weiterhin auf den Rechtsweg und die Forderungen, die man bereits im Jahr 2007 gestellt hat. Damals, als das Parlament eine Sondersitzung zur Diskussion des Gleichstellungsgesetzes abhielt, verlangten die Gewerkschaften «griffige Massnahmen» wie Kontrollen und Sanktionen. Ohne Erfolg. Der Bundesrat entschied stattdessen, in eine zusätzliche freiwillige «Förderungsmassnahme» zu investieren und einen »Lohngleichheitsdialog» zwischen den «Sozialpartnern» zu veranlassen. Dabei konnten sich alle Unternehmen in der Schweiz einer externen Kontrolle unterziehen, um zu prüfen, ob sie eine diskriminierende Lohnpolitik führen. Doch während der fünfjährigen Pilotphase machten lediglich 50 Unternehmen von diesem «Angebot» Gebrauch. Davon waren 70 Prozent staatlich oder «staatsnah».

Ein ernüchterndes Ergebnis. Selbst der Bundesrat musste daraufhin im vergangenen Oktober eingestehen, dass «freiwillige Lösungen alleine nicht zum Ziel führen». Justizministerin Simonetta Sommaruga kündigte eine «Verschärfung» des Gleichstellungsgesetzes an, die vorsieht, dass Unternehmen künftig alle drei Jahre eine «Lohnanalyse» durchführen, das Resultat von einem «Dritten» ihrer Wahl bestätigen lassen und im Geschäftsbericht erwähnen, dass die gesetzliche Pflicht eingehalten worden sei. Darüber, wie gross die tatsächlich festgestellte Lohndifferenz ist und welche Massnahmen ergriffen wurden, sollen die Unternehmen keine Rechenschaft ablegen müssen. Man wolle «keine Lohnpolizei» und dass «die zusätzliche administrative Belastung für die Unternehmen gering bleibt», so die SP-Bundesrätin.

Dass Bewegung in die Lohngleicheitsdiskussion kommt, begrüssten die Gewerkschaften zwar als einen «Schritt in die richtige Richtung», die bundesrätliche Vorstellung der «Gesetzesverschärfung» teilen sie aber nicht. Die vorgesehenen Massnahmen seien «zahnlos», es brauche verbindliche Kontrollen, eine Meldebehörde und die Möglichkeit, Unternehmen zu sanktionieren, wenn sie Diskriminierung nicht beheben, heisst es seitens der Unia. Dem Gewerkschaftsbund schwebt eine Kontrollstelle in Form einer «Tripartiten Kommission» vor. Ein Organ zur «Beobachtung des Arbeitsmarkts», wie es aktuell in Zusammenhang mit den «flankierenden Massnahmen» eingesetzt wird und das befugt ist, die Einhaltung von Arbeitsverträgen zu kontrollieren, Verstösse wie Lohndumping an die kantonalen Vollzugsbehörden zu melden und «Massnahmen» zu beantragen. Einsitz haben VertreterInnen der «Sozialpartner» – Gewerkschaften und Unternehmen – sowie der Behörden. Diesem Kräfteverhältnis entsprechend ist die Durchschlagskraft der Kommission: Immer wieder werden Forderungen nach Einhaltung und Verschärfung der «flankierenden Massnahmen» laut. Im Basler Parlament hiess es im September 2012 sogar: «Die Tripartite Kommission muss endlich ihre Kontrollfunktion gemäss Auftrag ausführen.» Der Tages-Anzeiger titelte im April 2014: «Flankierende Massnahmen sind fast folgenlos» und die Unia führt eine lange Liste mit Forderungen zur «Verstärkung der flankierenden Massnahmen», die seit jeher unverändert blieb.

Torpedierte Lohngleichheit

Eine Erfolgsgeschichte sieht anders aus. Nichtsdestotrotz schwebt den Gewerkschaften auch für die Durchsetzung der «Lohngleichheit» eine Tripartite Kommission als Kontrollgremium und somit die «Zusammenarbeit» mit den Unternehmen vor. Alternative Ideen sind Mangelware, wie sich an der Frauendemonstration am 7. März zeigte, als die SP-Frauen-Präsidentin Yvonne Feri «vielleicht ein bisschen provokativ» anregte, man solle «die Männerlöhne bei Ungleichheiten gegen unten korrigieren». So könne die Wirtschaft sparen und dieses Geld in gleichstellungspolitische Massnahmen investieren.

Die Unternehmen dürften applaudiert haben, denn Sparen steht bei ihnen derzeit ausserordentlich hoch im Kurs. Aufgrund des «starken Frankens» sehen sich Firmen, vor allem im Exportbereich, «unter Druck». Mögliche Einbussen sollen kompensiert werden. Mehr Arbeit zu weniger Lohn sowie Stellenstreichungen wurden mancherorts bereits durchgesetzt. Und damit die Wirtschaft noch freier walten kann, rief die SVP Ende Februar dem Appell von UBS-Chef Sergio Ermotti folgend zu einen «Deregulierungspakt» zwischen Wirtschaft und Politik auf. Lohnangleichung gegen oben und Kontrolle von Unternehmen kommen für die SVP nicht in Frage. So soll auch die Frauendiskriminierung fortgesetzt werden, wie SVP-Parteipräsident Toni Brunner im Interview mit der NZZ am Sonntag darlegte. Die vom Bundesrat geplante «Lohnpolizei» müsse man «abbrechen oder wenigstens sistieren«, so Brunner. Gestützt werden die Rechtspopulisten von der CVP und der FDP. Die «Frankenstärke» dient als dankbarer Vorwand, um das Ansinnen für «Lohngleichheit» weiter zu torpedieren.

«Das werden wir verhindern», konterte indes der Gewerkschaftsbund. Man wolle nun den konkreten Gesetzesentwurf abwarten, den die Regierung im Sommer vorlegen wird. Sollten die Anliegen der Frauen weiter auf die lange Bank geschoben werden, würde man wieder auf die Strasse gehen. Dennoch ist absehbar, dass die Diskriminierung von Frauen ohne eine entschiedenere Haltung weiter Realität sein wird.

 

Aus der Printausgabe vom 10. April 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Keine Rentenerhöhung

0029_147Die zuständige Kommission des Ständerats lehnt die «AHVplus» Initiative des Gewerkschaftsbundes ab. Wie immer, wenn es um die AHV geht, wird der klare Verfassungsauftrag missachtet. Ein Verfassungsauftrag, der nur mit einem radikalen Wechsel erfüllt werden kann. «Die sozialpolitische Kommission des Ständerats nimmt die Sorgen vieler Rentnerinnen und Rentner nicht ernst und lehnt eine dringend nötige Rentenerhöhung, so wie sie die Initiative «AHVplus» vorschlägt, sang- und klanglos ab», schreibt der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) in seiner Medienmitteilung von 26. März 2015. Selbst 116 Franken im Monat mehr für RentnerInnen mit einer Minimalrente von monatlich 1160 Franken sind der Kommission zu viel. Bei einer Maximalrente von derzeit 2320 Franken wären es 232 Franken und bei einer vollen Ehepaarrente würde der Zuschlag 348 Franken betragen. Die «AHVplus»-Initiative des SGB verlangt eine Erhöhung von zehn Prozent der aktuellen AHV-Renten und wurde am 17. Dezember 2013 mit über 112000 Unterschriften eingereicht.

Weit, weit weg!

Es ist bemerkenswert, wie die Kommission des Ständerats auf die Verfassung spuckt. Denn diese schreibt vor, dass die Renten der AHV und der Pensionskasse zusammen die «Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise» gewährleisten müssen. Für viele Leute ist dieses Verfassungsrecht ein schlechter Witz, ein Hohn. 185 800 RentnerInnen beziehen Ergänzungsleistungen, ihre AHV-Rente und die eventuellen Bezüge aus der Pensionskasse reichen nicht aus, um die minimalsten Lebensunterhaltskosten zu decken. Gemäss Hochrechnungen von Pro Senectute steigt diese Zahl jedes Jahr um 5000 zusätzliche PensionärInnen an. Ohne die AHV-Zusatzleistungen, die bei der Einführung als vorübergehend bezeichnet wurden, könnten rund 300 000 Personen kaum mehr anständig leben. Nicht zu vergessen sind jene Menschen, die keine Zusatzleistungen beziehen, da sie den Anspruch darauf nicht erheben und dies oft, weil sie ihr Recht dazu gar nicht kennen oder sich schämen. Das alles betrifft nicht nur Menschen, die nach der Pensionierung einzig auf ihre AHV-Rente zählen können, sondern auch viele mit Renten aus der ersten und zweiten Säule. Ein Elektriker etwa, der zuletzt rund 5500 Franken verdiente, muss sich nach seiner Pensionierung mit weniger als 3500 Franken aus erster und zweiter Säule begnügen. Eine Verkäuferin mit einem Monatsgehalt von gerade mal 4000 Franken bekommt eine Rente von 3000 Franken. Weit, weit weg von dem, was die Verfassung garantiert und diese so – zumindest in diesem Punkt – zu einem wertlosen Papierfetzen macht!

PdAS arbeitet an Initiative

Laut SGB würde die vorgeschlagene Rentenerhöhung dem Bund vier Milliarden Franken kosten. Davon wäre gut die Hälfte mit einer nationalen Erbschaftsteuer gedeckt. Weitere 2,2 Milliarden durch die Tabaksteuer, wenn diese direkt in die AHV statt in die Bundeskasse fliessen würde. «Auch Lohnprozente, die seit 1975 nie erhöht worden sind, dürfen kein Tabu sein. 0,6 Lohnprozente würden reichen, um den Mehrbedarf zu decken», rechnet der SGB weiter vor. Die Initiative ist finanzierbar. Ob man sie finanzieren will, ist wie immer eine politische Frage. Als kurzfristige Massnahme macht die SGB-Initiative durchaus Sinn. Doch längerfristig kann auch sie den Verfassungsauftrag nicht erfüllen. Das ist nur mit einem radikalen Wechsel möglich: Die 1. Säule, sprich die AHV, muss gestärkt werden und zwar durch die Überführung der Pensionskasse (2. Säule) in die 1. Säule. Ein Projekt, an dem die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) arbeitet und eine entsprechende Volksinitiative angekündigt hat.

Aus der Printausgabe vom 10. April 2015. Unterstütze uns mit einem Abo

Töten wir das Monster!

01_TISAAm 18. April findet der globale Aktionstag gegen Freihandel statt. Es ist der konkrete Widerstand gegen die Freihandelsabkommen, die der schrankenlosen Privatisierung und Liberalisierung den Weg ebnen soll. Was dabei die -Folgen sind, zeigt die Privatisierung des Spitals «La Providence» in Neuenburg. Die Abkommen betreffen direkt auch die Schweiz. Am Aktionstag findet auf dem Zürcher Paradeplatz eine Kundgebung statt.

TiSA? TTIP? Tafta? Das sind Abkürzungen für so genannte Freihandelsabkommen. Freihandelsabkommen? Das ist der «diplomatische Fachbegriff» für die komplette, vollständige Liberalisierung und Privatisierung! «Privatisierungen der öffentlichen Dienste und Liberalisierung sind die politischen Waffen der Unternehmen und Besitzenden, um ihre Profitinteressen durchzusetzen. Für die ArbeitnehmerInnen bedeuten sie schlicht eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen und somit auch der Lebensbedingungen», hält die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) in ihrem Wahlprogramm 2015 fest. So geschehen beim Spital «La Providence» in Neuenburg: Nachdem das Spital durch die private Gruppe «Genolier» übernommen wurde, kam es zur Kündigung des Gesamtarbeitsvertrags (GAV), der Auslagerung nicht- medizinischer und nicht-pflegerischer Leistungen. Die Folgen waren ein allgemeiner Lohn- und Stellenabbau. Dies geschah mit dem Einverständnis der Neuenburger Regierung: Sie erlaubte der Gruppe «Genolier», den GAV zu kündigen, obwohl eine Verordnung des Regierungsrates selbst festlegte, dass der GAV respektiert werden muss, um einen öffentlichen Auftrag im Gesundheitswesen zu erhalten. Eine «Ausnahme»? Nein! «Ein Musterbeispiel von Privatisierung und Liberalisierung im Sinne des kapitalistischen Diktats, das heute Globalisierung genannt wird», schreibt die PdAS dazu und trifft damit den Nagel auf dem Kopf.

Weltweite, undemokratische Verhandlungen

Seit 2012 verhandelt das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) im Auftrag des Bundesrats mit der EU, die ihrerseits 28 Länder umfasst, sowie weiteren 20 Ländern unter der Führung der USA über das Freihandelsabkommen «Trade in Services Agreement» (TiSA). Auf der Website des Komitee Stop-Tisa ist darüber zu lesen: «Es geht um fast alles, was wir zum Leben brauchen: vom Trinkwasser bis zur Abfallentsorgung, vom Kindergarten bis zum Altersheim, von Post und Bank über Eisenbahn und Elektrizitätswerke bis zum Theater. Der ganze Service public, wie wir ihn in der Schweiz nennen, ist vom Dienstleistungsabkommen TiSA bedroht.» Die Verhandlungen werden im Geheimen und undemokratisch geführt. Das Schweizer Parlament, wie auch die Öffentlichkeit, wurde erst auf öffentlichen Druck spät und unzulänglich über den Stand der Verhandlungen informiert. Die Länder in Lateinamerika, Afrika und Asien kennen seit Jahrzehnten die Auswirkungen dieser Freihandelsabkommen, die ihre Wirtschaft zerstört und das Volk in Armut geführt haben. So gibt es heute gemäss WTO weltweit gegen 400 Freihandelsverträge, vor vierzig Jahren waren es weniger als zehn.

Konzerne klagen gegen Staaten

Gemäss den Freihandelsverträgen müssen alle Dienstleistungsbereiche, in denen neben den öffentlichen auch private Anbieter vorhanden sind, den Regeln des «freien und unverfälschten Wettbewerbs» unterstellt werden. Ist dies nicht der Fall, können einzelne Konzerne eine Regierung auf «entgangene Gewinne» verklagen, um diese aus Steuergeldern ausgleichen zu lassen. Die Unternehmen haben denselben Rechtsstatus wie Nationalstaaten. Geklagt wird nicht bei einem öffentlichen Gericht, sondern bei einem Schiedsgericht, das der Weltbank untersteht! Diese Regelungen sind bereits aus bestehenden Freihandelsverträgen bekannt. Zwei konkrete Beispiele, bei denen von Parlamenten demokratisch gefällte Entscheide gekippt werden sollen: Die schwedische Energiefirma «Vattenfall» hat Deutschland wegen seiner Atomausstiegspläne auf 3,7 Milliarden Euro verklagt. Philip Morris will zwei Milliarden US-Dollar von Uruguay, weil das Land seine Gesetze zum Rauchen verschärft hat.

Dem Willen der Konzerne nach sollen die Freihandelsverträge die Zukunft bilden. So verhandeln die EU mit den USA seit Juli 2013 über das sogenannte «Transatlantic Trade and Investment Partnership», abgekürzt TTIP. Dabei geht es um die Schaffung der grössten Freihandelszone der Welt und, die einen gemeinsamen Wirtschaftsraum für mehr als 800 Millionen KonsumentInnen bilden würde. Unter dem Deckmantel, die Gesetze «transatlantisch aufeinander abzustimmen», ist die Profitmaximierung das eigentliche und reell angestrebte Ziel. Das betrifft die Nahrung und Industrieprodukte sowie Bereiche wie Arbeitsrecht, Gesundheit sowie Umwelt- und Klimaschutz.

Wirtschafts-Nato als Ziel

Die US-Amerikanerin Lori Wallach, Direktorin von «Public Citizen», der grössten Verbraucherschutzorganisation der Welt, Rechtsanwältin mit Spezialgebiet Handelsrecht und führender Kopf bei den Protesten 1999 in Seattle gegen die WTO-Ministerkonferenz, nennt das TTIP einen «Staatsstreich in Zeitlupe». Und sie schreibt in einem sehr empfehlenswerten Artikel in «Le Mode diplomatique» vom 8. November 2013: «Die erklärte Absicht ist, in zwei Jahren ein Abkommen zu unterzeichnen, das eine transatlantische Freihandelszone ‹Transatlantic Free Trade Area› (Tafta) zu gründen. Das gesamte TTIP-Tafta-Projekt gleicht dem Monster aus einem Horrorfilm, das durch nichts totzukriegen ist. Denn die Vorteile, die eine solche ‹Wirtschafts-Nato› den Unternehmen bieten würde, wären bindend, dauerhaft und praktisch irreversibel, weil jede einzelne Bestimmung nur mit Zustimmung sämtlicher Unterzeichnerstaaten geändert werden kann.»

Die Schlussfolgerung aus all dem ist verdammt einfach: Töten wir das Monster!

Gegen TiSA Abkommen!
Privatisierung stoppen!
Kundgebung: 18. April, 14.00 Uhr

Paradeplatz Zürich

Aus der Printausgabe vom 10. April 2015. Unterstütze uns mit einem Abo