«Sozialpartnerschaft» für wen?

Für den 22. September rufen die Gewerkschaften zu einer schweizweiten Demonstration für den «Werkplatz Schweiz» und für die Erneuerung des Gesamtarbeitsvertrages (GAV) in der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM-Industrie) auf. Unsere Solidarität mit den Arbeitenden dieses Sektors ist ein Muss. Genauso notwendig ist jedoch eine Reflexion der betrieblichen Auseinandersetzungen des letzten Jahrzehnts.

«Wir fordern eine neue Sozialpartnerschaft», so der Grundtenor der Mobilisierungszeitung der Gewerkschaft Unia für die Demo vom 22. September in Bern. Diese müsse auf zwei Säulen stehen: Erstens auf einen starken GAV, der die Arbeits- und Lohnbedingungen regelt und zweitens auf die gemeinsame (Gewerkschaften und Unternehmen) Entwicklung einer «industriepolitischen Agenda».

Ein Blick auf die «Strategie der Sozialpartnerschaft» wirft jedoch einen grundsätzlichen Zweifel auf. Historisch gesehen hat sie während der Hochkonjunktur zwar eine materielle Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Kernbelegschaft erbracht – jedoch immer auch mit Ausschluss des migrantischen und weiblichen Subproletariats. Der Verzicht auf kämpferische Strategien wurde von den Unternehmen mit Lohnerhöhung «erkauft». Doch diese Strategie geriet logischerweise dann «in die Krise», als das ganze kapitalistische System in eine Strukturkrise geriet.

 

Die Macht des Kapitals

In der Schweiz geniessen Unternehmen im europäischen Vergleich Wettbewerbsvorteile, die ihre Macht in den Betrieben stärken: ein schwaches Arbeitsrecht und ein inexistenter Kündigungsschutz. Diese Macht hat sich in der Verteilung des produzierten Reichtums übertragen. Wie unterschiedliche Studien der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) festhalten, hat die produktive Reorganisation der 1990er Jahren einschlägige Effekte nach sich gezogen. Zwischen 1992 und 2002 hat die Produktivität in der Industrie um 38 Prozent zugenommen, die Löhne wurden – wenn überhaupt – nur der Teuerung angepasst. Ab 2004 schienen sie dann wieder einmal zu wachsen, doch die aktuelle Krise hat einen doppelten Effekt ausgelöst: Einige Produktionssektoren wurden geschwächt oder gar zerstört. Für diejenigen Sektoren allerdings, welche die Krise überlebt haben, wird die Produktivität noch einmal erhöht. Und dies auf Kosten der Arbeits- und Lohnbedingungen der ArbeiterInnen. Trotz scheinbarer Stille fanden in den letzten Jahren in der Industrie nicht wenige betriebliche Auseinandersetzungen statt. Meist ging es um Massenentlassungen und Betriebsschliessungen, doch auch um Arbeitszeiterhöhung und Lohnreduktion. In denjenigen Auseinandersetzungen, in denen die «Strategie der Sozialpartnerschaft» dominierte, isolierte sich die Belegschaft schnell in eine Position der Schwäche. Bei der Schliessung der Sappi in Biberist (SO) beispielsweise argumentierten die Belegschaft und ihre Vertretung, sie dürfen jetzt nicht streiken, sondern disziplinierter und intensiver arbeiten, damit die Direktion sehe, dass «ein guter Betrieb» geschlossen werde. Ironischerweise benutzte die Sappi das Argument der Disziplin der Belegschaft in Biberist Jahre zuvor, um ihren Standort in Finnland zu schliessen. Die Belegschaft hatte damals darauf verzichtet, sich mit den finnischen KollegInnen zu solidarisieren und somit den Kampf zu internationalisieren.

 

Standortpolitik gegen die ArbeiterInnen

Es gehört zur Strategie von Unternehmen, Standorte gegeneinander auszuspielen. Das mussten die Beschäftigten von Merck Serono in Genf diesen Sommer erleben. Mit dem Argument der Überkapazität wurde das Werk in Genf geschlossen und gewisse Bereiche der Produktion nach Darmstadt (D) verschoben. Als die Belegschaft zum Hauptsitz der Firma reiste, um gegen die Massenentlassung zu protestieren, weigerten sich die deutschen KollegInnen, sich zu solidarisieren. Die Gewerkschaft verhandle gerade den neuen GAV, was einen konfrontativen Kurs nicht erlaube.

Die «Strategie der Sozialpartnerschaft» wird also auch in Zukunft kaum materielle Verbesserungen herbeiführen für die Lohnabhängigen. Gerade in Zeiten der Krise werden die Unternehmen ihre Position stärken wollen. Dagegen kann auch eine «neue Sozialpartnerschaft» nichts tun.

Ich kam verändert und gestärkt zurück [Teil 2/2]

9. März 2012 – Nr 11/12 Im zweiten Teil des Berichtes über den politischen Prozess gegen die sozialistische Linke in Istanbul beschreibe ich den Prozesstag aus persönlicher Sicht. Die vielen Gespräche mit GenossInnen und die Teilnahme im stinkigen Gerichtssaal sind prägende Lebenserfahrungen. Sie haben Einfluss auf mein eigenes Bewusstsein und meine Persönlichkeit gehabt.

 kafkaeskes Gerichtsgebäude beim Devrimci Karagah Prozess in der Türkei

Am Morgen des Prozesstages wurde ich mit den Worten «Comrade, it’s time» geweckt. Die Weise wie wir in der Türkei als «Comrades» angesprochen wurden, war speziell für mich. Es fehlte dieser leicht scherzende Unterton, welcher in der Schweiz oft beim Wort Genosse mitschwingt. Die Anrede Comrade, auf Türkisch «Yoldash», zeugt von tiefem Respekt, von Freundschaft und Vertrauen. Der Ausdruck ist geprägt durch das Leid, welches unsere GenossInnen in der Türkei tagtäglich erfahren. Wir leiden hingegen nur unter GenossInnen, welche meinen, besser zu wissen, was wahr und was falsch sei und uns die Ohren wund predigen. In der Türkei erklärte mir niemand von oben herab den wahren Weg zum Sozialismus. Das Wort Genosse war, was es bedeutet: Die Anrede für Gleiche unter Gleichen, für Menschenmit welchen man zusammen diskutiert und zusammen arbeitet.

 

Ein Geheimdienstdokument

«Das Recht ist die Grundlage des Staates». Dieser Satz prangte in grossen Lettern über den schläfrigen Richtern. Doch sinnbildlich für die ganze Situation eines politischen Prozesses war, dass die meisten ZuschauerInnen den Satz kaum lesen konnten. Es wurde extra ein so kleiner Gerichtssaal gewählt, dass die Menschen dicht gedrängt, fast wie in einer Massentierhaltung, kaum Platz zum Atmen hatten. Als ich im Vorfeld an den Prozess und an das Gerichtsgebäude dachte, ging ich immer von einem repräsentativen, die Mächtigkeit des Staates zeigenden Bauwerk aus. Dem war nicht so. Es war ein alltägliches, nicht als Gericht erkennbares Bürogebäude. Nur die drei Gefangenentransporter und die drei Polizeimannschaftsbusse wiesen auf die Wichtigkeit des Gebäudes hin. Die Toilette war ungeputzt und es stank wie in einem Schweinestall. War dies auch der Grund dafür, dass viele Polizisten Gasmasken am Gürtel neben ihrem Knüppel hängen hatten?

Im stickigen Gerichtssaal hielt zuerst Hanefi Avc?, der ehemalige Polizeivorsteher, seine über einstündige Verteidigungsrede. Die einzige wirklich erkennbare Reaktion eines Richters war, Avc? nach 40 Minuten anzuhalten, langsam zum Schluss zu kommen. Dabei enthielt Avc?s Rede überaus brisante, den Prozess betreffende Informationen. Avc? verwies auf ein Geheimdienstdokument, in welchem festgehalten war, dass die militant-kommunistische Untergrundorganisation «Devrimci Karargah» (DK), die beiden Parteien «Sozialistisch Demokratischen Partei» (SDP) und «Plattform für gesellschaftliche Freiheit» (TÖP) als Pazifisten bezeichnet. Deswegen sei für DK eine Zusammenarbeit mit diesen Organisationen kategorisch ausgeschlossen. Zur Erinnerung: Den Angeklagten, hauptsächlich SDP- und TÖP-GenossInnen, wird vom Staat vorgeworfen, Teil der DK zu sein. Die Arbeit der Richter beschränkte sich hauptsächlich darauf, nach den Verteidigungsreden einer Anwältin oder eines Angeklagten mit schläfriger Stimme «der Nächste» zu sagen. Das einzige Mal, als sich ein Richter veranlasst sah, einem Angeklagten etwas zu entgegnen, war bei der flammenden Rede des TÖP-Genossen Tuncay Yilmaz. Fesselnd appellierte dieser an einen der Richter sinngemäss folgendermassen: «Seit über 500 Tagen sitze ich im Gefängnis. Wenn die TÖP eine terroristische Organisation ist, sagen sie es mir jetzt!» Der Richter entgegnete zwei Mal leicht empört lediglich, dass er dazu nichts sagen könne, da er auch nur ein einfacher Richter sei. Ob diese Empörung des Richters durch die Ungerechtigkeit des Prozesses oder wegen der Unverschämtheit von Tuncay hervorgerufen wurde, weiss ich nicht.

 

Kampf-, Gruss- und Liebesbotschaften

Diese visuellen, räumlichen und übel riechenden Umstände, führten den Satz «Das Recht ist die Grundlage des Staates» bereits vor Beginn ad absurdum. Über den Wahnwitz und die Hintergründe dieses Prozesses an sich, berichtete ich bereits ausführlich in der vorletzten Vorwärts-Ausgabe. Alle diese Eindrücke weckten ein spezielles Gefühl. Ein Gefühl, welches mir fremd und doch abstrakt bekannt war. Ich verspürte ein verwirrt-amüsiertes Kribbeln gemischt mit verwirrt-betroffener Ungläubigkeit. Es war das Gefühl, welches mich überkam, als ich Kafkas «Der Prozess» und «Das Schloss» gelesen hatte. Nach fünf Stunden wurde der Saal geräumt. Niemand wurde aus der Untersuchungshaft entlassen. Als die Gefangenen von den zehn Gendarmen hinausgeführt wurden, erhob sich ein riesiger Lärm. Die Menschen streckten ihre Arme den Gefangenen entgegen und ich hörte von überall her die Rufe «Yoldash! Yoldash!» Alle wollten ihre Freunde und GenossenInnen noch ein letztes Mal berühren, sei es auch nur mit einer Kampf-, Gruss- oder Liebesbotschaft. Vor dem Gerichtsgebäude trafen wir auf die AktivistInnen, welche vor dem Gebäude ausgeharrt hatten – unter strenger Beobachtung von gut 75 mit Knüppeln, Schildern und Gasmasken ausgerüsteten Polizisten. Parolen wurden gerufen und als die Gefangenentransporter losfuhren, versuchte man noch einen letzten Blick auf die GenossInnen zu werfen.

 

Brief an die Familie aus Istanbul

Der nächste Prozesstermin ist am 30. April 2012. Als ProzessbeobachterIn vor Ort zu sein, ist nicht nur wichtig, um Druck auf die Gerichte aufzubauen, sondern auch um die Moral der GenossInnen in und ausserhalb der Gefängnisse zu stärken. Persönlich ermöglicht es einem die Verhaltensweise der bürgerlichen Justiz zu erleben und zu verstehen, was ein «politischer Prozess» tatsächlich bedeutet. Eine solche Reise hat einen stark prägenden Einfluss auf das eigene Bewusstsein und die eigene Persönlichkeit. Exemplarisch hierzu ist die Mail, die ich am Vorabend des Prozesses an meine Eltern schrieb: «Das Erlebnis in Sulukule und die Erzählungen der GenossInnen zeigen mir einmal mehr die Unterdrückung, die Ausbeutung und den tatsächlichen Klassenkampf. Sulukule war die älteste Roma-Siedlung der Welt, welche nach über 1000 Jahren von der Regierung niedergewalzt wurde, um Eigentums-Luxus-Wohnungen zu bauen. (Mehr dazu im nächsten Vorwärts.) Solche Erlebnisse bestärken mich in meinem Bewusstsein, warum und wofür ich kämpfe. Ich bin tiefüberzeugt, bis ich sterbe für die revolutionäre Sache zu kämpfen. Liebe Eltern, die GenossInnen in Istanbul verkörpern das, was ihr mir als vertrauenswürdige Eigenschaften beigebracht habt: Offenheit, die sich in einem wachen Gesicht spiegelt und Ehrlichkeit, welche in einer festen Stimme hörbar ist.

Dank meiner türkischen GenossInnen weiss ich, dass ich mich nicht mehr verstecken muss, ohne ausschliessen zu wollen, dassman die gleiche Warmherzigkeit, Ehrlichkeit, Solidarität, Disziplin und Demut ebenfalls bei AnarchistInnen, (religiösen) SozialistInnen oder anderen für die Befreiung der Menschheit kämpfenden Menschen finden kann. Von nun an kann ich mit ehrlicher Überzeugung sagen: Ich bin Kommunist».

Nachtrag
In der Zwischenzeit (Ende August 2012) sind „nur“ noch 11 Genossen und Genossinnen in Untersuchungshaft. Zudem wurden weitere Genossen und Genossinnen angeklagt. Der letzte inhaftierte Genosse der TÖPG, Tuncay Yilmaz, wurde Anfang August überraschenderweise aus der Untersuchungshaft entlassen. Der Prozess läuft weiter.

Zu viel Kafka gelesen Mister Erdogan? [Teil 1/2]

24.Februar 2012 – Nr 07/08 Am 6. Februar 2012 fand der vierte «kafkaeske Prozesstag» gegen die sozialistisch-kommunistische Linke in Istanbul statt. Immer noch sitzen 24 GenossInnen der TÖP und SDP seit bis zu über 500 Tagen in Untersuchungshaft. Ein Bericht vor Ort.

Am 21. September 2010 rollteDemonstration vor dem Devrimci Karagah Prozess gegen die sozialistisch-kommunistische Linke in der Türkei die erste Verhaftungswelle über die Türkei. 17 Personen, darunter Journalistinnen, führende Vertreter der Sozialistisch Demokratischen Partei (SDP) und der Plattform für gesellschaftliche Freiheit (TÖP) wurden durch Anti-Terror Spezialeinheiten verhaftet und in Untersuchungshaft gesetzt. » Weiterlesen

Erneuter Streik bei Lufthansa

Die Gewerkschaft der Flugbegleiter (UFO) weitet ihre Streiks bei der Lufthansa am 4.September 2012 aus. Es werde «länger und an mehr Orten» gestreikt als am Freitag,  kündigte der Gewerkschaftsvorsitzende Nicoley Baublies heute an.

Nach Berlin und Frankfurt bestreiken die Flugbegleiter der Lufthansa am Dienstag auch den Flughafen in München. Der Ausstand soll von von 13.00 Uhr bis Mitternacht dauern. Bereits wegen der achtstündigen Arbeitsniederlegung am Freitag musste die Lufthansa 190 Flüge streichen. Mit einer so umfassenden Beteiligung an dem Streik habe man nicht gerechnet, sagte Baublies: «Das hat es noch nicht einmal beim Pilotenstreik gegeben.»

In ihrer am Abend verbreiteten Erklärung bedauerte die Gewerkschaft UFO, «dass es zu dieser Eskalation kommen musste». Die Verhandlungen seien jedoch «an einem Punkt angekommen, an dem es zu einem Streik keine Alternative mehr gibt», hiess es auf ihrer Webseite. Die UFO hat in den Verhandlungen nach drei Jahren Nullrunden neben fünf Prozent höheren Entgelten unter anderem das Ende der Leiharbeit und Schutz gegen die Auslagerung von Jobs verlangt. Lufthansa plant hingegen mittelfristige Einsparungen bei den Personalkosten und will dafür unter anderem die Beförderungsstufen strecken.

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