Am Rande der Zeit oder Bebels Tod

Hans Peter Gansner. Am 13. August 2013 wird sich das Todesdatum des sozialistischen «?Arbeiterkaisers?» August Bebel zum 100. Male jähren. August Bebel starb in Bad Passugg ob Chur. Die Gedenkvorbereitungen sind jetzt schon in vollem Gange. Ich habe aus diesem Anlass ein Theaterstück geschrieben, das eben als Buch herausgekommen ist, und ich im Folgenden den vorwärts-LeserInnen vorstelle.

Aus dem vorwärts vom 23. Juni. Unterstütze uns mit einem Abo!bebel

Wie lebten am Vorabend des Ersten Weltkriegs Jugendliche in unseren Gegenden? Wie waren die Familien-, Lehr- und Arbeitsbedingungen damals in Graubünden? Was taten die damaligen Arbeiterorganisationen? Diese spannenden historischen Themen stelle ich in meinem neuen Stück «Bebels Tod» lebendig dar und möchte damit die Bündner Vergangenheit anhand eines beinah vergessenen Kapitels Sozialgeschichte wieder zu dramatischem Leben erwecken. Denn in Passugg verstarb am 13. August (!) 1913 der grosse deutsche Arbeiterführer August Bebel, dem man zu seiner Zeit die halb spöttischen, halb respektvollen Übernamen «Arbeiter-Kaiser» und «Roter Kaiser» verlieh, und den man seiner markanten Gesichtszüge wegen mit einem «ehrwürdiger alten Adler» verglich. Nach der längst fälligen Götterdämmerung des Personenkults mit den «grossen Männern» der Geschichte seit dem Ende des 20. Jahrhunderts scheint es endlich angezeigt, diese auch einmal in Gesellschaft der «kleinen Leute» zu zeigen; vielleicht werden sie so ihre Bedeutung von neuem, aber diesmal ganz unpathetisch, als gewöhnliche Menschen wie du und ich nämlich, als Menschen von hier und heute unter Beweis stellen können. Diese «Grossen» bekommen dann sozusagen eine zweite Chance, nachdem man sie mit monströsen Pharaonen-Begräbnissen beerdigt zu haben glaubte. Immerhin wurde August Bebels Beisetzung 1913 in Zürich zum «grössten Begräbnis aller Zeiten in der Stadt Zürich» mit einer halben Million Menschen im Trauerzug. (Siehe den im Buch abgedruckten Essay von Urs Kälin «Das Begräbnis des ‹roten Kaiser›»). Und alle, welche die Gewalt kennen, mit der die Rabiusa, die «Wütende» also, durch ihre enge Schlucht aus dem Schanfigg herunter und hinaus Richtung Churer Rheintal ins Freie drängt, werden das Rollen, Rauschen, Zischen, Gischten, Donnern und Toben dieses einmaligen und bis heute undomestiziert gebliebenen Bergbachs in diesem historischen Drama über den «Shadow Emperor of the German Workers», wie der Historiker W. H. Maehl schrieb, wiedererkennen.

 

Der «Arbeiter-Kaiser» in der Rabiusa-Schlucht

August Bebel gehörte einst zu den bekanntesten deutschen Politikern. Als Gegenspieler Bismarcks und des Kaisers Friedrich Wilhelm II., der in seinem Wahn den Ersten Weltkrieg lostrat, machte er zwar Weltgeschichte, konnte aber ihren fatalen Lauf nicht ändern, obwohl er bis in seinen letzten Lebenstagen in Bad Passugg oben mit ganzer Kraft für die Erhaltung des Weltfriedens kämpfte. Seine Briefe aus Passugg legen ein beredtes Zeugnis ab von einem Menschen, der im eigentlichen Sinne bis zum ultimativen Herzschlag versuchte, das Schlimmste zu verhindern. Dass dem Soldatensohn, der 1840 in extrem ärmlichen Verhältnissen geboren wurde, einst diese weltgeschichtliche Rolle zukommen würde, hätte ihm wohl niemand an seiner Wiege prophezeit. Diese bestand nämlich aus nichts anderem als einem Haufen aus feuchtem Stroh und befand sich in einer Kasematte der Kaserne von Deutz-Köln, wo sein Vater und wenig später sein Stiefvater förmlich verhungerten. Bebel, später gelernter Drechsler geworden, schloss sich 1860 der Arbeiterbewegung an und wurde einer ihrer begabtesten Redner. Schon 1867 wurde er als Mitbegründer der Sozialdemokratischen Deutschen Arbeiterpartei (SPD) in den Deutschen Bundestag gewählt. Wegen der Verfolgung durch die Bismarck‘schen Sozialistengesetze psychisch und physisch geschwächt, weilte er im Alter wegen seines Herzleidens immer häufiger in der Schweiz. Mit seinem Weltbestseller «Die Frau und der Sozialismus» wurde er Multimillionär. Sein Zürcher Freund, der Arzt Ferdinand Simon, begleitete ihn immer öfter zu Kuraufenthalten in verschiedene Kurorte Graubündens, gegen Schluss zunehmend nach Passugg, was dem greisen Kämpfer für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Menschenrechte grosse Linderung brachte. Passugg war damals berühmt für die Heilung von Herzleiden, und man hatte bei Bebel Herzrhythmusstörungen festgestellt. Die Schweiz und Passugg war ihm so «eine Art zweiter Heimat geworden», wie er 1912 dem sozial engagierten Dichter des Naturalismus, Gerhart Hauptmann, schrieb. Am 13. August, nach einem knappen Monat Kur, entschlief er 1913 friedlich während seines letzten Kuraufenthaltes. Und ganz bestimmt wird niemand dem Autor des vorliegenden Theaterstücks nun deshalb einen Vorwurf machen, wenn er den Tod dieses bedeutenden Menschen, eines der bedeutendsten des 19. Jahrhunderts, etwas dramatisiert hat, um die Zerrissenheit der Epoche und die Bedrohung, die über ihr lag, dramaturgisch schärfer hervortreten zu lassen.

Bebel warnte früh vor der Kriegsgefahr.?.?.

Einige könnten vielleicht mäkeln, es sei keine besonders gute Reklame für Passugg, dass Bebel dort gestorben sei. Aber man kann doch mit Fug und Recht sagen, dass er weniger lang gelebt hätte, wenn ihn, den Nimmermüden, Immergestressten, sein Freund und Arzt Ferdinand Simon, sein Schwiegersohn, nicht hin und wieder von Zürich, dem internationalen Unruheherd, ins ruhige Passugg hinauf verfrachtet hätte. Leider ist sein Arzt und Schwiegersohn dann noch vor ihm gestorben. Vor den Vätern sterben zu gewissen Zeiten nicht nur die Söhne, sondern vor den Patienten auch die Ärzte. Bis an sein Lebensende hatte August Bebel vor der drohenden Kriegsgefahr gewarnt; er schrieb: «Alsdann wird in Europa der grosse Generalmarsch geschlagen, auf den hin 16 bis 18 Millionen Männer, die Männerblüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen, gegeneinander ins Feld rücken. Was wird die Folge sein? Hinter diesem Krieg steht der Massenbankrott, steht das Massenelend, steht die Massenarbeitslosigkeit, die grosse Hungersnot…» Dies schrieb Bebel, visionär, schon im November 1911. Leider vergebens: ein Rufer in der Wüste .?.?.

Das Leben der Bündner Jugend am Vorabend des Ersten Weltkriegs.?.?.

Sicher haben die (damals noch weitgehend) unberührte Landschaft Graubündens und die pralle, lebensvolle Bergwelt um die Rabiusa-Schlucht, nicht zuletzt aber auch die lebenslustig zu Tale hüpfenden, gischtenden, übermütig schäumenden, rauschenden und singenden Fluten der Rabiusa zu August Bebels lebensbejahender Philosophie bis zum Schluss und trotz aller Schatten, die sich über seiner Gesundheit und über der Weltpolitik zusammenbrauten, wesentlich beigetragen. So gesehen wäre er vielleicht ohne die Kur in Passugg und ohne das «Passuggerwasser», (wie man es früher in Anlehnung zum weltweit bekannten «Vichywasser» nannte) noch früher gestorben… (Auch wenn die Rabiusa natürlich zu gewissen Zeiten auch recht «rabiat» sein kann und dann einem Leidenden eventuelle eher wenig Trost bringt…) Die Dialektik dieser dauernd wechselnden Wassermelodie, zwischen Angst und Hoffnung, Wut und Beruhigung, Zorn und Gewissheit changierend, spielt durch die dramaturgische Konzeption des Stücks: Komödie, Farce und Tragödie durchdringen sich, wie im echten Leben eben…! Der allerletzte Brief, der letzte Text von deiner Hand in der mehrbändigen, viel hundertseitigen Gesamtausgabe seiner Schriften (das Gesamtwerk Bebels erscheint im saur-Verlag, München), ein Brief, den er in Bad Passugg geschrieben hat, zeugt noch von ungebrochenem Unternehmungsgeist, beflügelt vom Geist des «Theophil»- und «Helene»-Mineralwassers: der 73-Jährige bereitete in der Tat bis zur letzten Minute Reisen und Kongresse vor.

Bebel war der Vereiniger

Jean Ziegler schreibt zum Stück: «Am Saum der Zeit oder Bebels Tod von H.P. Gansner ist ein Meisterwerk! – Willy Brandt hatte mir vor Jahren Bebels Biografie und fast alle Reden geschenkt. Er trug auch Bebels Uhr. Bebel war der Vereiniger, das lebende Beispiel der kämpfenden Sozialdemokratie. Hätte er 1914 noch gelebt, hätte es keinen ‹Burgfrieden›, keinen Zerfall der Zweiten Internationale und wahrscheinlich (fast sicher) keinen Zweiten Weltkrieg gegeben. Dass H.P.Gansner ihn mit einem so klugen, brillanten Theaterstück ehrt, finde ich hervorragend und für unsere Zeit sehr nützlich.»

«Am Rand der Zeit oder Bebels Tod» von Hans Peter Gansner, Edition SIGNAThUR, Dozwil. Herausgegeben von Bruno Oetterli Hohlenbaum, Buchgestaltung: Belinda Oetterli, mit einem Essay von Dr. Kälin vom Schweizerischen Sozialarchiv, Zürich, 128 Seiten mit diversen zeitgenössischen Abbildungen.
21.00 Franken/16,80 Euro. ISBN 978-3-908141-33-4. 

Bezugsquellen?:
Im Buchhandel auf Bestellung oder direkt bei ­EDITION SIGNAThUR,
CH 8582 Dozwil TG,
E-Mail: signathur@gmx. 

 

1072-mal weniger!

lohnschere1072-mal weniger!

Die zehn Prozent im tiefsten Lohnsegment verdienen 1072-mal weniger als die Topverdiener in der Schweiz. Während über 400?000 Lohnabhängige mit ihrem Gehalt von unter 4000 Franken an der Armutsgrenze leben, bekommen wenige Spitzenverdiener durchschnittlich 42?400 Franken, selbstverständlich pro Monat, eine knappe halbe Million pro Jahr?! So viel zur kapitalistischen «?Gerechtigkeit?».

Aus dem vorwärts vom 23. Juni. Unterstütze uns mit einem Abo.

Horcht den Worten des Klassenfeinds: «Die Schweiz ist das Musterbeispiel dafür, dass ein liberales Arbeitsrecht und die freie, dezentrale Lohnbildung nicht automatisch zu hoher Ungleichheit führen», steht auf der Homepage von Avenir Suisse. Das ist die Denkfabrik der KapitalistInnen, ein «unabhängiger Think-Tank» nach angelsächsischem Vorbild für die gesellschafts- und wirtschaftspolitische Entwicklung des Standorts Schweiz. Avenir Suisse vertritt «eine marktwirtschaftliche Position» und orientiert sich an einem «liberalen Welt- und Gesellschaftsbild».

Und mit Blick auf kommende Volksbefragungen behaupten die VertreterInnen der neoliberalen Barbarei: «Die (noch) hohe Flexibilität des Schweizer Arbeitsmarktes hat entscheidenden Anteil daran, dass das Gros der Bevölkerung sein Auskommen selber bestreiten kann. Die Politik verkennt dies zusehends. Eingriffe in den Arbeitsmarkt – sei dies über Mindestlöhne, Vorschriften zur Lohnstruktur innerhalb der Unternehmen oder die Einführung einer Sozialplanpflicht – würden diesen Vorteil der Schweiz über kurz oder lang beschädigen und dadurch den Druck zu mehr fiskalischer Umverteilung nochmals verstärken. Es gilt, diesen Teufelskreis zu verhindern.»

Die Lohnschere öffnet sich weiter

Gemeint sind die Mindestlohn-Initiative der Gewerkschaften, die wohl im Februar 2014 zur Abstimmung kommt, und natürlich die «1:12-Initiative» der JUSO, über die im November 2013 ein Ja oder Nein in die Urne zu legen ist. Die JUSO-Initiative fordert, dass niemand in einem Jahr weniger verdienen soll als der bestbezahlte Manager im gleichen Betrieb in einem Monat. Sicher, ihre Annahme bedeutet nicht die Überwindung des Kapitalismus. Doch die Aussagen von Avnir Suisse machen deutlich, dass die Initiative die KapitalistInnen zumindest nervös macht. So nervös, dass sie Milliarden in die Gegenkampagne reinbuttern werden.

Wie die Realität der Löhne in der Schweiz aussieht, ist im soeben erschienen Abstimmungsbuch «Lohnverteilung und 1:12-Initiative», erschienen im Verlag «edition 8» und herausgegeben vom «Denknetz» und der «JUSO», bestens nachzulesen. Die Löhne in der Schweiz sind seit Ende der 1990er Jahre sehr ungleich gewachsen. Wenig überraschend ist die Tatsache, dass die hohen Gehälter bis im 2010 «preisbereinigt um mehr als einen Drittel gewachsen» sind. Im Gegensatz dazu, sind die tiefen und mittleren Löhne nur geringfügig gestiegen. So ist weiter im Kapitel «Immer mehr fürs reichste Prozent» folgendes zu lesen: «Im Jahr 2010 hatten diese ArbeitnehmerInnen preisbereinigt nur zwischen sieben und neun Prozent mehr in der Tasche als 16 Jahre zuvor. Das ungleiche Wachstum führt dazu, dass sich die Lohnschere in der Schweiz weiter öffnet.» Wie frappant diese Unterschiede sind, machen folgende Zahlen deutlich: Das bestverdienende Prozent bezog 2010 mindestens (!) 23?400 Franken und durchschnittlich sogar 42?400 Franken im Monat. Ihnen gegenüber bezogen die am schlechtesten verdienenden zehn Prozent maximal 3953 Franken für eine Vollzeitstelle; 1072-mal weniger! Auch der Medianlohn bewegte sich mit 5979 Franken in einer anderen Welt. 437?000 Lohnabhängige erhalten einen Lohn von unter 4000 Franken, was vielen verunmöglicht, anständig leben zu können. Acht Prozent aller Beschäftigten in der «reichen» Schweiz sind von Armut gefährdet. Dies steht in scharfem Kontrast zu den Spitzenlöhnen, die in den letzten Jahren explodiert sind.

An der Spitze der ungleichen Lohnentwicklung stehen die Topmanager, deren Löhne in den letzten zwei Jahrzehnten regelrecht explodiert sind. Die Höchstverdienenden bezogen zuletzt durchschnittlich 6.78 Millionen oder das 93-fache des Medianlohnes. Es sei noch darauf hingewiesen, dass diese Damen und Herren kurz vor dem Ausbruch der Finanzkrise im 2007 rund 10.4 Millionen Franken abgesahnt haben.

Fakten, die zu denken geben. Und vielleicht sollte man für einmal die Abstimmungsunterlagen nicht gleich ins Altpapier schmeissen, auch wenn – wie bereits erwähnt – mit einem Ja zur «1:12 Initiative» der Kapitalismus noch lange nicht überwunden ist.

 

JUSO und Denknetz (Hrsg.): «Lohnverteilung und 1:12-Initiative. Gerechtigkeit und Demokratie auf dem Prüfstand». Verlag edition8, 152 Seiten, Mai 2013.

Durchbruch oder Kontinuität?

220px-RWB_Industriegebiet.svgAnfang Juni haben die Gewerkschaften und Unternehmen der MEM-Branche (Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie) einen neuen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) unterzeichnet, in dem erstmals nach 76 Jahren Mindestlöhne festgelegt sind. Die Gewerkschaft Unia spricht von einem «?historischen Durchbruch?». Doch der neue Vertrag weist vielmehr auf die Ausweglosigkeit der Gewerkschaftsstrategie und auf die fehlenden Arbeitskämpfe in der Industrie hin.

Aus dem vorwärts vom 21. Juni. Unterstütze uns mit einem Abo!

Für den 28. Juni 2013 war eine grosse Industrie-Demo in Bern angekündigt. Mit dem Druck der Strasse sollten die Unternehmen der MEM-Industrie gezwungen werden, einen neuen GAV für die Branche zu unterzeichnen, der Mindestlöhne beinhaltet. Soweit wird es aber nicht kommen. Es reicht das «Verhandlungsgeschick» des Industrieverantwortlichen der Gewerkschaft Unia, Corrado Pardini, um die Unternehmen zum Einlenken zu zwingen. Nach langen Diskussionen, einem kurzfristigen Abbruch der Verhandlungen Ende April durch die Unia und der Vermittlung des früheren Seco-Direktors Jean-Luc Nordmann seies endlich gelungen, einen GAV mit Mindestlöhnen zu unterzeichnen, so die Unia. Es wird von einem «Riesenschritt» und «historischem Durchbruch» gesprochen. Unia-Mitgründer Vasco Pedrina geht sogar noch weiter und stellt einen Vergleich an mit der Durchsetzung des Rentenalters 60 auf dem Bau.

Mindestlöhne und Mindestlohn-initiative

Die Regulierung der Ausbeutungsrate der Arbeitskraft, sprich die Lohnfrage, ist wieder auf der Tagesordnung gewerkschaftlicher Politik. Gründe dafür gibt es einige: Die Personenfreizügigkeit und die äusserst bescheidenen flankierenden Massnahmen, die EU-Krise, die ständig wachsende globale «industrielle Reservearmee», die auch in der Schweiz für Lohn- und Sozialdumping instrumentalisiert wird, und schliesslich die Zunahme prekärer Beschäftigung und Langzeitarbeitslosigkeit in Branchen, die bis vor zwei Jahrzehnten «krisenresistent» erschienen.

Die Gewerkschaften sind bei der Lohnfrage strategisch zweispurig gefahren: Einerseits haben sie vermehrt darauf gepocht, GAV zu unterzeichnen, in denen Mindestlöhne festgeschrieben sind. So wurde neulich in der grafischen Industrie ein neuer GAV unterzeichnet zwischen Viscom (Unternehmensverband) und den Gewerkschaften syndicom und syna. Die Festlegung und leichte Erhöhung der Mindestlöhne wurden jedoch auf Kosten der Flexibilisierung akzeptiert. Firmen können in Zukunft zum Beispiel die Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich erhöhen.

Andererseits haben die Gewerkschaften eine Mindestlohninitiative lanciert, die bald zur Abstimmung kommt. Kein Stundenlohn sollte 22 Franken unterschreiten. Was jedoch nicht erwähnt wurde: Der Mindestlohn von 4000 Franken wird für 12 Monate kalkuliert. Wird der 13. Monatslohn mitberechnet, so liegt der gesetzlich vorgesehene Mindestlohn bei weniger als 3700 Franken.

GAV über alles

Im neuen «Kompromiss-GAV», wie der MEM-GAV von der Unia bezeichnet wird, stehen Mindestlöhne für Ungelernte und Qualifizierte, nach drei Regionen abgestuft. Im Tessin und Jura sind die Löhne am tiefsten, in Zürich, Genf und Waadt am höchsten. Der tiefste Lohn beträgt 3300 Franken für Ungelernte im Tessin.

Der reale Widerspruch, in dem sich die Gewerkschaften befinden, wird hier deutlich: Auf der einen Seite wird eine schweizweite 4000 Franken Mindestlohninitiative lanciert, auf der anderen Seite ein GAV unterzeichnet, in dem die Mindestlöhne deutlich unterhalb des Initiative-Mindestlohns sind. Corrado Pardini weist in einem Interview mit der Gewerkschaftszeitung work (7. Juni 2013) auf diesen Widerspruch hin: «Manche der Löhne [im neuen MEM-GAV] sind zu tief. Es war ein schwieriger Entscheid. Ent-weder kein GAV, also auch keine Mindestlöhne. Oder ein GAV, der zum ersten Mal in der MEM-Geschichte Mindestlöhne festmacht.» Diese Aussage kann wie folgt gelesen werden: Die Tendenz der Unternehmen, GAV zu deregulieren und sie auf die betriebliche Ebene zu beschränken, führt dazu, dass sie keine GAV mehr unterzeichnen, wenn wichtige Errungenschaften der ArbeiterInnen nicht aus dem Regelwerk gestrichen werden. Das Resultat davon ist, dass sich Gewerkschaften auch mit «leeren» GAV zufrieden geben. Dies hat in erster Linie mit der Legitimation der Gewerkschaften selbst zu tun (wozu Gewerkschaften, wenn nicht für die Regulierung der Arbeitsbeziehungen?), aber auch mit der Finanzierung der Gewerkschaften selbst über die paritätischen Fonds, die in den GAV festgelegt sind. Aus gewerkschaftlicher Perspektive existiert also gar keine andere Möglichkeit, als weiterhin GAV zu unterzeichnen, unabhängig von ihrem Inhalt. Gleichzeitig wird jedoch mit diesen «leeren» GAV die Ausbeutung der ArbeiterInnen institutionalisiert und legitimiert.

Von Friedensabkommen zu Friedensabkommen

Pardini spricht nun davon, dass mit dem neuen GAV das Friedensabkommen 1937 zu Grabe getragen wurde und eine neue Ära der Gewerkschaftsarbeit in der MEM-Industrie beginne, nämlich eine «Sozialpartnerschaft auf Augenhöhe». Pardini kann das nur zynisch gemeint haben. Denn wenn das Friedensabkommen tatsächlich «zu Grabe getragen wurde», warum wurde kurz nach dem Abschluss des neuen GAV die Industrie-Demo in Bern abgesagt? Braucht es keinen Druck der Strasse, um die Unternehmen zu zwingen, die Mindestlöhne tatsächlich einzuhalten (wir alle kennen ja den Unterschied zwischen der gesetzlichen Verankerung von Rechten und der alltäglichen, rechtswidrigen Praxis der Unternehmen) oder gar zu erhöhen? Wird mit einer solchen Haltung nicht genau die sozialpartnerschaftliche Haltung reproduziert, auf der das Friedensabkommen 1937 basierte? Vieles deutet darauf hin.

Die andere Seite der Geschichte ist, dass Arbeitskämpfe in der MEM-Industrie äusserst rar sind oder erst dann geführt werden, wenn Entlassungen und Betriebsschliessungen ausgesprochen werden. Die ArbeiterInnen vertrauen weiterhin stark auf eine Gewerkschaftsführung, die keine Antwort kennt auf die aktuelle Situation. Bleibt dies so, dann ist der neu unterzeichnete MEM-GAV nicht ein historischer Durchbruch, sondern bloss eine historische Kontinuität.

Der Streik bei Spar!

sparFast zwei Wochen lang streikten elf Arbeiterinnen im Spar-Shop in Baden-Dättwil für mehr Lohn und mehr Personal. Mit der angedrohten Räumung wurde ihr Kampf gewaltsam beendet. Die Bedeutung des Streiks reicht aber weit über die konkrete Auseinandersetzung hinaus.

Ihren Humor hatten sie immerhin nicht verloren, als die Streikenden diesen Freitag vor dem Spar in Dättwil Flugblätter verteilten. Einen Tag nach der gewaltsamen Beendigung ihres Kampfes und zwei Tage nach Eintreffen der fristlosen Kündigungen, amüsierten sie sich über den ungelenken Versuch von Spar-Bereichsleiter Hofmann, den Boden aufzunehmen. Sie liessen sich auch von den fünf Sicherheitsleuten und der Aufforderung von Spar, das Grundstück zu verlassen, nicht beeindrucken. Als eine Frau mit Kind dem Security an der Tür die Meinung sagte, wurde sie bejubelt. Auch am letzten Tag dieses Kampfes zeigte sich noch einmal die bemerkenswerte Entschlossenheit der Streikenden.

Eine rebellische Belegschaft

Dem Streik ging ein langer Prozess voraus. Hohe Fluktuation und ständiger Personalmangel führten zusammen mit den tiefen Löhnen zu einer prekären Situation. Sie führte beim Filialleiter zu einem Burnout, und als dann die stellvertretende Filialleiterin wegen der Geburt ihres zweiten Kindes ebenfalls ausfiel, wussten die ArbeiterInnen, dass es so nicht weitergehen konnte. Der erfolgreiche Streik von 2009 bei Spar im bernischen Heimberg war einigen ArbeiterInnen bekannt und sie begannen, Kontakt mit der UNIA aufzunehmen. Es gab mehrere Monate Verhandlungen mit Spar. Die Hauptforderung der Streikenden war dabei, wie später auch im Streik, mehr Personal. Spar zeigte sich unerbittlich und lehnte jedes Entgegenkommen ab. Der Entschluss zum Aufstand, war damit leicht gefasst.

Während 11 Tagen hielten die Streikenden zusammen mit der UNIA und UnterstützerInnen die Blockade des Spar-Shops aufrecht. Frühere Arbeitskämpfe fanden oftmals ihre Grenze im Überschreiten der legalen, aber zahnlosen Protestformen. In Dättwil machten sich die ArbeiterInnen keine Gedanken darüber, ob die Besetzung des Betriebs den Rahmen der Legalität sprengen könnte. Sie wussten, dass die Blockade ihr stärkstes Druckmittel war. Schliesslich war ihnen der tägliche Umsatz ihrer Filiale ziemlich genau bekannt. An ihre – verständliche – Grenze kamen die Streikenden erst, als die unmittelbare Konfrontation mit der Polizei bevorstand. Zwar entschieden die ArbeiterInnen nicht selber über die Aufhebung der Blockade, doch sie hätten nicht anders gehandelt. Für eine direkte Konfrontation mit der Polizei hätte sich keine Mehrheit finden lassen. Damit fügten sie sich zwar in die Niederlage, behielten aber ihre Würde und gingen keinen Kompromiss bezüglich ihrer Hauptforderung nach mehr Personal ein.

Über den Konflikt hinaus

Der Arbeitskampf beim Spar in Dättwil weist weit über die Auseinandersetzung in der konkreten Filiale hinaus. Stellvertretend für die restlichen 400?000 ArbeiterInnen in der Schweiz mit einem Lohn unter 4000 Franken, kämpfte eine Belegschaft gegen die prekären Arbeitsbedingungen im Detailhandel. Ein Sieg hätte stark an der Legitimität von Tieflöhnen gekratzt und andere ArbeiterInnen ermutigt, sich für höhere Löhne und besser Arbeitsbedingungen einzusetzen. So waren am Streikfest auch ArbeiterInnen anderer Detailhandelsfirmen anwesend, die den Streik mit Interesse beobachteten. Daher waren die Kapitalisten entschlossen, einen Sieg der ArbeiterInnen um jeden Preis zu verhindern. Neben den üblichen medialen Kanälen unterstützen vor allem FDP und SVP das juristische Vorgehen gegen die Blockade, wohlwissend, dass dadurch dem Streik die Zähne gezogen würden. Der Gerichtsentscheid, der die Blockade für illegal erklärte, wurde allerdings von der Polizei lange Zeit nicht durchgesetzt. Erst als der Druck von Seiten des Spar und dwn bürgerlichen Parteien zu gross wurde, bereitete man sich auf eine gewaltsame Räumung vor. In diesem Moment zeigte sich auch noch für den letzten Demokratieidealisten in aller Deutlichkeit, dass der Staat seine Geschäftsgrundlage notfalls mit Gewalt durchsetzt.

Nach «La Providence» ist es bereits das zweite Mal, dass streikende ArbeiterInnen fristlos entlassen werden. Die angedrohte gewaltsame Räumung der Besetzung ist aber ein absolutes Novum und soll ein klares Zeichen setzen. Arbeitskämpfe, die über Demonstrationen, symbolische Aktionen und Warnstreiks hinausgehen, werden nicht geduldet. Das bringt die Gewerkschaften in ein Dilemma, denn Verbesserungen können über den Weg der Sozialpartnerschaft kaum mehr erreicht werden. Die Mindestlöhne in der Industrie, die grösstenteils noch unter den geforderten 4000 Franken der Mindestlohnintiative bleiben, sind das beste Beispiel dafür. Um bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen, müsste der Weg der Klassenkonfrontation beschritten werden. Doch das sind die Gewerkschaften nicht bereit zu tun, da die Anerkennung als Sozialpartner ihre Geschäftsgrundlage ist. In Dättwil hat die UNIA auf Drängen der ArbeiterInnen für eineinhalb Wochen die sozialpartnerschaftlichen Bahnen verlassen, indem sie die gerichtliche Verfügung unter Berufung auf das Streikrecht für illegitim erklärte. Den Streik von Heimberg im Hinterkopf, der nach zwei Tagen gewonnen werden konnte, liess sich die UNIA von der Dynamik treiben. Trotzdem zielte die ganze Argumentation der UNIA in Dättwil darauf ab, dass sich doch alle Differenzen am Verhandlungstisch lösen liessen. Doch mit dem Streik in Dättwil wurde der Mythos von der einvernehmlichen Sozialpartnerschaft in der Realität endgültig zerschlagen.

Türkei: Die Revolution ist endlich da!

türkeiMaria lebt in Istanbul und hat dem vorwärts folgenden Augenzeugenbericht zugestellt.

Wir sind seit gestern Abend (2.Juni) wieder hier auf der europäischen Seite. Gestern gab es wieder eine «Schlacht» in Besiktas, neben Erdogans Amtssitz. Es war wieder eine sehr brutale Angelegenheit und die Polizei hat sogar mit Gaspistolen in Wohnungen und in die Bahcesehir Universität geschossen. Ständig gab es Nachrichten auf facebook und Twitter, dass Erste Hilfe benötigt wird.

Wir waren im Gezi Park und dort hätte die Stimmung nicht friedlicher sein können. Alle sitzen dort, lassen Ballons steigen, singen, tanzen, reden. Es gibt eigentlich nur ein Thema. Der Protest. Wer war wo an welchem Tag. Wer nimmt was wie wahr, wie fühlt man sich mit all dem?

Ein Freund meines Mannes, mit dem ich mich vor einer Woche darüber unterhalten hatte, dass Leute auf die Strasse gehen müssten, statt ihr ein Leben im Ausland zu planen, rief: «Maria, you told me last week that this is possible! I didn’t believe it and now it happened!» Er ist übrigens einer derer, die seit zwei Tagen an vorderster Front standen und von dem Wasserstrahl umgeworfen wurde, auch diverse Stiefeltritte hat er abbekommen. Aber sein ganzes Gesicht strahlte, als er mir gestern sagte, dass er glücklich ist, dass «die Revolution nun endlich da ist.»

Gegen 1.30 Uhr ging langsam das Gerücht rum, dass die Polizei auf dem Weg zum Park ist. Ein Mann ging rum, um jedem seine Blutgruppe mit Edding auf den Arm zu schreiben, damit die Ärzte schneller Bescheid wissen, falls was passiert. Es gab Aufrufe, die Barrikaden noch ein bisschen höher oder breiter zu bauen und viele Leute sammelten alles was nicht niet und nagelfest ist von der Baustelle und brachten es zu den Barrikaden. Ich stellte mich dann an den Ausgang zum Park, der in Richtung der Wohnung meiner Freundin führt, nur für den Fall, dass man schnell raus muss.

Einer sagte: «Leute, es ist zu gefährlich, hier neben der Baustelle zu stehen. Lasst uns in den Park gehen, damit wir andere Fluchtwege haben und nicht in die Baustelle fallen.» Also zogen sich alle in den Park zurück. Doch nichts passierte. Eine Stunde war Warten angesagt. Dann entspannte sich die Situation wieder und viele kamen zurück auf die Strasse. Die Barrikaden haben gehalten! Es gibt keine Möglichkeit mehr für die Polizei, mit ihren Wasserwerfern in den Park zu gelangen! Was für ein Erfolg!

Allerdings gibt es heut auch schlechte Nachrichten. Die Verhafteten werden scheinbar dazu gezwungen ein Formular zu unterschreiben, das besagt, sie werden von ihrem Recht jemanden anzurufen nicht Gebrauch machen. Erdogan spricht davon, dass jene 50 Prozent der BürgerInnen, die ihn gewählt haben, gegen die DemonstrantInnen kämpfen wollen und er sie nicht mehr lange zurückhalten kann… Und vorsichtshalber, bevor es hier richtig brenzlig werden könnte, ist er für vier Tage nach Afrika abgereist…

3.Juni

Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie wundervoll es ist, diese grenzenlose Solidarität hier zu erleben. Dies ist eine Protestbewegung, die sich durch wirklich ALLE sozialen Schichten zieht. Ich habe ja schon erzählt, dass alle jeden mit Milch und Zitronen versorgen. Aber das ist wirklich nicht alles. Zum Beispiel gab es eine Situation, als mein Mann, zusammen mit vielen anderen vorgestern vom Taksim Platz in eine Seitenstrasse stürmte, um einer Gasattacke zu entgehen und wirklich jede Tür summte, die gesamte ssentlang, weil Menschen in den Häusern die Türöffner drückten, um die Flüchtenden hereinzulassen. Und nicht nur die Haustüren waren offen, auch alle Wohnungstüren waren offen. Die Menschen gaben Wasser, ihre Sofas, ihre Badezimmer. Was immer gerade gebraucht wurde. Yalin sagt, in diesem Moment war ihm klar, dass die Bewegung gewinnen wird. Denn wie soll ein bisschen Gas oder die vermeintlichen 50  Prozent gegen all diese Menschen gewinnen, die auf diese Weise ihre Solidarität ausdrücken?

Gestern Abend ging ein Mann von etwa 65-70 Jahren durch die Gaswolke und verteilte Wasser an alle.  Die Verkäufer im Bakkal (Späti), Taxifahrer, StudentInnen, AnwältInnen… Alle sind auf einmal füreinander da. Es scheint keine Unterschiede mehr zu geben. Und das hier, in Istanbul, wo die sozialen Unterschiede eigentlich sehr deutlich waren. Wo die reicheren, den «kleinen» VerkäuferInnen nicht mal richtig in die Augen geschaut haben.

Heute sahen wir sogar zwei Jungs nebeneinander hergehen. Einer im Besiktas-Trikot, der andere im Fenerbahce-Trikot. Das mag euch jetzt nicht so wichtig vorkommen… Aber zwei Fans der beiden sonst bis aufs Blut verfeindeten Rivalen, in ihren Clubfarben, nebeneinander, friedlich im Gespräch … ein zuvor undenkbares Bild! Heute sprachen wir mit einer Mutter und ihrer Tochter. Die Tochter kam gerade aus Ankara zurück. Sie erzählte, sie habe gestern Abend gesehen, dass eine junger Mann am Arm verletzt worden war und blutete. Eine Frau mit Kopftuch sagte: «Was machen sie nur mit uns?», nahm ihr Kopftuch ab (!) und gab es ihm, um seinen Arm zu verbinden. Was auch unglaublich überwältigend ist, sind die «Topf-mit-Löffel-Konzerte» jeden Abend um 9.00 Uhr. Es begann vor ein paar Tagen, dass Leute von zuhause aus ihre Solidarität zeigen wollten. Sie standen an ihren Fenstern und schlugen mit Löffeln auf Töpfe, Siebe, Kannen, was immer Lärm macht. Nun wurde dazu aufgerufen, jeden Abend um 21 Uhr das gleiche zu tun. Vorgestern klopften Freundinnen von mir wie wild, gemeinsam mit einigen Nachbarn, mit denen man sonst nie viele Worte wechselt. Sie riefen sich danach zu:“Yarin ayni zaman görüsürüz!“ Morgen um die gleiche Zeit sehen wir uns wieder! Und heute, ich bin gerade wieder zuhause, weil ich morgen eine Klausur schreiben muss, stand ich mit meiner Schwiegermutter auf dem Balkon und wir klopften wie wild. Aber nicht nur wir. Die gesamte Nachbarschaft. An fast jedem Fenster stehen Menschen mit ihrer Kücheneinrichtung! Dazu schalten die Menschen ihre Lichter immer an und aus. Es sieht wundervoll aus und klingt phantastisch! Autofahrer, die nun mal eben gerade keine Töpfe zur Hand haben, hupen, Fußgänger pfeifen. Gänsehaut, 15 Minuten lang! Und es wurde bisher jeden Abend lauter.

Was auch sehr schön ist, sind die Sprüche, die auf Schildern stehen, an Wände gesprayt werden oder gepostet. Ein Schild sagte: «Thanks Tayyip, for making me feel at home! A Syrien refugee.»

An einer Wand stand: „Liebe Polizei, warum habt ihr uns zum Weinen gebracht? Wir waren auch vorher schon emotional genug.“ Oder (Das Tränengas heisst auf Türkisch Biber Gazi) «Just in Biber»

Was auch wunderbar war, wurde auf Twitter gepostet. Erdogan behauptet ja ständig, dass es lediglich eine Randgruppe ist, die auf der Strasse demonstriert. Und jemand hat gepostet: «Ich laufe mit einer Gasmaske durch die Strasse und trage eine Schwimmbrille. Oh mein Gott, ich bin eine Randgruppe!»

Nun ja, all diese schönen Momente und diese grenzübergreifende Solidarität sind es, die alle immer wieder auf die Strasse bringen. Es sind wieder Tausende im Park und auf dem Platz. Leider wurde in der Nähe wieder Gas geworfen und die Auswirkungen sind bis dorthin zu spüren. Zum ersten Mal seit zwei Nächten muss man nun auch im Park wieder Masken und Schwimmbrillen tragen, nicht nur in Besiktas, wo es übrigens auch gerade jetzt wieder kracht. Ich weiss auch nicht warum ich wieder mal gerade nicht dort bin, sondern zuhause, anstatt im Park wie gestern die halbe Nacht… Vielleicht ist es doch das Nazar Boncugu, das Yalin mir schenkte bevor ich nach Palästina gereist bin, das mich immer wieder vor den gefährlichsten Situationen bewahrt…

Tanz dich frei 3

Tanz-dich-frei-Bern-2013-1Am 25. Mai nahmen sich in Bern 10?000 Personen ungefragt den Freiraum der Strasse. «?Wem gehört die Stadt?» lautete das Motto von «?Tanz dich frei 3?». Jene, welche die Eskalation seit -Wochen herbei-geschwatzt haben, müssen nun einige Fragen beant-worten. Die Partei der Arbeit Bern verurteilt den Einsatz der Polizei. 

Aus dem vorwärts vom 3. Juni. Unterstütze uns mit einem Abo.

Was im Vorfeld des 25. Mai veröffentlicht wurde, las sich wie die Chronik einer angekündigten Katas-tro-phe: Gemeinderat, Polizei, Medien und die meisten politischen Parteien wurden nicht müde, sich gegenseitig mit Horrorszenarien und Vorverurteilungen der Veranstaltung «Tanz dich frei 3» zu übertrumpfen. Da wurden die Fanmärsche vor dem Fussball-Cupfinal vom Pfingstmontag zum unheilschwangeren Vorspiel stilisiert. Sensible Politschnüffler rochen Gewalt in der Luft, während die «Jugendversteher» sich übers apolitische und wohlstandsverwahrloste Partyvolk in Markenklamotten ausliessen, das noch nie etwas geleistet hätte. Solche Diffamierungen sind es, die wütend machen – immer wieder und immer noch!

Hämisch wurde der Wetterbericht wie eine Trumpfkarte ausgespielt. Und er kam: der Regen. Und das tanzende Volk kam trotzdem. Und es kamen Tausende. Sie tanzten und sie lieferten den lebendigen Beweis, dass der öffentliche Raum nach Ladenschluss nicht eine Wüste sein muss. Und sie tanzten, bis das Tränengas kam, der Wasserwerfer, der Gummischrot. Und viele tanzten auch dann noch weiter. Und viele schüttelten einfach nur den Kopf, weil nicht zu erkennen war, was denn plötzlich in die Polizei gefahren war. Und man muss sich diese Frage immer noch stellen.

Rechtsstaat als Ärgernis

War es eine Vergeltungsaktion für ein Scharmützel an einem Zaun, ein Akt von Kollektivbestrafung – etwa nach dem Leserbriefmotto: mitgegangen, mitgehangen? Oder war das die endgültige Ver-abschiedung der Strategie der Deeskalation? Oder war es etwa schlicht der Druck der ideologischen, materiellen und personellen Aufrüstung für den -Anlass? Musste es einfach so weit kommen, damit ein Kalkül aufgeht? Diese Fragen müssen sich all jene stellen, welche die Eskalation seit Wochen herbeigeschwatzt haben.

Aber viele von ihnen – in den Parteien, in den Medien, in der Polizei und im Gemeinderat – scheinen immer noch nicht genug zu haben. Und sie drehen weiter an der Schraube und steigern sich in ihren repressiven Fantasien in einen wahren Rausch hinein. Dass dabei rechtsstaatliche Gepflogenheiten bloss noch als Ärgernis gelten, versteht sich fast schon von selbst. Und dass auf diesem Boden Aufforderungen zur Denunziation gedeihen – wen mag das noch zu erstaunen? Hier haben wir die wahren Folgeschäden, die nicht so einfach zu kitten sind.

Es kamen Tausende und trotzten dem Wetter, der Angstmache und der Vorverurteilung. Weil sie sich nicht spalten und gegeneinander ausspielen liessen. Darin lag die Stärke von «Tanz dich frei 3». Darin liegt aber auch die Voraussetzung für ein «4» und darüber hinaus für jede Belebung des städtischen Raums, die sich nicht an Profitinteressen misst. Dieser Tanz muss weitergehen – gemeinsam!

Kritik am Kapitalismus

«Die Partei der Arbeit verurteilt den übertriebenen Einsatz der Polizei, die trotz Kenntnis der Route die Demonstration nicht ziehen liess und auf ihrem mobilen Polizeistützpunkt direkt neben der Demonstrationsroute beharrte», schreibt die PdA Bern in ihrer Medienmitteilung. «Die Polizei setzte Tränengas und Pfefferspray ein, bevor der erste Stein flog. Mit der bewährten Deeskalationsstrategie hätte der Abend nicht eskalieren müssen und es wäre wie vergangenes Jahr bei Sprayereien geblieben.» Für die Berner GenossInnen ist auch klar, um was es bei «Tanz dich frei 3» geht: «Um die Kritik am Kapitalismus – an einem System, das weit mehr zerstört als Scheiben und Blumentöpfe.»

Personenfreizügigkeit und Ausschaffung

abgelehntVielen ist noch unbekannt, dass die Schweiz nicht nur Asylsuchende, sondern auch europäische ArbeitsmigrantInnen des Landes verweist. Diese Praxis steht in Spannung zum neuen EU-Recht und wird in Zukunft wohl vermehrt zu Konflikten führen. Der Fall einer portugiesischen Arbeitsmigrantin, die sich gegen ihre Ausschaffung wehrt, wird zur Zeit im Bundesgericht behandelt.

Aus dem vorwärts vom 3 Juni. Unterstütze uns mit einem Abo.

Im 2006 hat die stimmberechtigte Bevölkerung das neue Ausländergesetzt angenommen. Es regelt unter anderem die Einreisebestimmungen für ArbeitsmigrantInnen aus den EU-Ländern. Seit Inkrafttreten des neuen Gesetzes sind die Sozialämter verpflichtet, sozialhilfeabhängige ArbeiterInnen den Migrationsämtern zu melden. Damit hat sich die Wegweisungspraxis der Kantone verschärft. Bezieht jemand mit einer B-Bewilligung Soziahilfegelder in der Höhe von mindestens 25 000 Franken, prüfen die Migrationsämter die Rücknahme der Aufenthaltsbewilligung und somit die Ausschaffung der betroffenen Person.

Das Migrationsamt des Kanton Zürichs hat laut einer kürzlich erschienen Statistik seit Anfang 2012 30 arbeitslose MigrantInnen mit einer B-Bewilligung ausgeschafft, davon stammten 14 aus dem EU- und Efta-Raum.

Streitfall vor Bundesgericht

Die Debatte wird in den bürgerlichen Medien oft als «administrative» Umsetzung der Rechtsprechung geführt. Die aktuellen bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU stehen in Spannung zum neuen EU-Recht. Denn dieses sieht vor, dass den migrantischen ArbeiterInnen nach fünf Jahren ein Daueraufenthaltsrecht zu erteilen ist, das nicht mehr an die ursprünglichen Bedingungen geknüpft ist. In der Schweiz sollten also laut EU-Recht nach fünf Jahren alle Personen mit B-Bewilligung eine Niederlassungsbewilligung (C-Bewilligung) erhalten. Das aktuelle Freizügigkeitsabkommen erlaubt jedoch, die Verlängerung der ersten fünfjährigen Aufenthaltsbewilligung (B-Bewilligung) eineR migrantischen ArbeiterIn auf ein Jahr zu befristen, wenn sie bzw. er arbeitslos ist. Im Bundesrat laufen die Auseinandersetzungen um die Anpassung der bestehenden bilateralen Verträge ans EU-Recht. Ob und wann dies konkret wird, ist offen.

Das Bundesamt für Migration (BFM) strebt jedoch in der aktuellen Situation einen Präzedenzfall an und zieht den Fall einer alleinstehenden arbeitslosen Portugiesen ans Bundesgericht weiter. Der Frau wurde wegen Sozialhilfebezugs die Aufenthaltsbewilligung entzogen. Dagegen hat sie Beschwerde eingereicht und diese wurde vom kantonalen Verwaltungsgericht gutgeheissen. Bestätigt auch das Bundesgericht dieses Urteil, müssen die Kantone ihre Ausschaffungspraxis von ArbeiterInnen mit B-Bewilligung anpassen.

Eine politisch brisante Frage

Im Kontext steigender Langzeitarbeitslosigkeit in Europa, der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU und der Konflikte um gewerkschaftsfeindliche Entlassungen in der Schweiz (vgl. Seite 3) gehen Fragen der Ausschaffung von Arbeitsmigrant-Innen über den «administrativen» Charakter hinaus. Die Prognosen für die EU-Länder, aus denen viele ArbeitsmigrantInnen in die Schweiz einreisen, sind alles andere als rosig. In Spanien ist kaum eine Verbesserung der Lage zu verzeichnen. Rezession und hohe Arbeitslosigkeit dominieren auch die sozioökonomische Entwicklung in Portugal. Und in Italien dauert der sozioökonomische Restrukturierungsprozess an, Sinnbild dieses Prozesses ist der Wandel der Arbeitsbeziehungen, der in Anlehnung an den FIAT Chef als «Marchionne System» bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um die Ausschliessung gewerkschaftlicher VertreterInnen, die sich gegen ökonomische Restrukturierungen wehren.

Heute fungieren die südeuropäischen ArbeitsmigrantInnen also als «industrielle Reservearmee» für die «strukturell starken» Ökonomien Nordeuropas (u.a. Deutschland, Schweiz). Sie dienen als Manövriermasse und als Instrument der Durchsetzung von Lohn- und Sozialdumping. Eine Antwort auf diese Entwicklungen kann weder in der Aufkündigung der bilateralen Abkommen (zum Beispiel in der Form der Einwanderungsinitiative der SVP) liegen, noch ausschliesslich auf intensivere Arbeitsmarktkontrollen (wie von einigen Gewerkschaften und linken Parteien gefordert) basieren. Einzig die Verbindung der Lohnabhängigen, der Erfahrungsaustausch ihrer individuellen und kollektiven Mobilisierungen über Staat und Nation hinaus und auf der Basis ihrer Klassenzugehörigkeit können die Rechte aller Lohnabhängigen stärken.

Ausbeutung und Widerstand in China

foxcomNach «Dagongmei» und «Aufbruch der zweiten Generation», Bücher über die WanderarbeiterInnen Chinas, ist nun ein weiteres Buch in deutscher Sprache über die Klassenzusammensetzung und den Widerstand in China erschienen. In «iSlaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken?» geben -ArbeiterInnen und WissenschaftlerInnen Einblick in das Fabriksystem des tai-wanesischen Konzerns Foxconn.

Ende Mai erhielten wir wieder einmal traurige Nachrichten aus China: Zwei Arbeiter und eine Arbeiterin des wichtigsten Apple-Zulieferers Foxconn haben sich in den Tod gestürzt. Die Gründe seien noch unklar, doch auch die bürgerlichen Medien konnten einen Zusammenhang mit der Suizidserie im Jahre 2010 nicht bestreiten. AktivistInnen von Solidaritätsgruppen in China, Hongkong und anderen Ländern wiesen auf die miesen Arbeitsbedingungen und die militärische Unternehmensführung als Ursachen der Selbstmorde hin. Sie prangerten die gezielte Spaltung und Vereinzelung der ArbeiterInnen in den Werkhallen und Wohnheimen an, mit der Foxconn Arbeiterwiderstand verhindern will.

Um mehr über die konkreten Bedingungen zu erfahren, startete eine Forschungsgruppe im Frühjahr 2010 ein Untersuchungsprojekt. Die Ergebnisse sind nun auch in deutscher Sprache erschienen und sie setzen an zwei Erzählweisen an: «Zum einen analysieren Mitglieder des Untersuchungsteams wichtige Aspekte des Foxconn Modells, zum anderen erzählen einzelne ArbeiterInnen ihre Geschichte des Alltags und der Ausbeutung in den Fabriken Foxconns.» (S. 9)

Die verborgene Stätte der Produktion

«Diese aller Augen zugängliche Sphäre (Markt und Zirkulation) verlassen wir, zusammen mit Geldbesitzer und Arbeitskraftbesitzer, um beiden nachzufolgen in die verborgene Stätte der Produktion, an deren Schwelle zu lesen steht: No admittance except on business (Eintritt nur in Geschäftsangelegenheiten). Hier wird sich zeigen […] wie das Kapital produziert wird […] Das Geheimnis der Plusmacherei muss sich endlich enthüllen.» (S. 189) So beschreibt Marx im ersten Band des Kapitals die Notwendigkeit, innerhalb der Produktionssphäre – also in den Betrieben selbst – Ausbeutung und Widerstand genau zu analysieren, um Klassen- und Kapitalverhältnisse zu verstehen. Der Zugang zur Produktionssphäre ist jedoch alles andere als leicht. Das haben auch die ForscherInnen erlebt, die die Foxconn-Fabriken analysiert haben. «Das Untersuchungsteam wandte sich bereits im Mai 2010 schriftlich an die Foxconn-Zentrale, um mit ihrem Einverständnis die Lage in den Fabriken untersuchen zu können, aber von Seiten Foxconns kam keine Reaktion.» (S. 30) Auch die sozialwissenschaftliche Arbeit ist also keine neutrale Tätigkeit, sondern stets ein umkämpftes Feld, in dem sich unterschiedliche gesellschaftliche Interessen gegenüberstehen.

Foxconns Produktionsregime

Bei Foxconn, dem weltgrössten Elektronikhersteller und Chinas Weltfabrik Nummer eins, stellt sich das ökonomische Entwicklungsmodell Chinas fast idealtypisch dar. Die Betriebsführung basiert auf einem repressiven Überwachungs- und Bestrafungssystem. Eine Fliessbandarbeiterin sagt: «Wir sind wie Staubkörner. Die Linienführerin sagt oft, dass es egal ist, ob diese oder jene am Band steht. Wenn du gehst, kommt halt eine andere und macht deine Arbeit. In dieser Fabrik zählen wir ProduktionsarbeiterInnen nicht. Wir sind nur ein Arbeitsgerät.» (S. 58/59)

Die despotische Fabrikorganisation zeigt sich in der materiellen Situation der ArbeiterInnen. Aufgrund der Suizidserie Anfang 2010 hatte Foxconn angekündigt, die Löhne um 30 Prozent zu erhöhen. Doch real tendieren die Grundlöhne immer weiter nach unten und die ArbeiterInnen erreichen nur dann einen Lohn, der zum Überleben reicht, wenn sie Überstunden leisten. Über 40 Prozent der Einkommen besteht aus Überstundenlohn. Arbeitsschutz, Pausen, Respekt gewerkschaftlicher Rechte sind Fremdwörter bei Foxconn.

Andererseits wendet Foxconn zur Disziplinierung der ArbeiterInnen Formen der «ideologischen Um-erziehung an» (S. 61), um einen Unternehmensgeist zu schaffen und den ArbeiterInnen klarzumachen, dass das Unternehmen an erster Stelle zu stehen hat. «Mühsal ist die Grundlage von Reichtum, praktische Umsetzung ist der Weg zum Erfolg» – mit solchen Diskursen garantiert Foxconn eine «Kultur des Gehorsams».

Arbeitskämpfe bei Foxconn

ArbeiterInnen machen die Produktionshallen jedoch auch zum Schlachtfeld. Die Länge des Arbeitstages, die Arbeitsintensität, die Arbeitsgeschwindigkeit und die Organisation des Arbeitsprozesses stehen im Mittelpunkt der Klassenauseinandersetzung. Streiks, Ausschreitungen, Strassenblockaden, Dachbesetzungen und Selbstmorddrohungen haben das Management herausgefordert, doch an der Produktionsorganisation hat sich bisher wenig verändert. Die Kommunikation zwischen den ArbeiterInnen hat sich aber dadurch auch weiterentwickelt, und die Erfahrung kollektiver Mobilisierungen in Fabrikhallen und Wohnheimen war wichtig (vgl. Kap. 7).

Klassenkampf als Subjekt der Geschichte

«Die AutorInnen des Buches fokussieren auf die Darstellung des Ausbeutungsregimes – Drill, Wohnheime, Verlagerung – als Antwort auf Arbeiterverhalten – Fluchtträume, Fluktuation, Kämpfe.» (S. 12) Damit nehmen die AutorInnen eine theoretische Position ein, die die Zentralität des alltäglichen Konflikts im Produktionsprozess als den treibenden Motor der wirtschaftlichen Entwicklung versteht. Sie knüpfen an die operaistische Tradition an: Technologie und Organisation der kapitalistischen Produktionsweise als Methode der Beherrschung und Kommandierung lebendiger Arbeit werden radikal kritisiert. Damit vollziehen sie einen Bruch mit dem Verständnis der bürgerlichen Ökonomie und mit dem «orthodoxen» Marxismus, die beide die ArbeiterInnen im unmittelbaren Produktionsprozess zu «ZuschauerInnen» der historischen Entwicklung degradieren. Vielmehr wird der alltäglich von den ArbeiterInnen geführte Klassenkampf zum Subjekt der Geschichte. Die Notwendigkeit unserer solidarischen Unterstützung des Widerstandes der ArbeiterInnen in China kann damit auch als Ausgangspunkt dienen, über unsere eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen nachzudenken.