«An die Linken Europas und der Welt»

linerarecibehonoriscausaencuyu_infodiezMuy buenas tardes a todos ustedes. Lasst mich bei dieser besonderen Begegnung der Europäischen Linken zunächst im Namen unseres Präsidenten Evo Morales, im Namen meines Landes und meines Volkes für die Einladung danken, um auf diesem so bedeutenden Kongress der Europäischen Linken eine Reihe von Gedanken und Überlegungen vorzubringen. Lasst mich offen und ehrlich sein .?.?. aber auch konstruktiv.

Was sehen wir Aussenstehenden von Europa? Wir sehen ein Europa, das dahinsiecht, ein niedergeschlagenes Europa, ein selbstversunkenes und selbstzufriedenes Europa, das bis zu einem gewissen Grad apathisch und müde ist. Ich weiss, es sind sehr hässliche und sehr harte Worte, aber so sehen wir es. Das Europa der Aufklärung, der Revolten, der Revolutionen ist Vergangenheit. Weit, sehr weit zurück liegt das Europa der grossen Universalismen, die die Welt bewegten, die die Welt bereicherten und welche die Völker in vielen Teilen der Welt anspornten, Zuversicht zu schöpfen und sich von dieser Zuversicht tragen zu lassen.

Vorbei sind die grossen intellektuellen Herausforderungen. Hinter dem, was von den Postmodernisten als das Ende der grossen Erzählungen gedeutet wurde und gedeutet wird, scheint sich angesichts der jüngsten Ereignisse nichts weiter als der gross angelegte Klüngel der Konzerne und des Finanzsystems zu verbergen.

Es ist nicht das europäische Volk, das seine Tugend, das seine Hoffnung aufgegeben hat, denn das Europa, das ich meine, das müde, das erschöpfte Europa, das selbstversunkene Europa, ist nicht das Europa der Völker – dieses wurde lediglich zum Schweigen gebracht, eingesperrt, erstickt. Das einzige Europa, das wir in der Welt sehen, ist das Europa der grossen Wirtschaftskonzerne, das neoliberale Europa, das Europa der Märkte – und nicht das Europa der Arbeit.

In Ermangelung grosser Dilemmas, grosser Perspektiven und grosser Erwartungen hört man lediglich – um es frei nach Montesquieu zu sagen – den bedauerlichen Lärm der kleinen Ambitionen und des grossen Appetits.

 

Das Wesensmerkmal

des modernen Kapitalismus

Demokratien ohne Hoffnung und ohne Glauben sind gescheiterte Demokratien. Demokratien ohne Hoffnung und ohne Glauben sind verknöcherte Demokratien. Genau genommen sind es keine Demokratien. Es gibt keine echte Demokratie, die nichts weiter als langweiliges Beiwerk verknöcherter Institutionen ist, mit denen alle drei, alle vier oder alle fünf Jahre Rituale wiederholt werden, um diejenigen zu wählen, die künftig mehr schlecht als recht über unser Schicksal entscheiden werden. Wir alle wissen, und in der Linken sind wir uns einigermassen einig darüber, wie es zu einer solchen Situation gekommen ist. Die Fachleute, Gelehrten und die politischen Debatten liefern uns eine ganze Reihe von Deutungsansätzen, warum es uns schlecht geht und wie es soweit kommen konnte. Ein erstes gemeinsames Urteil zu der Frage, wie es zu dieser Situation kommen konnte, lautet, dass nach unserem Verständnis der Kapitalismus zweifelsohne eine weltumspannende, geopolitische Dimension erreicht hat, die absolut ist. Die Welt ist nun im wahrsten Sinne eine runde Sache. Und die ganze Welt wird zu einer grossen globalen Werkstatt. Ein Radio, ein Fernseher, ein Telefon hat keinen Entstehungsort mehr, vielmehr ist die Welt als Ganzes zu seinem Entstehungsort geworden. Ein Chip wird in Mexiko hergestellt, das Design in Deutschland entworfen, der Rohstoff stammt aus Lateinamerika, die Arbeitskräfte sind Asiaten, die Verpackung kommt aus Nordamerika und der Verkauf findet global statt. Dies ist ein Wesensmerkmal des modernen Kapitalismus – daran besteht kein Zweifel – und genau hier muss man mit entsprechenden Massnahmen ansetzen.

Ein zweites Charakteristikum der letzten zwanzig Jahre ist eine Art Rückkehr zur fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation. Die Texte von Karl Marx, der den Ursprung des Kapitalismus im 16. und 17. Jahrhundert beschrieb, sind heute wieder aktuell, ja gehören ins 21. Jahrhundert. Wir erleben eine permanente ursprüngliche Akkumulation, bei der sich die Mechanismen der Sklaverei, die Mechanismen der Unterordnung, der Verunsicherung, der Fragmentierung, die auf so aussergewöhnliche Weise von Karl Marx dargestellt wurden, wiederholen. Nur dass der moderne Kapitalismus die ursprüngliche Akkumulation aktualisiert. Er aktualisiert sie, erweitert sie und dehnt sie auf neue Bereiche aus, um mehr Ressourcen und mehr Geld herauszuholen. Doch neben dieser fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation – die für die gegenwärtigen sozialen Klassen sowohl in unseren Ländern als auch weltweit kennzeichnend sein wird, weil durch sie die örtliche, das heisst die territoriale Arbeitsteilung und die globale Arbeitsteilung neu organisiert werden – erleben wir eine Art Neoakkumulation durch Enteignung. Wir erleben einen Raubtierkapitalismus, der akkumuliert, indem er oftmals auf strategischen Gebieten produziert: Wissen, Telekommunikation, Biotechnologie, Automobilindustrie. Doch in vielen unserer Länder akkumuliert er durch Enteignung, indem er nämlich die gemeinschaftlichen Sphären in Beschlag nimmt, wie etwa Artenvielfalt, Wasser, überliefertes Wissen, Wälder, natürliche Ressourcen… Hierbei handelt es sich um eine Akkumulation durch Enteignung, und zwar nicht durch Schaffung von Reichtum, sondern durch Enteignung des gemeinsamen Reichtums, der in privaten Reichtum überführt wird. Das ist die neoliberale Logik. Wenn wir den Neoliberalismus so sehr kritisieren, dann wegen seiner Verdrängungslogik und seines parasitären Charakters. Anstatt Reichtum zu schaffen, anstatt die Produktivkräfte zu entwickeln, enteignet der Neoliberalismus die kapitalistischen und nicht-kapitalistischen, kollektiven, örtlichen, ja gesellschaftlichen Produktivkräfte.

Doch auch das dritte Merkmal der modernen Wirtschaft ist nicht nur eine fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation, eine Akkumulation durch Enteignung, sondern auch durch Unterordnung: Marx würde es die reelle Unterordnung des Wissens und der Wissenschaft unter die kapitalistische Akkumulation nennen. Einige Soziologen nennen dies Wissensgesellschaft. Es besteht kein Zweifel, dass es sich hierbei um die Bereiche handelt, die für die Produktionskapazitäten der modernen Gesellschaft am mächtigsten sind und die grösste Tragweite -besitzen.

Das vierte Merkmal wiederum, das immer mehr Konflikt-? und Risikopotenzial birgt, ist der Prozess der reellen Unterordnung des Lebenssystems Erde als Ganzes, das heisst der Wechselwirkungsprozesse zwischen Mensch und Natur.

 

Was tun?? – die alte Frage Lenins

Diese vier Merkmale des modernen Kapitalismus sorgen für eine Neubestimmung der Geopolitik des Kapitals auf globaler Ebene, eine Neubestimmung der Klassenstruktur der Gesellschaften; eine Neubestimmung der Klassenstruktur und der sozialen Klassen weltweit. Da ist sicher die Verlagerung der traditionellen Arbeiterklasse, die wir im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert entstehen sahen, in periphere Gebiete wie Brasilien, Mexiko, China, Indien oder die Philippinen zu nennen. Aber nicht nur! Es entsteht auch in den am weitesten entwickelten Gesellschaften eine neue Art des Proletariats. Eine neue Art der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse der Höherqualifizierten: Lehrer, Forscher, Wissenschaftler, Analysten, die sich selbst nicht als Arbeiterklasse sehen, sondern sich wahrscheinlich als Kleinunternehmer begreifen, die aber im Grunde die neue soziale Struktur der Arbeiterklasse des beginnenden 21. Jahrhunderts ausmachen. Doch zugleich entsteht auf der Welt etwas, was wir als «diffuses Proletariat» bezeichnen könnten: nicht?kapitalistische Gesellschaften und Nationen, die der kapitalistischen Akkumulation förmlich untergeordnet werden. Lateinamerika, Afrika, Asien: Wir reden hier von Gesellschaften und Nationen, die im engeren Sinne nicht kapitalistisch sind, insgesamt aber in Erscheinung treten, als seien sie untergeordnet und als Formen der diffusen Proletarisierung ausgestaltet. Dies nicht allein wegen ihrer wirtschaftlichen Eigenschaften, sondern auch wegen ihres fragmentierten Charakters selbst beziehungsweise wegen der oftmals schwierigen Fragmentierung und aufgrund ihrer geographischen Streuung.

Wir haben es also nicht nur mit einer neuen Art und Weise zu tun, wie sich die kapitalistische Akkumulation ausbreitet, sondern auch mit einer Neuordnung der Klassen und des Proletariats und der nichtproletarischen Klassen auf der Welt. Die Welt von heute ist konfliktgeladener. Die Welt von heute ist stärker proletarisiert, nur dass sich die Formen der Proletarisierung von denen, die wir im 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts kennenlernten, unterscheiden. Und die Proletarisierung dieses diffusen Proletariats, dieses Proletariats der Höherqualifizierten, nimmt nicht unbedingt die Gestalt von Gewerkschaften an. Das Modell Gewerkschaft hat in einigen Ländern seine zentrale Stellung verloren. Es entstehen andere Formen von Zusammenschlüssen für die Belange der Bevölkerung, der Beschäftigten und der Arbeiter. Was tun? – die alte Frage Lenins – Was sollen wir tun? Wir sind uns einig bei der Erklärung, was nicht stimmt, wir sind uns einig bei der Erklärung, was sich in der Welt verändert, doch können wir auf diese Veränderungen nicht reagieren, oder besser: Die Antworten, die wir früher hatten, sind unzureichend, denn sonst würde hier in Europa nicht die Rechte regieren. Irgendetwas fehlte in unseren Antworten und tut es auch heute noch. Irgendetwas fehlt in unseren Vorschlägen. Erlaubt mir, fünf bescheidene Anregungen vorzubringen, wie sich die Aufgaben, vor der die europäische Linke steht, gemeinsam gestalten liessen.

 

Ein neuer, gesunder

Menschenverstand

Die europäische Linke kann sich nicht damit begnügen, einen Befund zu erstellen und sich zu beklagen. Befund und Klage dienen zwar dazu, moralische Empörung zu erzeugen, und die Verbreitung der moralischen Empörung ist wichtig, aber sie erzeugen keinen Willen zur Macht. Die Klage ist kein Wille zur Macht. Sie kann die Vorstufe zum Willen zur Macht sein, aber sie ist kein Wille zur Macht. Die europäische Linke, die Linke weltweit muss angesichts dieses zerstörerischen, räuberischen, Natur und Mensch mitreissenden Strudels, der vom zeitgenössischen Kapitalismus angetriebenen wird, mit Vorschlägen oder Initiativen aufwarten. Die europäische Linke, ja die Linke in allen Teilen der Welt, muss einen neuen gesunden Menschenverstand entwickeln. Im Grunde genommen ist der politische Kampf ein Kampf um den gesunden Menschenverstand. Um die Gesamtheit von Urteilen und von Vorurteilen. Um die Frage, wie die Leute – der junge Student, die Fachkraft, die Verkäuferin, der Angestellte, der Arbeiter – auf einfache Weise die Welt ordnen. Genau das ist gesunder Menschenverstand. Die grundlegende Weltauffassung, mit der wir unser tägliches Leben ordnen. Die Art und Weise, wie wir das Gerechte und das Ungerechte, das Wünschenswerte und das Mögliche, das Unmögliche und das Wahrscheinliche bewerten. Die Linke weltweit und die europäische Linke müssen deshalb für einen neuen gesunden Menschenverstand kämpfen, der progressiv, revolutionär, universalistisch ist, der in jedem Fall aber einen neuen gesunden Menschenverstand darstellt.

 

Demokratie ist Handeln,

gemeinsames Handeln

Zweitens müssen wir uns den Begriff der Demokratie wieder ins Gedächtnis rufen. Die Linke hat immer die Fahne der Demokratie hochgehalten. Es ist unsere Fahne. Es ist die Fahne der Gerechtigkeit, der Gleichberechtigung, der Partizipation. Doch dafür müssen wir uns von der Vorstellung lösen, Demokratie sei eine rein institutionelle Tatsache. Demokratie – sind das Institutionen? Ja, das sind Institutionen, aber sie ist viel mehr als nur Institutionen. Bedeutet Demokratie, alle vier oder fünf Jahre zu wählen? Ja, aber es bedeutet viel mehr als das. Bedeutet es, ein Parlament zu wählen? Ja, aber es bedeutet viel mehr als das. Bedeutet es, das Prinzip des Machtwechsels einzuhalten? Ja, aber es bedeutet viel mehr als das. Das ist das liberale, verknöcherte Verständnis von Demokratie, in dem wir manchmal stecken bleiben. Demokratie – sind das Werte? Es sind Werte, Organisationsprinzipien für die Verständigung der Welt: Toleranz, Vielfältigkeit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit. Es sind also Prinzipien, es sind Werte, aber es sind nicht nur Prinzipien und Werte. Es sind Institutionen, aber es sind nicht nur Institutionen. Die Demokratie ist praktisch. Demokratie ist Handeln, gemeinsames Handeln. Demokratie ist im Grunde genommen wachsende Teilhabe an der Bewirtschaftung der gemeinschaftlichen Güter, die eine Gesellschaft besitzt. Demokratie herrscht dann, wenn wir an dem, was wir Bürgerinnen gemeinsam besitzen, teilhaben. Wenn wir als Gemeingut Wasser besitzen, dann bedeutet Demokratie, an der Bewirtschaftung des Wassers teilzuhaben. Wenn wir als Gemeingut die Sprache haben, dann bedeutet Demokratie die gemeinsame Pflege der Sprache. Wenn wir als Gemeingut die Wälder, den Boden, das Wissen haben, dann bedeutet Demokratie, dass die Bewirtschaftung, die Pflege gemeinsam stattfindet. Eine wachsende gemeinsame Teilhabe an der Bewirtschaftung des Waldes, des Wassers, der Luft, der natürlichen Ressourcen. Es bedarf einer Demokratie – und es gibt sie – im lebendigen und nicht im verknöcherten Sinn des Begriffs, und dies gelingt, wenn die Bevölkerung und die Linke die gemeinsame Bewirtschaftung der gemeinsamen Ressourcen, Institutionen, Rechte und Güter unterstützen und sich an ihr beteiligen.

Die alten Sozialisten der 70er Jahre sprachen davon, dass die Demokratie an die Tore der Fabriken klopfen müsse. Das ist eine gute Idee, aber es reicht nicht aus. Sie muss an die Tore der Fabriken, die Tore der Banken, die Tore der Unternehmen, die Tore der Institutionen, die Tore zu den Ressourcen, die Tore zu all dem klopfen, was den Menschen gemeinsam gehört. Unser Delegierter aus Griechenland fragte mich zum Thema Wasser, wie wir es in Bolivien angegangen seien, diese Grundfrage, diese Überlebensfrage, Wasser! Nun, was das Wasser betrifft, ein Gemeingut, das enteignet worden war, begab sich das Volk in einen «Krieg», um so das Wasser für die Bevölkerung zurückzugewinnen, und danach gewannen wir nicht nur das Wasser zurück, sondern führten einen weiteren sozialen «Krieg» und gewannen das Gas und das Öl und die Minen und den Telekommunikationssektor zurück, wobei noch viel mehr zurückzugewinnen ist. Doch in jedem Fall war dies der Ausgangspunkt, die wachsende Beteiligung der BürgerInnen an den gemeinschaftlichen Gütern, dem Allgemeingut, das eine Gesellschaft, eine Region besitzt.

 

Das ist doch verkehrte Welt?!

An dritter Stelle muss die Linke auch wieder ihre Forderungen nach dem Universellen, den universellen Leitbildern, den gemeinschaftlichen Gütern in den Vordergrund stellen. Die Politik als Gemeingut, die Partizipation als eine Beteiligung an der Bewirtschaftung der gemeinsamen Güter. Die Wiedererlangung des Gemeinschaftlichen als Recht: das Recht auf Arbeit, das Recht auf Ruhestand, das Recht auf kostenlose Bildung, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf saubere Luft, das Recht auf den Schutz von Mutter Erde, das Recht auf den Schutz der Natur. Es sind Rechte. Aber es sind universelle Gemeingüter, angesichts derer sich die Linke, die revolutionäre Linke, überlegen muss, welche konkreten objektiven Massnahmen sie ergreift und wie sie die Menschen mobilisiert. Ich las in der Zeitung, wie in Europa öffentliche Mittel eingesetzt wurden, um private Güter zu retten. Das ist absurd. Da wurde das Geld europäischer Sparer verwendet, um den Konkurs der Banken abzuwenden. Da wurde das Gemeinschaftliche verwendet, um das Private zu retten. Das ist doch verkehrte Welt! Es muss umgekehrt sein: die privaten Güter verwenden, um das Allgemeingut zu retten und zu fördern, und nicht das Allgemeingut, um die privaten Güter zu retten. Bei den Banken muss ein Prozess der Demokratisierung und der Vergesellschaftung ihrer Verwaltung stattfinden. Denn sonst werden die Banken Euch am Schluss nicht nur die Arbeit nehmen, sondern auch Eure Wohnung, Euer Leben, Eure Hoffnung, alles .?.?., und das darf nicht zugelassen werden.

 

Wieder Hoffnung aufbauen

Dabei müssen wir aber auch – in unserem Konzept als Linke – eine neue Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und der Natur einfordern. In Bolivien nennen wir dies aufgrund unseres indigenen Erbes «neue Beziehung zwischen Mensch und Natur». Präsident Morales sagt, die Natur kann ohne den Menschen existieren, der Mensch jedoch nicht ohne die Natur. Dabei darf man jedoch nicht der Logik der «Green Economy» verfallen, die eine scheinheilige Form des Umweltschutzes darstellt. Es gibt Unternehmen, die bei Euch EuropäerInnen als Naturschützer auftreten und für saubere Luft sorgen, doch dieselben Unternehmen liefern uns, dem Amazonasgebiet, Lateinamerika oder Afrika, die ganzen Abfälle, die hier erzeugt werden. Hier sind sie UmweltschützerInnen, dort werden sie zu UmwelträuberInnenn. Die Natur haben sie in einen weiteren Geschäftszweig verwandelt. Dabei ist ein kompromissloser Schutz der Umwelt weder ein neuer Geschäftszweig noch ein neues Unternehmenskonzept. Es muss wieder ein neues Verhältnis aufgebaut werden, das zwangläufig gespannt ist. Denn für einen Reichtum, der Bedürfnisse befriedigen soll, muss die Natur verändert werden, und bei der Veränderung der Natur verändern wir ihre Existenz, verändern wir ihr BIOS. Doch mit der Veränderung des BIOS zerstören wir oftmals im Gegenzug den Menschen und auch die Natur. Den Kapitalismus stört das nicht, denn für ihn ist es ein Geschäft. Uns aber, die Linke, die Menschheit, ja die Menschheitsgeschichte stört es sehr wohl. Wir müssen uns für eine neue Art der Beziehung stark machen, die vielleicht nicht unbedingt harmonisch, aber die doch wechselseitig ist und von der beide Seiten profitieren, der natürliche Lebensraum und der Mensch, seine Arbeit, seine Bedürfnisse.

Und schliesslich müssen wir ohne Frage die heroische Dimension der Politik einfordern. Hegel sah die Politik in ihrer heroischen Dimension. Und wohl in Anlehnung an Hegel sagte Gramsci, dass in den modernen Gesellschaften die Philosophie und ein neuer Lebenshorizont sich in einen Glauben in die Gesellschaft verwandeln müssten, beziehungsweise nur als Glaube im Innern der Gesellschaft existieren könnten. Dies bedeutet, dass wir wieder Hoffnung aufbauen müssen. Dass die Linke eine flexible, immer stärker geeintere Organisationsstruktur bildet, die in der Lage ist, bei den Menschen die Hoffnung neu zu beleben. Ein neuer gesunder Menschenverstand, ein neuer Glaube – nicht im religiösen Sinne des Wortes, sondern eine neue allgemeine Zuversicht, aus der heraus die Menschen heroisch ihre Zeit, ihre Energie, ihr eigenes Reich aufs Spiel setzen und sich engagieren.

 

Vereinigen, ausgestalten, fördern

Ich begrüsse, was meine Genossin vorhin ansprach, als sie sagte, dass wir hier 30 politische Organisationen zusammengebracht haben. Das ist toll! Es ist also möglich, zusammenzufinden. Es ist also möglich, den Stillstand zu überwinden. So geschwächt wie die Linke heute in Europa ist, kann sie sich den Luxus nicht leisten, zu ihren Gefährten auf Distanz zu gehen. Vielleicht gibt es Differenzen in 10 oder 20 Punkten, dafür aber Einigkeit in 100. An diesen 100 Punkten, in denen Übereinstimmung oder eine Berührung herrscht, sollte gearbeitet werden. Heben wir uns die restlichen 20 Punkte für später auf. Wir sind zu sehr geschwächt und können uns nicht den Luxus leisten, uns weiter Scharmützel zu liefern, zu streiten und uns dabei voneinander zu distanzieren. Wir sollten auch hier wieder einer Logik Gramscis folgen: vereinigen, ausgestalten, fördern.

Man muss die Macht im Staat übernehmen, man muss für den Staat kämpfen, doch vergessen wir niemals, dass der Staat weniger eine Maschine, sondern eher eine Beziehung ist. Weniger Materie, sondern eher Idee. Der Staat ist in erster Linie Idee. Ein Teil von ihm ist Materie. Materie ist er, wenn es um soziale Beziehungen, um Stärke, um Druck, um den Haushalt, um Abkommen, um Vorschriften, um Gesetze geht. Doch in erster Linie ist er Idee im Sinne des Glaubens an eine gemeinsame Ordnung, an einen Gemeinschaftssinn. Im Grunde ist der Kampf um den Staat ein Kampf um eine neue Art und Weise, uns zu vereinen, um eine neue Universalität. Um eine Art Universalismus, der die Menschen freiwillig vereint.

Doch hierfür müssen wir zuvor Überzeugungen gewinnen. Hierfür müssen wir zuvor die GegnerInnen mit Worten, mit gesundem Menschenverstand bezwungen haben. Hierfür müssen wir zuvor die herrschenden Auffassungen der Rechten mit unseren Argumenten, unserer Weltsicht, unseren moralischen Einstellungen zu den Dingen bezwingen. Und hierfür wiederum ist sehr harte Arbeit nötig. Politik ist nicht allein eine Frage des Kräftemessens oder der Mobilisierungsfähigkeit – der Zeitpunkt dafür kommt später. Politik ist zuerst Überzeugung, Gestaltung, gesunder Menschenverstand, Glauben, eine gemeinsame Idee und gemeinsame Urteile und Vorurteile hinsichtlich der Weltordnung. Und hier kann sich die Linke nicht allein mit der Einheit der linksgerichteten Organisationen begnügen. Sie muss sich in den Bereich der Gewerkschaften ausdehnen, welche die Stütze der Arbeiterklasse und die organische Form ihres Zusammenschlusses bilden. Wir sollten jedoch auch, liebe Genossinnen und Genossen, die völlig neuen Formen der gesellschaftlichen Organisation genau im Auge behalten. Die Neuordnung der sozialen Klassen in Europa und weltweit wird zu anderen Formen von Zusammenschlüssen führen, flexibleren und weniger organischen Formen, die sich vielleicht stärker auf das Gebiet und weniger auf die Arbeitsstätte beziehen. Notwendig ist dabei alles: Zusammenschlüsse an den Arbeitsstätten, gebietsbezogene Zusammenschlüsse, Zusammenschlüsse je nach Thematik, je nach Ideologie und so weiter. Es ist eine Reihe flexibler Strukturen, denen gegenüber die Linke in der Lage sein muss, sich gestalterisch einzubringen, Vorschläge zu unterbreiten, einend zu wirken und schliesslich voranzukommen.

Lasst mich im Namen des Präsidenten und in meinem eigenen Namen Euch zu dieser besonderen Begegnung gratulieren und mit allem Respekt und in aller Freundschaft den Aufruf an Euch richten: kämpft, kämpft, kämpft! Lasst uns, die anderen Völker, die an manchen Orten wie in Syrien, teils in Spanien, in Venezuela, in Ecuador, in Bolivien, auf sich gestellt kämpfen, nicht allein. Lasst uns nicht allein, wir brauchen Euch, und erst recht ein Europa, das nicht nur aus der Ferne sieht, was in anderen Teilen der Welt vor sich geht, sondern ein Europa, das wieder von Neuem beginnt, die Geschicke des Kontinents und die Geschicke der Welt mitzubestimmen.

Meine Glückwünsche und herzlichen Dank!

 

Roche hat’s wohl gewusst

roche logoBereits Anfang Juli gab Roche als Reaktion auf den Druck der Gewerkschaft Unia zu, dass es auf der Baustelle des Roche-Towers am Baseler Rheinufer zu Lohndumping im grossen Stil durch das polnische Subunternehmen Poko-AL gekommen ist. Natürlich gab sich Roche unglaublich bestürzt über den Vorfall. Weiter gestand der Pharmamulti ein, dass Poko-AL den Vorfall mit systematisch gefälschten Dokumenten zu vertuschen versucht habe. Die Unia drängte auf eine verbindliche Auflösung des Missstands und erreichte eine Lohnnachzahlung von insgesamt über 500?000 Franken für die Betroffenen sowie neue, korrekte Arbeitsverträge. Weiter setzt sich die Unia zum Ziel, dass die verbleibenden Lohnausstände schnellstmöglich beglichen werden.

Den Lohndumpingfall beim Roche-Tower schätzt die Unia als «typisch im Konstrukt, aber bemerkenswert in der Höhe der offenen Lohnforderungen» ein. Am Ende einer Subunternehmer-Kette stehe eine Gruppe Fassadenbauer, die statt den im Gesamtarbeitsvertrag vorgesehenen Löhnen nur noch etwas mehr als netto 12 Franken pro Stunde inklusive Ferien, dem Anteil des 13. Monatslohns, Spesen etc. erhielten. Dieser Betrag ist knapp drei Mal weniger als den Arbeitern vom Gesetz her zusteht. Für die Zeit seit Arbeitsbeginn im August 2013 berechnet die Unia einen Betrag von 1 Million Franken, der den Arbeitern insgesamt zu wenig ausbezahlt wurde. Die Unia geht von 27 betroffenen Arbeitern aus.

Zwei Arbeiter in einem Bett

In einem «10vor10»-Beitrag wurde ein polnischer Fassadenarbeiter porträtiert, der bald zum vierten Mal Vater wird und darum diesen Job auf der Roche-Baustelle angenommen hat. Er wohnt in einer Wohnung mit fünf anderen Arbeitern, schläft im Bett mit einem weiteren Arbeiter, arbeitet jeden Tag zwölf Stunden – bis zu 70 in der Woche – und erhält dafür 12 Franken pro Stunde, ohne Zuschläge für Feiertage oder Wochenendarbeit. Laut Gesamtarbeitsvertrag wären 26 Franken plus Zuschläge vorgeschrieben. Als auf der Baustelle eine Kontrolle durch die Behörden stattfand, hatte der Kontrolleur keinen Dolmetscher dabei und konnte nur mit dem Vorarbeiter sprechen. Dieser gab natürlich an, dass die Arbeiter den gesetzmässigen Lohn von 26 Franken bezahlt bekommen. Darum sieht es den Daten des Arbeitsamts zufolge danach aus, als wäre auf der Baustelle alles mit rechten Dingen zu und her gegangen.

Als die Unia den Fall publik machte, sah es zuerst nicht danach aus, als wäre von seiten der beteiligten Firmen ein Entgegenkommen zu erwarten. Es wurde weitergearbeitet, als wäre nichts geschehen. Die unzufriedenen Arbeiter der Firma Poko-AL wurden unter Druck gesetzt. Als einige von ihnen die Schnauze voll hatten, reichten sie Anzeige wegen Nötigung und Betrug ein und gingen in den Streik – erst danach kam die Reaktion von Roche. Allerdings schob Roche implizit den Subunternehmen die Schuld in die Schuhe.

Dass Roche von den unzumutbaren Arbeitsbedingungen nichts gewusst hat, ist jedoch unwahrscheinlich. Das Pharma-unter-nehmen übernahm selbst die Bauherrschaft, statt ein Bauunternehmen damit zu beauftragen. Zudem wurde die polnische Firma Poko-AL, die die polnischen Arbeiter anstellte, von einer deutschen Fassadenbaufirma beauftragt, die wiederum direkt Roche unterstellt ist. Die Anstellungsverhältnisse auf der Baustelle sind also keineswegs unübersichtlich.

Zwar hat sich die Unia für die Arbeiter gewehrt, die Art und Weise, wie von seiten der Gewerkschaft über den Vorfall gesprochen wird, zeugt jedoch nicht von einer konfrontativen Haltung derselben. Ein Gewerkschaftsfunktionär zeigte sich etwa erstaunt, dass ein Unternehmen wie Roche auf dieser «Vorzeigebaustelle» einem solchen Fall von Lohndumping nicht früher nachgegangen sei – als würde es sich hier nur um ein Versehen eines im Grunde vorbildlichen Unternehmens handeln.

Aus dem vorwärts vom 18. Juli 2014 – unterstütze uns mit einem Abo

 

 

 

 

Sócrates: Kämpfer, nicht Fussballer

PIXA-04012008-1163Das ganze Spektakel um die Fussball-WM in Brasilien hat gezeigt, dass der moderne Fussball zu einer Ware mutiert ist, bei der es in erster Linie um Geld und Profit geht. Ein Blick in die Geschichte des brasilianischen Fussballs zeigt aber, dass gerade in diesem populären Sport ein revolutionäres Potential liegt. Das Beispiel von Sócrates und der «corinthianischen Demokratie».

Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira (1954 – 2011) – kurz Sócrates – sah sich nicht als Fussballer. Zu seiner Karriere sagte er einmal: «Ich wurde Profi, um mir das Benzin, das Bier, die Uni zu bezahlen. Ich wollte nicht Fussballer, sondern Arzt werden.» Als er seinen ersten Profivertrag für Botafogo aus Rio de Janeiro unterzeichnete, schloss er eine Abmachungen mit den Managern: Keine Trainings, nur Spiele. Denn die Zeit benötigte er, um Medizin zu studieren. Tatsächlich schloss er sein Studium ab und wurde nach Karriereende in São Paulo Kinderarzt. «O Doutor» (der Arzt), wie er genannt wurde, hatte Prinzipien. Er verstand sich nur insofern als Fussballer, als dass er in dieser Position den einfachen Leuten eine Stimme geben konnte. Und so kämpfe er – als Fussballer – gegen das 1964 durch einen Staatsstreich eingeführte Militärregime.

Widerstand im Militärstaat

Die blutigsten Jahre des Militärstaates waren von 1968 bis 1970, denjenigen Jahre, während denen der Staat die repressivsten Instrumente anwandte (Folter, Entführungen, Infiltrationen). All dies wurde aber demagogisch vom Erfolg des brasilianischen Teams an der WM in Mexiko 1970 verschleiert. Das Fussball-Team bildete eine soziale Institution mit grossem Einfluss bei der Bevölkerung. Sócrates sagte Jahre später: «Wenn das Nationalteam von Pelé damals etwas gesagt hätte, sich positioniert hätte, wäre die Geschichte wohl anders ausgegangen.»

Während den 70er Jahren erlebte die brasilianische Wirtschaft einen massiven Rückgang. Der gesellschaftliche Druck stieg, das Militärregime war gezwungen, mit der Repression und der Zensur zurückzufahren. Und so verwandelten sich die Fussballplätze und die Stadien zu einem politischen Laboratorium. Der Fussball wurde einer der wenigen Bereiche des Landes, in dem gewählt wurde, in dem Opposition entstand, in dem ganze Tage damit verbracht wurden, demokratisch über das Schicksal einer beschränkten Anzahl von brasilianischen Menschen zu entscheiden: Die Spieler und die ArbeiterInnen des Sport Club Corinthians Paulista bauten die «corinthianische Demokratie» auf – eine Entwicklung, die aus der heutigen Sicht des modernen Fussballs kaum denkbar ist.

Selbstverwaltung als Kampfinstrument

«Alles, was das Team angeht, wird von heute an gemeinsam und demokratisch entschieden» schlug die Nummer 8 von Corinthians vor: «Ein Mitglied, eine Stimme». Alle entschieden mit, von den wichtigsten Spielern bis zum Lagerist oder dem Masseur des Clubs, und alle hatten die Möglichkeit, sich auszusprechen. Auch der Clubleiter hatte nur eine Stimme. Ihm kam sogar die Aufgabe zu, die getroffenen Entscheidungen dem Präsidenten und dem Verwaltungsrat mitzuteilen. Dieser Mechanismus begann langsam aber sicher alle Bereiche des Clublebens zu bestimmen: Die Spielertransfers, die Clubinvestitionen, die Verteilung der Clubeinnahmen, das Sponsoring, die Löhne, die Siegprämien bis hin zur Abschaffung der Team-Besammlungen am Vortag des Spieles. Dadurch wurde die Verantwortung für das Funktionieren des Clubs und des Fussballteams gleichwertig verteilt. Der von Corinthians eingeschlagene Weg der Selbstverwaltung wurde ein Laboratorium der wiederzuerlangenden Demokratie, ein kollektives Partizipationsmodell und ein politischer Prozess, der zum Vorbild für alle Unterdrückten des brasilianischen Militärregimes wurde – also ein Kampfinstrument, das weit über den Fussballclub hinaus reichte.

Durch den gesellschaftlichen und medialen Impact gelang es der «corinthianischen Demokratie», die Leidenschaft für einen populären Sport und die Notwendigkeit des Kampfes für ein anderes Brasilien zusammenzubringen. Sie wurde gleichzeitig Orientierungspunkt der Protestbewegungen, der gewerkschaftlichen Kämpfe und der Streiks auf den öffentlichen Plätzen sowie der progressiven Kultur des Landes.

Die Flucht

Das Datum des 31. März 1983 steht für die Tatsache, wie sich der Fussball und das Politische bei Sócrates durchkreuzten. Nach dem Staatsstreich von 1964 wurde die direkte Wahl des Präsidenten abgeschafft. Nun sollte ein landesweites Referendum die Wahl des Präsidenten durch die Bevölkerung wieder einführen – also faktisch ein Referendum gegen die Diktatur. Die «corinthianische Demokratie» und Sócrates stellen sich auf den öffentlichen Plätzen auf die Seite der Protestierenden und prägten die Bewegung «Diretas Jà» (direkte Wahlen – sofort). Die politische Unterstützung symbolisierte Sócrates auf dem Feld mit kurzen, gelben Socken – der Farbe der Protestbewegung – über den weissen, langen Stulpen, die vom Reglement vorgesehen sind. Als ihn die Journalisten fragten «organisiert ihr gerade die Revolution?» antwortet er: «Nein, wir stellen nur die Dinge wieder richtig.»

Am 25. April 1984 lehnte es das Parlament ab, die direkte Präsidentenwahl wiederherzustellen. Sócrates hatte angekündigt, das Land zu verlassen, falls die Motion für das Referendum im Parlament nicht durchkomme. Die Worte des Teamführers der brasilianischen Nationalmannschaft reichten aber nicht, um die ParlamentarierInnen zu überzeugen. Und so verliess Sócrates Brasilien in Richtung Italien.

Eine WM für wen?

Sócrates bezeichnete sich weder als Krieger noch als Botschafter des Kampfes, sondern als Brasilianer, der an der Seite anderer Leute kämpfte. Er sprach kaum über Fussball, liebte es aber, sich kollektiv über Politik auseinanderzusetzen. Wenn er dann mal über Fussball redete, implizierten seine Worte auch immer politische Werte: «Der Fussball ist ein kollektiver Sport. Je grösser die kollektive Kraft, die Freundschaft, die gegenseitige Hilfe und die kollektive Verbundenheit, desto grösser sind die Chancen zu gewinnen.»

2007, als Brasilien die Fussball WM 2014 zugewiesen wurde, schrieb «O Doutor» in der brasilianischen Tageszeitung «Folha de S. Paulo»: «Was sie absichtlich ignorieren – und sie wollen, dass wir es auch ignorieren – ist das Potential dieses mit den Füssen gespielten Phänomens: Ein Potential der gesellschaftlichen Transformation. Wenn dieser Aspekt des Fussballs in seiner Deutlichkeit aufblühen würde, würde er problemlos die aktuelle Realität verändern können: Kulturen und Menschen zusammenbringen, ein Bewusstsein bilden, und sogar als Mittel für die Entwicklung und die Gleichheit aller dienen. Die WM für wen? Für diejenigen, die ihre Stimmen erheben werden, für diejenigen, die die Strassen besetzen werden und anstelle des Opiums eines Balles Gesundheit, Bildung und Transport für alle fordern werden. Das, was ich hier schreibe, habe ich schon immer gesagt, mit der geballten Faust, mit dem Lächeln, ohne je einen Schritt rückwärts getan zu haben.»

 

Rechtsextreme auf dem Vormarsch

RASSEMBLEMENT DU FRONT NATIONAL AU PALAIS ROYALMit dem Doppelgesicht Marine, die Tochter, und Jean-Marie, der Vater, präsentiert sich der rechtsextreme französische Front National (FN) seinen WählerInnen seit der Inthronisierung von Marine Le Pen als neue Hoffnungsträgerin der Unterschichten, «qui en ont assez» («welche die Schauze voll haben»). Mit ihrer parteiinternen Strömung «Bleu Marine» und die Anlehnungen an Jeanne d’Arc, die von Gott höchstpersönlich dazu auserwählt sei, la douce France vor den «miesen, fiesen dunkelhäutigen Ausländern» zu retten, hat sie nicht nur eine ganze Männerriga von Le-Pen-Epigonen in der eigenen Partei «links» überholt, sondern den FN zur «stärksten der Partei’n» gemacht. Den Namen der Formation hatte der Parteigründer Jean-Marie Le Pen, in den Sechzigerjahren Führer der Winzigpartei «Parti des Forces nouvelles» und des bedeutungslosen neonazistischen «Ordre nouvau», den vereinigten Kräften der Résistance gestohlen, die schlicht und einfach vergessen hatten, die Bezeichnung unter Rechtsschutz zu stellen!

Und nun scheint der Tochter die Häutung gelungen zu sein. Wenn da nur nicht immer Papa Le Pen dreinfunken würde, der einfach den Latz nicht halten kann! Aber eben, die ollen Gamellen Antisemitismus, Geschichtsrevisionismus und Rassismus bilden halt im proletarischen Prekariat und in ländlichen Gegenden immer noch den «fond de commerce». So sagte er zum Beispiel, er sei gar nicht rassistisch, denn es sei doch logisch, dass Schwarze beim Schnelllauf und Basketball immer gewinnen, mit so langen Beinen! Für die wiederholte Aussage, die Gaskammern, falls sie überhaupt existiert hätten, «seien ein Detail der Geschichte», wurde er mehrmals rechtskräftig verurteilt. Und nun hat er sich mit einem seiner schärfsten Kritiker, mit dem bekannten jüdischen Sänger Patrick Bruel angelegt, aus dem er eine «fournée» machen werde, eine «Ofenladung», womit er an das schreckliche Wortspiel über den früheren sozialistischen Minister Durafour angeknüpft hat, mit dessen Namen er sich das Wortspiel «Durafour crématoire» («le four crématoire», der Verbrennungsofen) angeeignet hat. Papa Le Pen hat auch selbst zugegeben und sich sogar damit gebrüstet, im Algerienkrieg bis 1961 eigenhändige «la manivelle» bedient zu haben. «La manivelle» ist der sarkastische Übername des damals am meisten verbreiteten Folterinstruments gegen den FLN, die algerische Befreiungsbewegung. Ein Apparat mit einer Kurbel, mit dem den Opfern in Verhören Stromstösse, die im schlimmsten Fall tödlich waren, versetzt werden konnten.

 

Der Hitlergurss und andere politischen Frivolitäten…

Aber man soll nicht etwa glauben, es gebe nur im Ausland Sympathisanten von solchen Dreckskerlen. Nein, auch in der schönen Schweiz, von Blochers Sünneli Tag und Nacht beschienen, wimmelt es davon. Im August 2010 zeigte ein Mann auf dem Rütli den Hitlergruss und wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Nun hebt das Bundesgericht die Entscheidung wieder auf: «Der Rechtsextreme habe nur seine Ideologie gezeigt, aber nicht dafür geworben.» Damit ist klar: Die Geste ist in der Schweiz nicht grundsätzlich verboten. In Tschechien, Österreich und in Deutschland gilt der Hitlergruss dagegen als Straftat. Wenn der Neonazi «seine Ideologie nur gezeigt», aber «nicht dafür geworben hat», was wollte er denn zeigen? Für den 1. August dieses Jahres hier ein paar Vorschläge für PNOS-Mitglieder, falls diese in Beweisnotstand kommen, was sie denn da «zeigen« wollten: erstens, wie hoch ihre Sonnenblumen diesen Sommer geworden sind; zweitens, wie hoch der Schnee im Winter im Oberengadin war; drittens, wie hoch ihre bevorzugte Mannschaft bei der Fussball-WM gewonnen hat; viertens, wie gross ihr ältester Sohn jetzt schon ist; fünftens, wie gross das Bier war, das sie vor der Abreise an die 1.-August-Feier getrunken haben.

 

Nazi-Embleme

Desgleichen ist das Tragen von Nazi-Emblemen oder das Schwingen von Hakenkreuz-Fahnen nicht mehr verboten, «wenn nicht damit geworben wird». Strafrechtsprofessor Niggli von der Uni Freiburg dazu: «Ein Skandal!» Denn von nun an steht es im Ermessen jedes Polizisten, ob der Demonstrant auf dem Rütli «das Kreuz mit dem grossen Haken für den kleinen Mann» (Bert Brecht) mitträgt, weil er dafür für die Nazi-Ideologie werben will, oder ob er das doofe Ding einfach so mehr oder weniger zufällig mitschleppt, weil es in der Hohlen Gasse am Strassenrand herumlag. Man kann sich bereits folgenden Dialog vorstellen. Polizist: «Sie tragen das Hakenkreuz durch die Gegend! Tragen Sie die Fahne einfach nur so mit sich herum, oder wollen Sie damit etwas ausdrücken?» Nazi: «Waas? Ich? eine Hakenkreuzfahne?» Er schaut der Stange nach hinauf, erschrocken: «Hol’s der Deibel! Tatsächlich! Welcher Dreckskerl hat mir das miese Teil angehängt?! Warten Sie nur, Herr Oberwachtmeister, dem werd ich’s zeigen, wenn ich ihn erwische!»

 

Nazi als Offiziere in der Swiss Army

Und da aller guten, das heisst schlechten Dinge drei sind, hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass ein Rechtsextremer, der teilweise auch Nazi-Ideen gutheisst, unter der Schweizer Fahne die RS machen darf! Vor einigen Jahren ist eine Bombe geplatzt: Zahlreiche Schweizer Rekruten, die «weitermachen» wollen, sind Neonazis! Ein Kommandant äusserte dazu: «Wenn Sie uns die auch noch wegnehmen wollen, haben wir bald gar keine mehr, die Offiziere werden wollen…» Da könnte man ja gleich das Schweizer Kreuz auf unseren Militärfahnen durch Hakenkreuze ersetzen und unsere Offiziere mit SS-Dolchen mit dem eingeäzten Wahlspruch «Meine Ehre heisst Treue» herumstolzieren lassen. Und das alles, wie zufällig natürlich, pünktlich nach dem Wahlsieg der rechtsextremen Parteien in drei europäischen Ländern. Das erinnert an eine dunkle Epoche unserer Geschichte: Die Schweiz anerkannte schon 1939 voreilig die Franco-Diktatur in Spanien.